Literatur, Roman

Emanzipation reloaded

Zadie Smiths fünfter Roman handelt einmal mehr von der Bedeutung von Herkunft und Hautfarbe. Zuweilen gerät die Autorin von »Zähne zeigen« und »London NW« dabei ins Straucheln.

Fred Astaire war in den USA der dreißiger und vierziger Jahre eine große Nummer. Seither ist er eine Legende, die zunehmend in Vergessenheit gerät. Gut ein halbes Jahrhundert später wird der Tänzer von zwei jungen Mädchen wiederentdeckt. Eines der beiden Kinder ist die anonyme Erzählerin in Zadie Smiths neuem Roman, die auf ihr Leben zurückblickt.

»Es war der erste Tag meiner Schmach«, beginnt diese Geschichte, die nach dem gleichnamigen Filmmusical mit Fred Astaire von 1936 benannt ist. Eben jenes Filmmusical hat die Erzählerin als Kind unendlich oft gesehen. Gemeinsam mit ihrer Freundin Tracey hat sie Stunden vor dem Videorekorder verbracht, um immer wieder zu den Tanzszenen vor- und zurückzuspulen, um diese so gut es geht nachzuahmen. Swing Time hat sich der Erzählerin eingebrannt, weshalb sich noch Jahrzehnte später beim Anblick dieses Films ihre Füße selbstständig machen und »im Einklang mit der Musik« wippen.

Dabei war Tracey die viel bessere Tänzerin dieser ungleichen Freundinnen. Mit jamaikanischem Blut in den Adern wachsen beide in einem der heruntergewirtschafteten Einwandererviertel Londons auf, wo sie sich bei einem Tanzkurs der Kirchgemeinde kennenlernen. Doch während Traceys einfach gestrickte und auf sich allein gestellte weiße Mutter mit allen Mitteln an der Tanzkarriere ihrer Tochter arbeitet, kümmert sich die farbige Mutter der Erzählerin an der Open University ehrgeizig um ihre eigene (und noch weit entfernte) Zukunft als intellektuelle Politikerin.

Für die Mädchen spielen Unterschiede in ihren Lebenswirklichkeiten zunächst kaum eine Rolle. Ihre Aufmerksamkeit gilt dem gemeinsamen Interesse an Tanz und der Musik. Doch auch hier stößt man schnell auf Unterschiede. Denn während die Erzählerin mit Plattfüßen geschlagen ist, offenbart sich in Tracey ein Naturtalent. »Manche Mädchen hatten Rhythmus in den Gliedern, andere hatten ihn in den Hüften oder in ihrem kleinen Popo, aber sie hatte ihn in jedem einzelnen Gelenk, wahrscheinlich sogar in jeder einzelnen Zelle. Alle ihre Bewegungen waren so klar und präzise, wie ein Kind es sich nur erhoffen konnte, ihr Körper passte sich jeder Taktart an, so kompliziert sie auch sein mochte.«

Mit diesen unterschiedlichen Voraussetzungen ist absehbar, dass sich die Wege der beiden Mädchen trennen werden. Tracey wird eine Talenteschmiede besuchen und einige Aufträge auf dem Boulevard erhalten, bevor sie den von ihrer Mutter und ihrem absenten schwarzen Vater vorgezeichneten Weg in das Milieu des britischen white trash einschlägt. Die Erzählerin hingegen wird wie ihre Mutter studieren, bei einem Musiksender reüssieren und schließlich als persönliche Assistentin einer Popikone all ihre Ambitionen verraten. Doch der Weg dahin ist lang und ereignisreich, wie die Erzählung vor Augen führt.

9783462049473
Zadie Smith: Swing Time. Aus dem Englischen von Tanja Handels. Kiepenheuer & Witsch 2017. 640 Seiten. 24,- Euro. Hier bestellen

Dabei profitiert die in London geborene Autorin von den eigenen Kindheitserinnerungen. Unverkennbar hat sie ihre Erzählerin mit den eigenen biografischen Rahmendaten ausgestattet. In diesen Kapiteln, die das Mit- und Gegeneinander der beiden Mädchen beschreiben, läuft Smith zur Hochform auf. Rhythmisch, konkret und eindrucksvoll lässt sie ihre Erzählerin rekapitulieren, wie es zum großen Bruch zwischen ihr und der besten Freundin kommen konnte, ohne dabei die gesellschaftlichen Verhältnisse aus dem Blick zu verlieren. Genderpolitik, Rassismus und soziale Ausgrenzung sind die großen Themen, die hier eindrucksvoll und atmosphärisch dicht verhandelt werden. Damit hat es der Roman auf die 13 Titel umfassende Longlist des renommierten Man Booker Prize geschafft.

Dies ist allerdings nur ein Teil dieser epischen Erzählung. In diesen schiebt sich beständig eine andere Handlung, die sich den Jahren vor »der Schmach« zuwendet. Darin werden die Jahre geschildert, die die Erzählerin an der Seite von Aimee, besagter Popikone, verbracht hat. Sie gehört zum treuen Heer der Lebenshelfer, mit denen sich die Musikerin den nötigen Freiraum schafft, ohne den eigenen aufgeben zu müssen. »Wir sollten das Leben unkompliziert machen – für sie. Wir wateten durch die wirren Wasserpflanzen, damit sie unbehelligt an der Oberfläche bleiben konnte«, erinnert sich die Erzählerin verbittert.

Eines Tages beschließt Aimee, ihre Millionen nach Gambia zu tragen, um dort eine Mädchenschule zu gründen. Die Erzählerin bekommt hier eine zentrale Rolle, denn sie ist es, die die Kontakte vor Ort knüpft und regelmäßig zu berichten hat, welche Fortschritte die humanitäre Mission der Popmusikerin macht. Hier kippt die Handlung, der Roman gerät ins Stocken. Die lebendige und dichte Atmosphäre der Kinderjahre verliert sich hier wiederholt in erklärenden Narrativen. Die Sprache, die in den Passagen der Kindheitserinnerungen noch plastisch und greifbar war, wird plötzlich zäh wie Kaugummi. Und der aus der eigenen Erfahrung gespeiste Einfallsreichtum weicht zu oft platt konstruierten Klischees über selbstgefällige Stars und dem vermeintlichen Leben in Schwarzafrika.

Zu selten dringt hingegen Zadie Smiths außergewöhnliches Talent durch, in den konkreten Umständen ihrer Figuren allgemeine Fragen unserer Zeit sichtbar zu machen. Sichtbar wird es, wenn sich ihre Erzählerin an den Besuch eines Sklavereimuseums in Gambia erinnert, wo es ihr einfach nicht gelang »zu glauben, dass der Schmerz meines Stammes allein hier, an diesem Ort, versammelt war, zu offensichtlich war dieser Schmerz doch überall, und hier hatte man einfach nur das Denkmal aufgestellt«.

Im Kern geht es in Swing Time um die Frage, wie stark sich Herkunft und Prägung auf das eigene (Er)Leben legen und was es kostet, sich davon freizumachen. Doch dieser Kern ist umgeben von zu vielen Handlungstentakeln, die noch zu stark tasten und suchen, statt die Erzählung zu verankern.

»Müssen andere verlieren, damit wir gewinnen können?«, fragt sich die Erzählerin an einer Stelle. Die Antwort ist dehnbar. Irgendjemand muss immer verlieren. Aber dieser jemand kann man auch selbst sein.

2 Kommentare

Kommentare sind geschlossen.