Geschichte, Politik, Sachbuch

Der Traum einer neuen Weltordnung

Die Politologin Adom Getachew zeigt in ihrer Studie »Die Welt nach den Imperien« eindrucksvoll, wie antikoloniale Aktivist:innen vergeblich eine gerechtere Welt gestalten wollten. Von zwei der wichtigsten Intellektuellen sind inzwischen auch Übersetzungen ihrer Schriften erschienen.

»Wir haben zwar Deutschland besiegt, aber nicht seine Ideen. Wir glauben immer noch an die Vorherrschaft der Weißen, halten die Negroes unter der Knute und erzählen Lügen von Demokratie, wenn wir die imperiale Kontrolle über 750 Millionen Menschen in den Kolonien meinen«, kommentierte W.E.B. du Bois 1945 ironisch den Gründungsvertrag der Vereinten Nationen. Schaut man sich die Situation der ehemaligen Kolonien heute an, dann bekommt diese Aussage einen geradezu prophetischen Charakter. Die Gründung der UN und die Einbindung der Staaten der Welt hat nicht dazu beigetragen, dass Entwicklungschancen und wirtschaftliche Prosperität auch nur annähernd gleich verteilt sind.

Der Schwarze amerikanische Soziologe und Panafrikanist W.E.B. du Bois ist einer der Vordenker der antikolonialen Bewegung, der die äthiopisch-amerikanische Politologin Adom Getachew in ihrem beeindruckenden und mehrfach ausgezeichneten Erstlingswerk »Die Welt nach den Imperien« nachgeht. Er ist, wie im Grunde alle Akteure im Zentrum dieser faktenreichen Studie, hierzulande kaum gelesen oder übersetzt.

Wenngleich Intellektuelle wie C.L.R. James oder W.E.B. Du Bois auch in deutscher Sprache wieder gelesen werden können (siehe Medienboxen weiter unten im Text), ist die Wissenslücke groß. Getachew schließt diese Lücke ein stückweit, liefert Anregungen, weiterzulesen und schon allein deshalb ist dieses Buch von besonderem Wert. Getachew widmet sich jenen, die sich engagiert für die Befreiung der ehemaligen Kolonien einsetzten und versuchten, diese als autonome und gleichberechtigte Nationen auf der internationalen Landkarte zu etablieren.

Sie wolle mit ihrer Studie »eine Neubetrachtung der den antikolonialen Nationalismus antreibenden Fragen und seiner politischen Ziele in ihrem eigenen Recht« vornehmen und »die Ressourcen für eine kritische Bewertung auch der heutigen Dilemmata postkolonialer Souveränität« bereitstellen, schreibt Getachew zu Beginn.

Adom Getachew: Die Welt nach den Imperien. Aus dem Englischen von Frank Lachmann. Suhrkamp Verlag 2022. 448 Seiten. 34,00 Euro. Hier bestellen.

Die umfangreiche Darstellung der postkolonialen Emanzipation eröffnet die längst überfällige Möglichkeit, die Perspektive der Entkolonialisierten einzunehmen und die politischen Debatten im 20. Jahrhundert durch deren Brille zu lesen. Erst so wird deutlich, dass die Dekolonisierung der ehemaligen Kolonialstaaten alles andere als ein nahtloser und unvermeidlicher Übergang vom Imperium zur Nation war, sondern vielmehr ein radikaler und gegen viele Widerstände der imperialen Mächte durchgesetzter Bruch, der eine Neugründung der internationalen Ordnung erforderte.

So wird gemeinhin die Eingliederung von Äthiopien und Liberia in den Völkerbund in den 20er Jahren als Wendepunkt betrachtet, an dem die imperiale Ordnung in eine postkoloniale kippt. Getachew sieht das völlig anders, spricht von einer »ungleichen Integration« der Nationen in ein internationales Staatensystem, das weiter auf Ausbeutung aus ist. »Anstatt Gleichheit und Nichteinmischung zu gewährleisten, schufen ihre Inklusion und Mitgliedschaft also die Bedingungen für ihre Ungleichheit und ihr Beherrschtwerden innerhalb der internationalen Gemeinschaft«, schreibt die Politologin und zeigt im Anschluss facettenreich auf, wie auf der politischen und diplomatischen Bühne bis in die 60er Jahre hinein nicht-weiße Souveränität abgelehnt und verweigert wurde.

Die in Chicago lehrende Politikwissenschaftlerin geht in ihrem Buch zwei Bewegungen nach, wie schon der Untertitel des Buches »Aufstieg und Niedergang der postkolonialen Selbstbestimmung« erahnen lässt. Der Aufstieg beschreibt die Phase vom formalen Ende der imperialen Ordnung in den Weltkriegen bis zum Beschluss der UN-Resolution 1514 über die Gewährung der Unabhängigkeit an koloniale Länder und Völker, die Getachew einen »Höhepunkt der Neuerfindung der Selbstbestimmung« nennt. Schließlich nutzten die entkolonialisierten Nationen in der Generalversammlung hier erstmals ihre numerische Mehrheit und verankerten das Prinzip der Freiheit von fremder Herrschaft und Einmischung in einem international gültigen Regelwerk. Bis dahin war es aber ein beschwerlicher Weg, auf dem es galt, die Schwarze Bevölkerung auf beiden Seiten des Atlantiks aus der Sklaverei zu befreien und die rassistische Grundierung der internationalen Beziehungen zu beenden. Dabei hätten die antikolonialen Aktivisten:innen nicht einfach das imperiale Projekt des Nationalismus vollendet, so Getachew, sondern sich den Nationalismus als Instrument auf dem Weg zur Autonomie angeeignet.

