Anthologie, Erzählungen, Literatur, Sachbuch

Literatur, die im Dunkeln leuchtet

Zwei Anthologien mit Texten afrikanischer Autor:innen bieten vielfältige Perspektiven und Haltungen, um die festgefahrenen Denkmuster über Afrika aufzulösen.

1992 kündigte Toni Morrison »ein fruchtbares und provokatives kritisches Projekt« an, um herauszufinden, wie »literarisches Weißsein« und »literarisches Schwarzsein« konstruiert wird »Ich möchte gewissermaßen die Landkarte einer kritischen Geografie entwerfen und diese Karte dazu benutzen, so viel Raum für Entdeckungen, intellektuelle Abenteuer und detaillierte Erkundungen zu eröffnen, wie es einst die ersten kartografischen Darstellungen der Neuen Welt taten – ohne das Mandat für Eroberungen allerdings«, liest man in ihren von Barbara von Bechtoldsheim und Helga Pfetsch übersetzten Vorlesungen, die gerade unter dem Titel »Im Dunkeln spielen« erschienen sind. Damals wusste die spätere Literaturnobelpreisträgerin noch nicht, dass einige Monate später der Blick auf das »literarische Schwarzsein« durch ein anderes Projekt nachhaltig verändert werden sollte.

Toni Morrison: Im Dunkeln spielen. Aus dem Englischen von Barbara von Bechtolsheim und Helga Pfetsch. Rowohlt Verlag 2023. 144 Seiten. 14 Euro. Hier bestellen.

Im Oktober 1992 erschien in England und den USA die Aufsehen erregende Anthologie »Daughters of Africa«. Darin versammelte die 1944 in Ghana geborene britische Publizistin und Verlegerin Margaret Yvonne Busby über 200 weibliche Stimmen afrikanischer Herkunft. Neben den nahen Töchtern Afrikas nahm Busby auch ferne Töchter auf, also Nachkommen von in den einstigen Kolonialstaaten entführten und versklavten Afrikaner:innen. Eine Pionierleistung, wie die ausgewiesene Expertin für Literatur aus Afrika in der aktuellen Ausgabe von KULTURAUSTAUSCH deutlich macht. »Schwarze kamen in meinem Studium weder als literarische Figuren noch als Autorinnen oder Autoren vor. Ich musste mich also selbst auf die Suche machen und verbrachte viel Zeit in Antiquariaten.«

Diese Sisyphos-Arbeit veranlasste sie, nach ihrem Studium am legendären Bedford-College in den späten 60er Jahren gemeinsam mit ihrem 2011 verstorbenen Mann Clive Allison den Verlag Allison & Busby zu gründen. Als erste in einem afrikanischen Land geborene Schwarze Verlegerin Großbritanniens bot sie Autor:innen wie Buchi Emecheta, Nuruddin Farah, C.L.R. James oder Ishmael Reed eine verlegerische Heimat. Einige der von ihr verlegten Autorinnen tauchten in »Daughters of Africa« wieder auf.

Zu den bekannteren Schriftstellerinnen in dem Kompendium zählten Maya Angelou, Maryse Condé, Angela Davis, bell hooks, Jamaica Kincaid, Audre Lorde, Toni Morrison oder Alice Walker. Von Autor:innen wie May Ayim, Tsitsi Dangarembga, Buchi Emecheta, Gayl Jones, Nella Larsen oder Ann Petry hatten damals nur wenige schon einmal gehört. Heute sind sie selbst deutschen Leser:innen ein Begriff, ihre Werke wurden in den vergangenen Jahren als spektakuläre Wiederentdeckungen gefeiert. Dass Busby sie schon drei Jahrzehnte zuvor zu den wichtigsten Stimmen afrikanischen Ursprungs gezählt hat, belegt die Maßstäbe setzende Pionierleistung ihrer knapp 1.200 Seiten umfassenden Textsammlung.

Bücher einiger »Töchter Afrikas«

Als Busby an ihrer »internationalen Anthologie der Literatur von Frauen afrikanischer Herkunft vom Alten Ägypten bis in die Gegenwart« arbeitete, waren die Hürden, Schwarze weibliche Stimmen zu publizieren, denkbar hoch. Afrika war im Westen im Grunde terra incognita, die literarischen Horizonte des Kontinents waren nicht ansatzweise erschlossen, die Leserschaft im Westen wurde aller Einwanderungswellen zum Trotz als weitgehend weiß angenommen. Der Blick nach Afrika und zu Schwarzen Autor:innen war kolonialistisch geprägt, was nicht zuletzt auch eine Ausgabe des renommierten Granta-Magazins aus dem Jahr 1994 beweist, in der unter dem Titel »Africa« vorwiegend weiße Autor:innen ihren Blick auf den bemitleidenswerten, von Kriegen und Krisen geschüttelten Kontinent warfen.

