Literatur, Roman

Das Damoklesschwert der Geschichte

Sharon Dodua Otoos Debütroman »Adas Raum« ist ein Meisterwerk des magischen Realismus, dem die in Berlin lebende Autorin einen postkolonialen und feministischen Anstrich verpasst.

Die Vergangenheit sei nichts als ein »Projekt der Imagination«, behauptet die erzählende Instanz im fulminanten Debütroman von Bachmann-Preisträgerin Sharon Dodua Otoo. Das ist natürlich nicht viel mehr als eine dreiste Behauptung, zumal dieser erzählende Sidekick Gottes im Gegensatz zu Ada gar keine Vergangenheit hat.

Ada aber reist hier in Schleifen durch die Weltgeschichte. 1459 bringt sie in Ghanas Küstenstadt Totope einen Sohn zur Welt, der nach nur wenigen Tagen stirbt. Knapp vierhundert Jahre später wird sie unter dem Namen Ada Lovelace in Großbritannien mathematische Forschung betreiben und als Computerpionierin Berühmtheit erlangen. Vor allem aber wird sie eine Affäre mit Charles Dickens führen und ihre Ehe riskieren. Wieder knapp 100 Jahre später ereilt sie das Schicksal, als Kriegsgefangene im KZ Mittelbau-Dora festgehalten und Männern zugeführt zu werden. Im Jahr 2019 reist Ada von Accra über London nach Berlin, um in der Stadt, in der bald ein pompöses Museum mit kolonialen Sammlungen seine Pforten öffnen wird, auf ihre Halbschwester zu stoßen und ein neues Leben zu beginnen.

In den Berlin-Episoden klingen auch ganz aktuelle Debatten, etwa die um Kolonialismus, Rassismus und Ausgrenzung, an. In Accra, heißt es im Roman, »war Ada zwar weiblich, aber doch auch ein kostbarer, liebenswerter Mensch. In Berlin erfuhr sie außerhalb ihrer Welt nur selten Wertschätzung. Viel zu oft hatte ihr Körper sie verraten, bevor Ada überhaupt den Mund aufmachen konnte.« Und diese Abwertungserfahrung ist eng verbunden mit der Debatte um die Frage, woher man kommt, die hier von Adas Halbschwester Elle konkret ausgesprochen wird. »Du hast keine Vorstellung davon, wie Scheiße die Frage für mich ist, oder?«

Bei dieser Reise durch Raum und Zeit hat Ada »das Glück, sich immer wieder als Lebende unter der Sonne aufhalten zu dürfen.« Neben diesem Glück hat sie aber auch »das Pech, immer wieder zu vergessen, dass sie dort nicht bleiben kann.« Im Gegensatz zu ihr kennen wir Lesenden aber die Vorgeschichte und fangen an, Verbindungen zwischen diesen Geschichten herzustellen und die Geschichten der vier Adas als ein Schicksal zu lesen. Dies wird noch verstärkt von dem Umstand, dass es wiederkehrende Elemente gibt. So tauchen in allen Episoden Männer auf, deren Namen die gleiche Wurzel haben und ein Perlenarmband hält die Geschichte zusammen.

Sharon Dodua Otoo: Adas Raum, Fischer Verlag 2021. 320 Seiten. 22,00 Euro. Hier bestellen

An den Handlungsorten lässt sich die jüngere Familienbiografie der Autorin festmachen, die familiäre Wurzeln in Ghana hat, in London aufgewachsen ist und nun in Berlin lebt. In der erzählerischen Perspektive ihres Romans spiegelt sich ihr ganzheitlicher Blick. Otoo lässt die Geschichte ihrer durch die Jahrhunderte fliegenden Figur von allwissenden, höchst wandelbaren Instanzen erzählen. Neben Ada sprechen ein Reisigbesen, mit dem sie verprügelt wird, ein Türklopfer, der die nahende Gefahr ankündigt, das KZ-Zimmer, in dem Männer Ada missbrauchen, einer der letzten britischen Reisepässe mit der Aufschrift »Europäische Union« und Gott – hier weiblich – selbst.

Dabei klingt natürlich die Frage, was die Identität des Individuums ausmacht, an. Sind es Namen, Erfahrungen oder Dokumente? Oder gilt das, was Adas Reisepass zu Protokoll gibt, nämlich das Identität die Summe der Einzelteile und damit nicht kollektivierbar ist? »Ich war das Versprechen. Mir mir sollte alles gut werden. Nur, ob das wirklich so sein würde, war eine Frage, die über Ada wie ein Damoklesschwert schwebte. Denn ganz gleich, wie viele Lebende es behaupteten, war ich nicht ihre Identität. Ich dürfte lediglich zu dieser absurd gewordenen Zeit einen Teil ihrer Identität nach außen vertreten.«

Dieser Kniff bringt Distanz in die Beobachtung von Ada und schafft zugleich den Riss in der Wirklichkeit, in dem die in London geborene und in Berlin lebende Autorin von etwas Größerem erzählt. In ihrer Hauptfigur verbinden sich nicht nur die Schicksale von vier um Würde und Selbständigkeit kämpfenden Frauen, sondern auch das dunkle Erbe von Kolonialismus, Rassismus und weiblicher Unterdrückung.

Dieser fantastisch erzählte Roman bildet den Resonanzraum, in dem das Echo der Weltgeschichte von allen Wänden hallt. Und in dem im schönsten Berlinerisch schließlich das Schicksal von Ada auf den Punkt gebracht wird. »Du passt ja überhaupt’ neh’ uff! Deine Verjang’heit haste verlor’n, deine Jehng’waht hamse dir jeklaut – ick jeh’ jetzt’ und nehm’ deine Zukumft ma’ mit!« Wie man Traumata abschütteln und dennoch immer Geschichte mit sich herumtragen muss, davon handelt dieser große Roman.

5 Kommentare

  1. […] Die Vielfalt der Perspektiven verdeckt eine Schwäche der Auswahl. Es fehlen die Perspektiven der nicht-englischsprachigen Töchter Afrikas, die allerdings schon im Original unterrepräsentiert sind. Dennoch wäre die ein oder andere französische oder portugiesische Stimme wünschenswert gewesen, die vier Schwarzen Kuratorinnen, die die Auswahl zusammengestellt haben, haben sich dagegen entschieden. Dass sie auf deutschsprachige Töchter Afrikas verzichtet haben, ist wiederum nachzuvollziehen. Die kann man im laufenden Literaturbetrieb entdecken oder bei den »Stimmen Afrikas« entdecken, die die Herausgeberinnen des Bandes Christa Morgenrath und Eva Wernecke gegründet haben, oder in der bemerkenswerten Dokumentation des von Sharon Dodua Otoo ins Leben gerufenen und konzipierten Schwarzen Literaturfestivals »Resonanzen«, das im vergangenen Jahr zum ersten Mal stattgefunden hat. Die beschrieb gegenüber dem Deutschlandfunk Schwarze Literatur als »eine Suche, eine Bewegung«. Schwarze Literatur sei »vielleicht eher ein Verb als ein Nomen«. erklärte Bachmannpreisträgerin Otoo, von der zuletzt der viel beachtete Roman »Adas Raum« erschienen ist. […]

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