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Hellsichtige Chronistin Haitis

Die Literatur von Marie Vieux-Chauvet wäre längst Teil des klassischen Kanons, hätte der Westen einen klareren Blick auf die Literatur des globalen Südens. Als Tochter Haitis hat sie die Geschichte ihres Landes und ihrer Menschen in der Literatur festgehalten. Ein halbes Jahrhundert nach ihrem Tod sind ihre Werke endlich in einer entschieden offenen deutschen Übersetzung zu entdecken.

»Ich heiße Lotus«, beginnt die Ich-Erzählerin in Marie Vieux-Chauvets Debüt ihre Erzählung, die tief in die haitianische Realität der vierziger und fünfziger Jahre eintaucht. »Der Name dieser orientalischen Blüte mag für Haitianerin zwar unpassend erscheinen, aber den Vorwurf richten Sie bitte an meine Mutter», heißt es weiter und so werden schon mit den ersten beiden Sätzen die kolonial geprägten Bilder, der die Westen von Karibik und Südsee hat, dekonstruiert.

Doch darum geht es der 1916 in Port-au-Prince geborenen Autorin nicht vordergründig. In ihrem 1954 erschienenen Erstling »Töchter Haitis« erzählt sie die Geschichte einer jungen Frau, die sich mit der sie umgebenden Welt konfrontiert und dabei den Ursachen von Ausgrenzung, Unterdrückung und Gewalt auf den Grund geht. Lotus ist Tochter eines Franzosen und einer Haitianerin, die sich und ihre Schönheit in der Hoffnung auf ein besseres Leben verkauft hat. Die Schönheit ihrer Mutter hat Lotus geerbt, sie ist mit den Schatten in ihrem Leben verbunden. Unzählige Männer wollen sich mit ihrer Gegenwart schmücken, doch sie lässt sie alle abblitzen. Bis der junge George Caprou auftaucht, ein leidenschaftlicher Rebell, der die politische Opposition anführt.

Marie Vieux-Chauvet: Töchter Haitis. Übersetzt von Nathalie Lemmens, mit einem Nachwort von Kaiama L. Glover. Manesse Verlag 2022. 288 Seiten. 28,- Euro. Hier bestellen.

George macht Lotus darauf aufmerksam, dass sie von einer Welt umgeben ist, die von Ungerechtigkeit und Brutalität geprägt ist. Ethnische Konflikte sind im Alltag überall spürbar, die Feindschaft zwischen den Nachfahren der aus Afrika entführten Sklaven und den hellhäutigen (Mischlings)Kindern der weißen Elite sind überall spürbar. Wir erfahren, wie die in Armut lebenden Nachbarn von Lotus in ihrer Not zu Gelegenheitsdieben und Opfer staatlicher Repression werden. Immer mehr rückt das allgegenwärtige Elend in den Blick der jungen Ich-Erzählerin. Bildeten die gesellschaftlichen Missstände lange Zeit nur ein andauerndes Hintergrundrauschen in Lotus’ Leben, gewinnen sie an der Seite von George an Dringlichkeit und türmen sich auf zu einem ohrenbetäubenden Geschrei. Es ist der revolutionäre Lärm, der drei Jahre nach Erscheinen des Romans in der Machtübernahme von François Duvalier alias Papa Doc münden sollte, der (und nach ihm sein Sohn Baby Doc) mit den Tonton Macoutes das Land jahrzehntelang im Würgegriff halten sollte.

Was heute, siebzig Jahre nach Erscheinen von »Töchter Haitis«, wie retrospektive Geschichtsschreibung aussieht, war für damalige Verhältnisse absolut visionär. Denn auch in Vieux-Chauvets Roman frisst die Revolution ihre Kinder. Der wechselhafte Kampf der Opposition schweißt Lotus und Caprou zwar eng zusammen, die politischen Unruhen aber führen bald schon in ein anarchisches Chaos, dass sich gegen die Umstürzler selbst wendet. Die Rivalität zwischen Schwarzen und Mulatten münden in einer Eruption der Gewalt mit fatalen Folgen für das junge Paar.

Die haitianische Schriftstellerin zeigt hier eindrucksvoll, wohin Unabhängigkeit ohne Gleichheit führen kann. Denn die ehemalige Kolonie Saint-Domingue war seit der Niederlage der französischen Kolonialisten 1804 formal unabhängig. In die Realität dieser Befreiung Vieux-Chauvets historischer Roman »Der Tanz auf dem Vulkan«, in dem aus der Perspektive von zwei Töchtern einer freigelassenen Sklavin von der haitianischen Revolution erzählt wird. Bis heute gilt diese als einziger Sklavenaufstand, der einen freien Staat hervorgebracht hat. C.L.R. James’ zum postkolonialen Klassiker avancierter Bericht »Die schwarzen Jakobiner. Toussaint Louverture und die Haitianische Revolution« erzählt von diesem Aufstand aus linker Perspektive.