Busbys wegweisende Sammlung bildete das perfekte Antidot gegen das, was die nigerianische Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie einmal als »die Gefahr einer einzigen Geschichte« bezeichnete (siehe obigenstehendes Video). »Wenn alles, was ich über Afrika wüsste, von den weit verbreiteten Bildern herrührte, würde auch ich denken, dass Afrika ein Ort mit schönen Landschaften, schönen Tieren und unbelehrbaren Menschen ist, die sinnlose Kriege führen, an Armut und Aids sterben, nicht imstande, für sich selbst zu sprechen.« In ihrer regionalen, stilistischen, ästhetischen und generationsübergreifenden Vielfalt bildet sie das kreative Schaffen von Frauen afrikanischer Herkunft ab. Vor allem aber war die Sammlung ein feministisches Dokument der Selbstvergewisserung und Selbstbehauptung kreativer Schwarzer Frauen. »Wenn wir nicht verstehen, woher wir gekommen sind, werden wir kaum verstehen, wohin wir gehen«, schrieb Busby im Vorwort.

Ein viertel Jahrhundert später fand die Anthologie eine Fortsetzung. »New Daughters of Africa« versammelte 2017 erneut 200 Stimmen, die die Autorinnen der ersten Ausgabe Busby empfohlen hatten. Neben den Texten einiger international längst etablierter Autorinnen wie Chimamanda Ngozi Adichie, Bernardine Evaristo, Imbolo Mbue, Nadifa Mohamed, Maria NDiaye, Taiye Selasi oder Zadie Smith kann man in der Textsammlung erneut viele wenig bis unbekannte Stimmen entdecken.

Englischsprachige Ausgaben der Anthologie »New Daughters of Africa«

Einige der empfohlenen Schriftstellerinnen sollen erst durch die 1992er Anthologie den Mut gefunden haben, zu schreiben. So bilden die Schriftstellerinnen eine globale Gemeinschaft der weiblichen Solidarität und ermutigen sich gegenseitig, die Stimme zu ergreifen und zu einem Bild der Vielfalt beizutragen, dass der zweitgrößten Region der Welt mit Tausenden von Sprachen und Ethnien gerecht wird. Ganz nach dem Motto »Mund auf, Geschichte springt raus«, das sich in der autofiktionalen Erzählung der trinidadischen Journalistin Marina Salandy-Brown findet.

Der Band »Neue Töchter Afrikas« enthält eine Auswahl von 30 Stimmen aus dem erneut über 1.000 Seiten zählenden original, souverän übersetzt von Aminata Cissé Schleicher und Eleonore Wiedenroth-Coulibaly. Die versammelten Texte reichen geografisch von Ägypten über Ghana bis in die Karibik und erzählen von Selbstermächtigung und Widerstand, Flucht und Exil, Träumen und Traumata. Dabei greifen die Autorinnen aktuelle Debatten um Rassismus und Frauengesundheit, Gender- und Identitätspolitik auf und machen sich diese zu eigen, um sich auf sehr unterschiedlichen Wegen dem afrikanischen Erbe ihrer Autorinnen zu nähern.

Christa Morgenrath, Eva Wernecke (Hrsg.): Neue Töchter Afrikas. Aus dem Englischen von Aminata Cissé Schleicher und Eleonore Wiedenroth-Coulibaly. Unrast Verlag 2023. 256 Seiten. 22 Euro Hier bestellen.

Die ägyptische Ärztin und Feministin Nawal El Sadaawi schreibt entlang ihrer Familiengeschichte gegen die kolonial geprägte Politik in ihrer Heimat an, die in Simbabwe geborene Publizistin Ellah P. Wakatama macht aus der kolonialen Unterwerfungserfahrung ihres Großonkels eine Heldenerzählung und die in Botswana geborene Schriftstellerin Wame Molefhe denkt darüber nach, wie weibliche Scham, männliche Gewalt und fehlende Sprache zusammenhängen.

