Literatur, Roman

Der Rausch der Erinnerung

Christoph Ransmayr ist einer der besten deutschsprachigen Erzähler überhaupt. In seinem neuen Roman erzählt ein Wasseringenieur von seinen Abenteuern an den großen Strömen der Welt und dem Trauma seiner Familie.

»Eine kurze Geschichte von Töten« lautet der Untertitel des neuen Romans des österreichischen Schriftstellers Christoph Ransmayr, dem es auf magisch-realistische Weise immer wieder gelingt, ganze Reiche vor dem inneren Auge auf- und wieder untergehen lassen. Nachdem er in seinem letzten Roman »Cox oder Der Lauf der Zeit« einen englischen Uhrenmacher ins kaiserliche China hat reisen lassen, führt sein neuer Roman »Der Fallmeister« in die Wasserreiche, die einst die kambodschanischen Khmer am Mekong, die brasilianischen Kayapó am Rio Xingu oder die Fürsten am Weißen Fluss gründeten.

Am Weißen Fluss in der Grafschaft Bandon nimmt diese Geschichte ihren Anfang, denn dort ist der Erzähler dieses Romans, ein Wasseringenieur, aufgewachsen. Sein Vater war der Schleusenwärter am Weißen Fluss, der dafür sorgte, die Wassertore so zu öffnen und zu schließen, dass die bis zum Rand mit Salz gefüllten Zillen durch ruhige Fahrwasser in die unteren Läufe des Flusses gelangen. Doch seit das Bergwerk stillgelegt wurde, sind es nur noch Touristen, die sich am Großen Fall vorbei manövrieren lassen. Eines Tages geht etwas schief und fünf Menschen ertrinken. Ein Unglück, könnte man meinen, doch Ransmayrs Erzähler ist sich sicher, dass sein Vater – durch die moderne Schifffahrt zum Museumswärter degradiert und damit in die Bedeutungslosigkeit verbannt – noch einmal Herr über Leben und Tod sein wollte.

Christoph Ransmayr: Der Fallmeister. Eine kurze Geschichte vom Töten. Fischer Verlag 2021. 224 Seiten. 22,00 Euro. Hier bestellen

Hier nimmt die Geschichte einer Familie, deren Schicksal mit dem Wasser verbunden ist, ihren Ausgang. Sie handelt von seiner Mutter Jana, die den Vater eines Tages verlässt und in ihre dalmatinische Heimat zurückkehrt, um dort einen »Wasserkrieger« zu heiraten und doch immer einsam zu bleiben. Oder Mira, die »gläserne Schwester« des Erzählers, die ebenso zerbrechliche Knochen wie eine anmutige Stimme hat. Mit der hat sie ihm als Kind Flussmärchen und Unterwassergeschichten vorgelesen, irgendwann dann auch die der Liebe zwischen Tut-Anch-Amun und seiner Schwester. Diese Geschichte wird den Erzähler nicht mehr loslassen, so nah fühlt er sich seiner »Pharaonin«, die einem Deichgrafen gefolgt ist und in einem Leuchtturm fernab von Bandon lebt. Und natürlich von seinem Vater, dem Fallmeister, der sich genau ein Jahr nach dem Unglück am großen Fall in eine Zille setzt und regungslos dem Abgrund entgegen treiben lässt, um in den Fluten des Weißen Flusses zu verschwinden.

Doch nichts und niemand verschwindet vollkommen, die Erinnerung hält selbst die Toten in unserer Gegenwart. Und so geht Ransmayrs Erzähler den Geistern seines Vaters nach und erinnert sich an die Ausflüge an die Sandbank im Weißen Fluss, die der Vater Mesopotamien nannte. Dass es den Erzähler später an die Ufer von Euphrat und Tigris und an viele andere Flüsse treiben sollte, konnte er da noch nicht wissen.