Der Niedergang wiederum widmet sich der Ablösung einer Welt politischer Prinzipien durch neoliberale Marktlogiken, durch die die jungen postkolonialen Nationen wieder in die Abhängigkeit der alten imperialen Mächte gerieten. Dabei geht die Politologin vor allem gewinnend auf die unterschiedlichen Positionen innerhalb der antikolonialen Bewegung ein. Sie zeigt deren Anläufe, sich in regionalen Verbünden zu organisieren, um sich kollektiv aus den postimperialen Abhängigkeiten zu lösen, und zeichnet ihre Versuche nach, eine Neuausrichtung der Weltwirtschaft durchzusetzen, die Besitztümer und Macht zugunsten des globalen Südens umverteilt. Der Siegeszug der neoliberalen Ideologie machte diesen Illusionen aber ein Ende.


1936 reist der Soziologe W.E.B. Du Bois aus Forschungszwecken nach Nazi-Deutschland. Als scharfer Kritiker des Rassismus in seinem eigenen Land beobachtet er den Antisemitismus und die Entrechtung der Juden im »Dritten Reich«. In den hier versammelten Reportagen berichtet Du Bois über die Wagner-Festspiele in Bayreuth und das Deutsche Museum in München, über deutsche Bierlokale und die Olympischen Spiele in Berlin, bei denen auch schwarze Sportler antreten. Mit der Vertrautheit des Deutschlandkenners und dem fremden Blick des Schwarzen Amerikaners betrachtet er die totalitäre Diktatur. Du Bois beobachtet »along the color line« und stellt überrascht fest, dass er persönlich kaum Diskriminierung erfährt. Umso mehr erschüttert ihn die Verfolgung der Juden.   


Die Lebenswege und Argumente von antikolonialen Intellektuellen wie Nnamdi Azikiwe, W.E.B. Du Bois, George Padmore, Kwame Nkrumah, Eric Williams, C.L.R. James, Frantz Fanon, Michael Manley und Julius Nyerere liegen dieser wissenschaftlichen Auseinandersetzung zugrunde. So kommt Getachew näher an die Realpolitik, denn nicht wenige dieser Denker übernahmen im Laufe ihres Lebens auch politische Verantwortung. Azikiwe war Nigerias erster Staatspräsident, Nkrumah war der erste Präsident Ghanas, nachdem er die ehemalige Kronkolonie Goldküste in die Unabhängigkeit geführt hatte, gleiches gilt für Julius Nyerere in Tansania. Eric Williams übernahm als Premierminister Verantwortung in Trinidad und Tobago, Michael Manley im gleichen Amt in Jamaika.


Die Revolution in der französischen Kolonie Saint Domingue von 1791 war der einzige erfolgreiche Aufstand in der modernen Geschichte, in der versklavte Menschen aus eigener Kraft ihre Freiheit und Unabhängigkeit erkämpften. C.L.R. James Darstellung »Die schwarzen Jakobiner« ist ein Standardwerk, dass die Ereignisse eindrucksvoll festhält und analysiert. James klagt die rassistische Struktur der Kolonialgesellschaft des damals französisch besetzten Haiti an, rekonstruiert die revolutionären Ereignisse und erzählt sie aus der Perspektive linker Geschichtsschreibung neu. Mit seinem Buch leistet er einen unschätzbaren Beitrag dazu, die Haitianische Revolution als Ereignis von welthistorischer Bedeutung zu begreifen.


Diese nicht vollständige, aber durchaus repräsentative Liste deutet auf zwei Leerstellen in ihrer Arbeit. Einerseits beschränkt sie sich auf den sogenannten Black Atlantic, also auf den anglo-amerikanischen Kontext. Die Emanzipationsbewegungen der Kolonien Portugals, Spaniens oder Frankreichs kommen zu kurz. Andererseits bewegt sich die Auseinandersetzung in den elitären Zirkeln von Theorie und Politik. Die disparaten Massenbewegungen hinter diesen revolutionären Ideen dieser neuen »Weltgestaltung« sowie aktuelle Herausforderungen in einer postkolonialen Welt – Krieg, Klimawandel, Ressourcenknappheit, Restitutionen – geraten zu kurz.

Wie ein neues Modell des internationalen Miteinanders aussehen kann, bedarf zweifellos einer eigenen Untersuchung. Gut möglich, dass Getachew bereits daran arbeitet. Dem linken Jacobin-Magazin sagte sie in einem Interview: »Die Geschichte der Dekolonisierung, die ich in meinem Buch erzähle, handelt von staatlichen Akteuren und konzentrierte sich auf die Generalversammlung der Vereinten Nationen. Dass die Kämpfe unserer Zeit in dieser Form weitergeführt werden, ist unwahrscheinlich.«

Eine kürzere Version des Beitrags erschien im Freitag 8/2023.

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