»Was heißt eigentlich Afrikanisch-Sein?«, fragt etwa die ghanaisch-britische Autorin Afua Hirsch selbstkritisch und räumt in ihrem Essay ein, dass es nicht leicht sei, beim Nachdenken über eine Antwort »der durch den Imperialismus vergifteten Nostalgie nach einem vermeintlichen Afrika der Vergangenheit« zu entkommen. Die nigerianisch-britische Schriftstellerin Selina Nwulu richtet in ihrem Essay »Die Kühnheit unserer Haut« den Blick ebenfalls auf die Deutungshoheit der Kolonialmächte, die viele ihrer Generation aufgezogen haben. »Wie kommt es, dass wir in einer Sprache leben, die unsere Hautfarbe mit einem Schiffbruch gleichsetzt, bei dem alle Hoffnung verloren ist?«, fragt sie, um schließlich ganz im Sinne von Ngūgī wa Thiong’o die ursprüngliche Sprache zurückzufordern. »Es mag kein Klang sein, den ihr kennt, aber es wird unserer sein, nur unserer.«

Beim Booklaunch des Bandes »Neue Töchter Afrikas« wurde am Verkaufsstand der Unterschied im Volumen zwischen der Original-Anthologie und der übersetzten Auswahl sichtbar | Foto: Chrisa Morgenrath

Wenngleich unklar bleibt, an wen diese Forderung gerichtet ist, bildet sie das Bedürfnis nach Aufarbeitung der Kolonialgeschichte und Stärkung der eigenen Wurzeln ab, die sich in allen Texten wiederfindet. »Die Herzen unserer Eltern bargen Träume, während wir, die postkolonialen Kinder der Elite, die Vision einer dekolonisierten Zukunft in unserem Lächeln trugen«, bringt dies die südafrikanische Publizistin Sisonke Msimang treffend auf den Punkt. Es kommt aber auch die Zerrissenheit zwischen den Kulturen zur Sprache, etwa wenn die burundische Dichterin Ketty Nivyabandi von den einzuölenden »Dehnungsstreifen, die kreuz und quer auf deinen Herzen verlaufen« spricht.

Die Vielfalt der Perspektiven verdeckt eine Schwäche der Auswahl. Es fehlen die Perspektiven der nicht-englischsprachigen Töchter Afrikas, die allerdings schon im Original unterrepräsentiert sind. Dennoch wäre die ein oder andere französische oder portugiesische Stimme wünschenswert gewesen, die vier Schwarzen Kuratorinnen, die die Auswahl zusammengestellt haben, haben sich dagegen entschieden. Dass sie auf deutschsprachige Töchter Afrikas verzichtet haben, ist wiederum nachzuvollziehen. Die kann man im laufenden Literaturbetrieb entdecken oder bei den »Stimmen Afrikas« entdecken, die die Herausgeberinnen des Bandes Christa Morgenrath und Eva Wernecke gegründet haben, oder in der bemerkenswerten Dokumentation des von Sharon Dodua Otoo ins Leben gerufenen und konzipierten Schwarzen Literaturfestivals »Resonanzen«, das im vergangenen Jahr zum ersten Mal stattgefunden hat. Die beschrieb gegenüber dem Deutschlandfunk Schwarze Literatur als »eine Suche, eine Bewegung«. Schwarze Literatur sei »vielleicht eher ein Verb als ein Nomen«. erklärte Bachmannpreisträgerin Otoo, von der zuletzt der viel beachtete Roman »Adas Raum« erschienen ist.

Sharon Dodua Otoo, Jeannette Oholi, Ruhrfestspiele Recklinghausen (Hrsg.): Resonanzen – Schwarzes Literaturfestival. Eine Dokumentation. Spector Books 2022. 216 Seiten. 24 Euro. Hier bestellen.

Der Band dokumentiert das von Tsitsi Dangarembga eindrucksvoll eröffnete Festival in seinen verschiedenen Dimensionen – textlich, fotografisch, multiperspektivisch – und enthält die Erzählungen von deutschsprachigen Söhnen und Töchtern Afrikas wie Joe Otim Dramiga, Raphaëlle Red, Bahati Glaß, Melanelle B. C. Hémêfa, Winni Atiedo Modesto, Dean Ruddock, Tsitsi Dangarembga, Pierrette Herzberger-Fofana, Nouria Asfaha oder Ada Diagne. In den Erzählungen und Kurzgeschichten legen sich die Autor:innen nicht nur auf ein wie auch immer geartetes (koloniales) Erbe fest, sondern positionieren sich vor allem selbst in der Welt und ihren Brüchen.