Als Wasseringenieur reist der Erzähler an die Ufer der größten Ströme der Welt, um dort die Grundlagen der modernen Energiegewinnung zu legen. Dass er wie sein Vater nicht von der Faszination der Ströme loskommt, wird ihm erst im Laufe der Zeit bewusst. Schon zu Beginn des Romans räumt er das ein. »Ich hatte am Sambesi und am Weißen Nil, in den Quellgebieten des Paraná, des Okavango, Niger, Euphrat, Rio Xingu und Mekong als Söldner in verschiedenen Wasserarmeen die Voraussetzungen dafür zu schaffen versucht, Strömung in Energie zu verwandeln – und hatte wohl erst in den Tagen der Nachricht vom Unheil am Großen Fall zu verstehen begonnen, daß ich den Weißen Fluß in Wahrheit auf meine Weise möglicherweise ebensowenig jemals verlassen würde wie mein Vater.«

Je größer die Distanz zur Grafschaft Bandon ist, umso mehr drängen die Erinnerungen an seine Beobachtungen am Weißen Fluss, aber auch die Fragen nach den wahren Hintergründen der gescheiterten Ehe seiner Eltern, dem rätselhaften Verschwinden seines Vaters und dem Verhältnis zu seiner Schwester nach vorn. Wie sich Eisvögel, »umwirbelt von einer Wolke aus silbrigen Luftblasen, in die Wassertiefe auf ihre Opfer stürzen« – eine Szene, die den Titel des Buches ziert – ähnelt diese Geschichte einem unaufhörlichen Fall in die Tiefen der eigenen richtigen und falschen Erinnerungen.

Zugleich ist diese in messerscharfer Prosa erzählte Geschichte in Welthaltigkeit getaucht. Seiner Biografie und den Erlebnissen in Amazonien, Mesopotamien und Südostasien folgend bleibt der Erzähler an einzelnen Gedanken hängen wie ein Fluss, der sich an einem Damm staut. Dann ähnelt die Erzählung auch in ihrer Form einem Stausee, der das eben noch trockene Land für sich erobert. Diese familiäre Erzählung über die Unausweichlichkeit des Tötens und Getötetwerdens greift dann auf die Geschichte ihrer Handlungsorte über und erzählt von den Massakern der Weißen und Roten Khmer, dem Kampf der Kayapó-Indianer um ihr Land oder den Kriegen der Wassersyndikate an der Adria. Von dort führt sie zurück zur Geschichte einer Familie, die ihre Zelte an den Wassern dieser Welt aufgeschlagen hat und nicht von diesen weichen will. Wir Leser:innen folgen fasziniert den Lebenslinien dieser Familie und der Frage, ob Vergebung und Versöhnung möglich ist.

Christoph Ransmayr: Arznei gegen die Sterblichkeit. Fischer Verlag 2020. 64 Seiten. 12,00 Euro. Hier bestellen

Christoph Ransmayr beweist sich einmal mehr als grandioser Erzähler. Er verwandelt Erinnerungen in Erzählungen, auch wenn es hier nicht wie in dem schmalen Band »Arznei gegen Sterblichkeit« – der zur lesenswerten Reihe »Unterwegs nach Babylon« gehört – die eigenen Rückblicke sind. Der Verdacht, den sein Erzähler im ersten Satz äußert – »Mein Vater hat fünf Menschen getötet.« – wird am Ende von einer überraschenden Gewissheit abgelöst. Seine Romanfiguren handeln unvorhersehbar, diktierte Ransmayr seinem Verlag ins Interview zum Buch, »sie stellen das, was ursprünglich geplant, intendiert, geträumt oder bloß ersehnt war, im Lauf ihrer Lebenszeit in den Schatten, verwandeln Absichten in ihr Gegenteil und geben so dem Leben ungeahnte Richtungen. Dieser Dynamik möchte ich folgen, wenn ich zu erzählen beginne und sage: Es war einmal.«
Diese rauschhafte Erzählung führt durch ruhiges Fahrwasser und heftige Stromschnellen mitten hinein in den vor- und zurücklaufenden Strom namens Erinnerung.