Dass dessen insgesamt positive Interpretation der Ereignisse womöglich eine zu kurze Lesart ist, den Verdacht legt dieser Roman nah. Darin folgt die Autorin dem Pfad der ethnischen Konflikte und des Elends, der sich durch ihr Debüt »Töchter Haitis« schlängelt, bis zu seinen Anfängen, als französische Kolonialherren die Ausbeutung von Mensch und Natur vorantrieben. Der Sturz der weißen Machthaber führte jedoch nicht in eine neue Gesellschaft, sondern setzte die alte unter neuen Vorzeichen fort.

Marie Vieux-Chauvet: Der Tanz auf dem Vulkan. Übersetzt von Nathalie Lemmens, mit einem Nachwort von Kaiama L. Glove. Manesse Verlag 2023. 496 Seiten. 28,- Euro. Hier bestellen.

Die Autorin versteht dies literarisch klug zu verarbeiten. Minette und Lise, deren Schicksal auf wahren Begebenheiten beruht, bieten sich im postrevolutionären Port-au-Prince kaum Optionen, wie viele andere können sie sich als Kleinhändlerinnen auf der Straße verdienen, eine Existenz zwischen Elend und Selbstausbeutung. Beide verfügen aber über außergewöhnliches Gesangstalent, was die ältere der beiden Schwestern schließlich in ein Theater führt, wo ihr das Publikum zu Füßen liegt. Zu mehr Anerkennung führt das weder auf noch hinter der Bühne, Minette bleibt zunächst die namenlose »Mulattin«, auf die alle herabschauen. Genau diesen Blick von oben nach unten will Vieux-Chauvet (und Übersetzerin Nathalie Lemmens) mit der Verwendung dieses belasteten Begriffs auch vermitteln. Die Herablassung, die in ihm mitschwingt, transportiert die selbstsüchtige Haltung der weißen Oberschicht.

In der haitianischen Revolution wurde diese dann gestürzt und mit ihr der »code noir«, der den freien Schwarzen formal die gleichen Rechte einräumte wie den Weißen. Die sozialen Unruhen der Zeit machen das Leben in Saint-Domingue zum »Tanz auf dem Vulkan«, der dem Roman seinen Titel gibt.

Die Kritik an den (historischen) Verhältnissen der haitianischen Autorin ist alles andere als eindimensional. Sie nimmt auch Haltung und Verhalten der Aufsteiger:innen und Profiteur:innen in den Blick und macht so deutlich, dass nicht nur ethnische Herkunft, sondern auch Klasse und Ansehen über Oben und Unten in dieser Gesellschaft entscheiden. Wie eine Kamera fährt dabei die Erzählstimme durch die patriarchal hierarchisierte Bevölkerung des unabhängigen Staates und fängt diese in all ihrer Vielfalt ein: die weiße Oberschicht und die Schwarzen Sklaven bilden dabei die Extreme. Dazwischen eine Gesellschaft, in der deklassierte Weiße ums Überleben strampeln, während Schwarze Großgrundbesitzer skrupellos ihresgleichen nach unten treten. So viel Differenzierung liest man selten in den Romanen dieser Zeit, wie auch das informative und Vieux-Chauvets Werk einordnende Nachwort von Kaiama L. Glover zeigt. Glover ist eine mehrfach ausgezeichnete Kennerin der amerikanisch-karibischen Literatur und Übersetzerin und Übersetzerin haitianischer Prosa.

Marie Vieux-Chauvet | Foto: Anthony Phelps

Die Distanz in den gesellschaftlichen Panoramen bricht Vieux-Chauvet in ihrem historischen Roman immer wieder herunter, indem sie die Verhältnisse im Leben ihrer weiblichen Hauptfiguren spiegelt. Als sich Minette, eine der beiden Hauptfiguren in dem Roman, in einen freigelassenen Sklaven verliebt, träumt sie noch von den Idealen der Revolution. Bald schon aber muss sie feststellen, dass ihr Geliebter seine Sklaven genauso brutal behandelt wie einst die weißen Kolonialisten. Womit man wieder bei den Missständen ankommt, die Ausgangspunkt der sozialen Konflikte in »Töchter Haitis« sind, die wiederum in Gewalt und Diktatur führen. Dass diese bis heute nachwirken, macht der Blick auf die Gegenwart deutlich. Das bitterarme Haiti ist seit Jahrzehnten von Armut, Gewalt und Korruption geprägt. Verheerende Naturkatastrophen und politische Inkompetenz tragen zum sozioökonomischen Dauernotstand in Haiti bei. Die aktuelle Staatskrise hat mindestens eine indirekte Vorgeschichte, Vieux-Chauvets Romane erzählen sie.

lInks die Erstausgabe, rechts die Neuauflage von Marie Vieux-Chauvets »Amour, colère et folie«

Vor diesem Hintergrund darf man auf einen Band mit drei Novellen gespannt sein, der mit Unterstützung von Simone de Beauvoir 1968 im renommierten französischen Verlagshaus Gallimard unter dem Titel »Amour, colère et folie« erschienen ist. Die ambivalenten Gefühle von »Liebe, Wut und Wahnsinn«, die da im Titel anklingen, beschreiben Vieux-Chauvets Verhältnis zu ihrer Heimat unter dem brutalen Regime von François Duvalier. An de Beauvoir schrieb sie in einem Brief vor der Veröffentlichung des Romans, dass sie mit dessen Publikation auf den »Bruch mit einem Leben voller Routine und Resignation« hoffe.