Ada Digne etwa präsentierte vier Erzählungen, die alle im Senegal und mit Motiven aus dem eigenen familiären Umfeld spielen. Joe Otim Dramiga las bei dem Festival einen Text, der sowohl mit literarischen als auch (sozial-)politischen Motiven spielt, afrikanische Sprachen und ihre erzählerische Kraft feiert und an den Anfang Malcolm X’ Appell stellt, dass Kultur eine unverzichtbare Waffe im Kampf um Frieden sei. Bahati Glaß erzählt eine deutsch-deutsche Geschichte, in der das Leberwurstgrau der Erinnerung in ein Blutrot der Erfahrung wechselt. Raphaëlle Red las eine Erzählung, in der sich eine Familie um den sterbenden Vater in der Schweiz versammelt und am Rande Schnee und Wüstensand zur Chiffre der Bewegung durch die Welt werden.

Wie in allen Texten gibt es auch hier erwartbare und überraschende Momente, es gibt Gelungenes und Misslungenes, aber vor allem gibt es Perspektiven, die die deutschen Literaturen weiten, ergänzen, vervollständigen. Dies wird vor allem in den Diskussionen der Jury, bestehend aus der Autorin Elisa Diallo, dem Literaturwissenschaftler Ibou Coulibaly Diop, der Co-Chefredakteurin des Missy Magazins Dominique Haensell und der Übersetzerin Aminata Cissé Schleicher, deutlich, die – vom Konzept her dem Bachmannpreis nachgebildet, nur dass man hier auf Wertungen und Preise verzichtet hat, um die Literatur zu feiern – die Texte noch einmal reflektiert, interpretiert und Bezüge herstellt. So wurden beim Festival (und nun hier in der Dokumentation) Bedeutungsebenen freigelegt und empathische Lesarten geöffnet. Die Jury nahm die Texte nicht kritisch auseinander, sondern verortet sie empathisch in den literarischen (Mehrheits-)Perspektiven. Somit weitet sie den literarischen Blick und zeigt, wie divers die deutsche Literatur ist. Denn das sind diese Texte ohne Zweifel, Teil des deutschsprachigen literarischen Kanons.

In einem Interview mit der Frankfurter Rundschau sprach Kuratorin Sharon Dodua Otoo über die Strukturen, die Zugänge im Literaturbetrieb erschweren und Schwarzue Autor:innen ungewollt ausschließen. »Viele Strukturen funktionieren so, dass sie aufrechterhalten werden von Menschen, die miteinander gut vernetzt sind. Da braucht es keine diskriminierende Absicht, um zu einer Diskriminierung beizutragen.« Weil dies aber so bestehe, müsse sich der Literaturbetrieb ändern, forderte Otoo dort nicht zum ersten Mal. Dass dies die deutschsprachige Literatur berecihern würde, zeigen die gelesenen Texte und anschließenden Debatten.

In Raphaëlle Reds Erzählung »Calvins Väter« sagt einer der Protagnisten: »Zurücklassen gibt es nicht. Wie Baumstämme schwellen wir an, und die alten Schichten sinken immer tiefer in unsere Körper.« Von diesen Schichten und was sie mit den Körpern anstellen, die sie formen, wie sie schwingen und selbst Resonanzräume bilden, handeln die Erzählungen der Kinder Afrikas in der deutschsprachigen Welt, die gleichermaßen Zuhause wie Diaspora ist.

Eröffnungsrede von Tsitsi Dangarembga, Schriftstellerin und Friedenspreisträgerin des Deutschen Buchhandels. | Foto: China Hopson

Vielfältige Bezüge weist auch der Kurzgeschichten-Band »Was mittwochs war, und freitags« auf, den die junge Leipziger akono-Verlegerin Jona Elisa Krützfeld gemeinsam mit dem Leipziger Thomas Brückner zusammengestellt hat. Brückner hat Werke von Abdulrazak Gurnah, Ngūgī wa Thiong’o oder Helon Habila übersetzt und ist einer der besten seines Fachs.

»Afrikanische Geschichten über das Lieben und Begehren« lautet der Untertitel des 18 Texte versammelnden Bandes, darunter auch vier Beiträge von Autorinnen, die Busby schon für ihre Anthologien entdeckt hat. Um Leidenschaft geht es in den wenigsten dieser Texte, Begehren ist hier weit auszulegen. Oft geht es um Eifersucht und heimliche Affären, aber auch um freiwillige Dreiecksgeschichten und queere Liebe, um das Daten in Zeiten des Internets und Liebeskummer, um Missbrauch und Gewalt.

Jona Elisa Krützfeld, Thomas Brückner (Hrsg.): Was mittwochs war, und freitags. Aus dem Englischen von Thomas Brückner. akono Verlag 2023. 216 Selten. 19 Euro. Hier bestellen.

Die titelgebende Erzählung des nigerianischen Schriftstellers Toni Kan erzählt aus der Perspektive eines Jungen von der wenig verheimlichten Affäre seiner Mutter. »Deine Mutter fickt einen anderen«, brüllen seine Klassenkameraden, wann immer sich die Gelegenheit bietet. Bald schon spricht das ganze Dorf darüber, selbst die Frau von Uncle John taucht im Haus des Erzählers auf. Dessen Mutter denkt dennoch nicht daran, die Affäre sausen zu lassen, Vertrauen, Liebe und Begehren sind komplexe Angelegenheiten. Dennoch endet das ganze tragisch, aber völlig anders, als man denkt.

In der Erzählung »Fisch aus den Tropen« der ugandischen Schriftstellerin Doreen Baingana erzählt eine Studentin namens Christine von ihrer Affäre mit einem rosafarbenen Geschäftsmann, der mehrere Geliebte gleichzeitig hat. Die Erzählung pendelt zwischen dem Selbstbewusstsein einer jungen Frau, sich darauf einzulassen, und ihrer Abhängigkeit von der Gunst des weißen Schürzenjägers, als das Verhältnis nicht folgenlos bleibt. Hier wird das Gefälle zwischen den Erben der Kolonisatoren und den Nachkommen der Kolonialisierten sichtbar, das weiterhin seine Wirkung entfaltet.

Der Südafrikaner Tuelo Gabonewe hinterfragt in seiner magisch-realistischen Erzählung »Die Verwandlung« Geschlechterklischees. Die Mittvierzigerin Haroldette Tawana findet auf der Straße einen Phallus und nimmt ihn in ihre Obhut. Nach und nach wächst sich der Penis zu einem attraktiven Mann aus, »der vögelte wie ein Ungeheuer«. Aller Zuwendung und Fürsorge zum Trotz macht sich dieser Schwarze Adonis irgendwann aus dem Staub und Haroldette bereut ihr »Scheißgeilsein«.

Von diesem Gefälle handelt auch die Erzählung des südafrikanischen Romanciers Ivan Vladislavić. Seine Heldin Mpumi stellt bei einem Paris-Besuch fest, dass die ganze Stadt auf Raubgut errichtet war. »Sie war groß und großartig, da waren sich alle einig, aber sie war es durch Raub geworden.« Ihr wird klar, dass sich die Europäer alles mit Gewalt und List genommen hatten und sie fragt sich, wie sie mit deren Nachfahren unbelastete Beziehungen eingehen oder sich gar verlieben sollte.

Unabhängig von den konkreten Geschichten bietet auch diese Sammlung eine eindrucksvolle Bandbreite an Stilen, Perspektiven und Herangehensweisen. Die wenigsten der hier versammelten Autor:innen haben bereits einen deutschen Verlag, wenngleich viele der hier zu entdeckenden Stimmen mit Wurzeln in Uganda, Kamerun, Südafrika, Nigeria oder der Elfenbeinküste bereits international ausgezeichnet wurden. Die anspielungsreiche Erzählung »Unter dem Jambul« der ugandischen Autorin Monica Arac de Nyeko, die von der heimlichen Liebe zweier Mädchen erzählt, wurde etwa 2007 mit dem Caine Prize for African Writing als beste englischsprachige Kurzgeschichte ausgezeichnet.

Dipo Faloyin: Afrika ist kein Land. Aus dem Englischen von Jessica Agoku. Suhrkamp Verlag 2023. 398 Seiten. 20 Euro. Hier bestellen.

Die beiden Anthologien »Neue Töchter Afrikas« und »Was mittwochs war, und freitags« sowie die Dokumentation des Schwarzen Literaturfestivals »Resonanzen« bieten die »außergewöhnlichen Geschichten von bemerkenswerten Gewöhnlichkeiten«, die der Kulturjournalist Dipo Faloyin in seinem von Jessica Agoku übersetzten Einwurf »Afrika ist kein Land« fordert. Diese realen und fiktiven Geschichten laden essayistisch, prosaisch und lyrisch dazu ein, den eigenen Horizont zu erweitern. Sie bringen Licht ins Dunkel und haben jede für sich das Potential, festgefahrene Denkmuster aufzulösen und der lebendigen Vielfalt des Kontinents gerecht zu werden.