Für den haitianischen Autor Dany Laferrière ist dieses Tryptichon »der große Roman der dunklen Jahre« Haitis unter dem Diktat von Papa Doc. Schon damals wurden die Novellen als literarischer Frontalangriff auf den haitianischen Diktator und seine Schergen verstanden. Aus Angst vor Repressalien kaufte ihr zweiter Ehemann Pierre Chauvet damals alle in Haiti erhältlichen Exemplare auf. Genützt hat es wenig, die Autorin war von massiven Einschränkungen in ihrer Freiheit betroffen. 1968 floh sie nach New York, wo sie fünf Jahre später einem Hirntumor erlag.

Eindrucksvoll ist, wie Übersetzerin Nathalie Lemmens diese ebenso unabhängige wie engagierte literarische Stimme zum Klingen bringt. Dabei versucht sie erst gar nicht, den eigenwilligen Mix aus Französisch und Kreol aufzulösen, sondern vertraut auf die mündigen Leser:innen, die dem eingängigen Rhythmus folgen und eventuelle Wissenslücken mithilfe der Anmerkungen schließen. Nichts desto trotz hätte man der Übersetzerin einige eigene Seiten gewünscht, auf denen Sie ihre Arbeit und ihre Entscheidungen, die in Zeiten von postkolonialen Debatten und Identitätskämpfen keine einfachen sind, hätte transparent machen können. Würdigung funktioniert eben nur mit Wissen, verlegerische Klassiker-Instanzen wie der Guggolz-Verlag oder Die andere Bibliothek wissen das.

Marie Vieux-Chauvet: Wiedersehen in Fonds-des-Nègres. Übersetzt von Nathalie Lemmens, mit einem Nachwort von Kaiama L. Glover. Erscheint am 4. August 2024 im Manesse Verlag. ca. 240 Seiten. 28 Euro. Hier vormerken.

In der Reihe, mit der man die haitianische Klassikerin und schreibende Widerständlerin nun entdecken kann, erscheint aber zunächst der Roman » Wiedersehen in Fonds-des-Nègres«, der von der Selbstfindung einer jungen Frau zwischen postkolonialer städtischer Kultur und dem von Aberglauben geprägten Landleben erzählt. Auch hier geht es wieder viel um die Armut und Perspektivlosigkeit der einfachen Menschen. Zugleich taucht der Roman in die archaische Voodoo-Kultur ein und ist in seinen Ausführungen der Verhältnisse auf dem Land als Appell an eine nachhaltige Landwirtschaft zu lesen.

Wie bedeutend dies ist, hat Jared Diamond nachgewiesen, der in »Kollaps. Warum Gesellschaften überleben oder untergehen« aufzeigt, wie die massive Rodung der Bäume in Haiti dazu geführt hat, dass diese Gesellschaft immer wieder am Rand des Zusammenbruchs steht. Dass Marie Vieux-Chauvet dies schon vor fünfzig Jahren erkannt hat, beweist, wie hellsichtig und visionär diese Literatur ist. Nicht umsonst gilt Vieux-Chauvet inzwischen als unbestrittene Wegbereiterin des modernen Romans in Haiti.

Überhaupt ist beeindruckend, wie spielerisch Vieux-Chauvet personalisierbare Fragen von Klasse, Hautfarbe, Rassismus, Gender und Familienbeziehungen mit kollektiven Themen wie Politik, Ökonomie und Gesellschaft verbindet. Dabei konzentriert sie sich immer wieder auf die Situation der Frauen, ohne dabei in Klischees und einfache Muster abzudriften, und zeigt so die Doppelmoral der patriarchalen gesellschaftlichen Strukturen auf. »In ihrem gesamten Werk lenkt sie den Blick auf die hauchdünne, durchlässige Grenze, die Mitte des vergangenen Jahrhunderts in Haiti die private Existenz der Frauen von der politischen Welt der Männer trennte«, schreibt Glover im Nachwort zu »Töchter Haitis«. Derart decke sie »die Gewalttätigkeiten auf, die sich in intimen Räumen abspielen.«

Die Prosa von Marie Vieux-Chauvet ist daher im doppelten Sinn als Befreiungsliteratur zu lesen. Sie handelt von der bis heute anhaltenden Befreiung einer Gesellschaft von ihren inneren Hierarchien und erzählt von der Emanzipation der Frauen unter widrigen Bedingungen.