Viele hatten auf den Barbenheimer-Effekt gesetzt, doch am Ende ging Greta Gerwigs emanzipierter Turn der Barbie-Story bei den Oscars 2024 fast leer aus. Yorgos Lanthimos Frankenstein-Variation »Poor Things« hält die Fahne des Feminismus hoch, Hayao Miyazaki bekam für seinen mutmaßlich letzten Film seinen zweiten Oscar. Die drei deutschen Oscar-Kandidat:innen sowie Altmeister Martin Scorcese blieben ohne Auszeichnung.
Im vierten Anlauf hat es dann doch geklappt. Nachdem er mit »Memento«, »Inception« und »Dunkirk« jeweils leer ausgegangen ist, wurde Christopher Nolan nun mit »Oppenheimer« bei der Oscarverleihung 2024 für die Beste Regie ausgezeichnet. »Oppenheimer« erzählt in glänzenden Bildern und berauschendem Sound von dem Mann, der die Atombombe erfand. Mit gewaltigen Bildern und einer im zweiten Teil dann doch irgendwie viel zu kompliziert konstruierten Geschichte bringt einem dieser dreistündige Kassenschlager den amerikanischen Prometheus näher. Nolans Porträt des Mannes hinter dem Manhattan-Projekt, der in der McCarthy-Ära ins Visier der Geheimdienste geriet, gewann auch die Königsdisziplin als Bester Film.
Hauptdarsteller Cillian Murphy, der gerade noch bei der Berlinale zu Gast war, wurde als Bester Hauptdarsteller ausgezeichnet. Er spielt diese geheimnisvolle, kaum zu greifende Figur mit einer magnetischen Energie, als sei sie ihm auf den Leib geschneidert. Robert Downey Jr., der im Film den Gründungsbeauftragten der Amerikanischen Atomenergiekommission Lewis Strauss spielt, wurde als Bester Nebendarsteller ausgezeichnet. Außerdem räumte der Film auch den bedeutendsten Filmpreis in den Kategorien Beste Kamera (Hoyte van Hoytema), Beste Filmmusik (Ludwig Göransson) und Bester Schnitt (Jennifer Lame) ab. Sieben von dreizehn möglichen Academy Awards gingen an »Oppenheimer«, der damit zum erfolgreichsten Film der diesjährigen Preisverleihung avancierte.
Zum Barbenheimer-Zweikampf, mit dem viele rechneten, kam es nicht. Aus den acht Nominierungen für »Barbie« sprang nur ein Oscar heraus. Billie Eilish wurde für den Titelsong »What Was I Made For?« ausgezeichnet und ist somit die jüngste zweifache Oscargewinnerin der Geschichte. 2022 gewann sie bereits mit »No Time To Die« in derselben Kategorie. Um den feministischen Film von Greta Gerwig gab es im Vorlauf intensive Debatten, weil ausgerechnet die weibliche Regisseurin und ihre formidable Hauptdarstellerin Margot Robbie nicht nominiert worden waren, der männliche Nebendarsteller Ryan Gosling aber schon. Dass nun der kommerziell erfolgreichste Film der Saison derart baden geht, ist durchaus überraschend.
Der große Verlierer des Abends ist Altmeister Martin Scorcese, der vor wenigen Wochen erst den Goldenen Ehrenbären der Berlinale überreicht bekam. Dessen Drama »Killers of the Flower Moon« war in zehn Kategorien nominiert, konnte aber keine einzige der begehrten Trophäen gewinnen. Ähnlich ging es Bradley Coopers Bernstein-Biopic »Maestro«, das trotz seiner sieben Nominierungen leer ausging.
Anders erging es Yorgos Lanthimos mit seiner quirlig-feministischen Frankenstein-Geschichte »Poor Things«. Mit vier von elf möglichen Oscars schloss der Film schließlich als zweiterfolgreichster der Oscars 2024 ab. In den Kategorien Bestes Szenenbild (Shona Heath, Zsuzsa Mihalek und James Price), Bestes Kostümdesign (Holy Waddington) und Bestes Make-Up / Beste Frisuren (Mark Coulier, Nadia Stacey und Josh Weston) konnte sich der Film u.a. gegen Christopher Nolans »Oppenheimer«, Greta Gerwigs »Barbie« und Martin Scorceses »Killers of the Flower Moon« durchsetzen.
Der Triumph von Emma Stone, die als Bella Baxter ihren zweiten Oscar nach der Auszeichnung mit Damien Chazelles Musikalfilm »La La Land« gewann, war durchaus erwartbar. Nicht wenige rechneten mit einer Auszeichnung von Lily Gladstone, die die weibliche Hauptrolle in Scorceses Osage-Drama spielt, die deutsche Schauspielerin Sandra Hüller hatte trotz ihres glänzenden Auftritts in »Anatomie eines Falls« nur Außenseiter-Chancen. Enttäuschend für Lanthimos Team, dass ein glänzender Mark Ruffalo nicht als bester Nebendarsteller gewinnen konnte, persönlich halte ich »Poor Things« auch für den besseren Film im Vergleich zu »Oppenheimer«.
Der britische Regisseur Jonathan Glazer gewann mit seinem Auschwitz-Film »The Zone of Interest«, der in Cannes mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet wurde und vor zwei Wochen in den deutschen Kinos gestartet ist (im Cargo-Magazin findet man eine konzise Analyse der zahlreichen Ebenen dieses Films), zwei Oscars. Zum einen erhielt er wenig überraschend den Oscar für das beste Sounddesign (Johnnie Burn, Tam Willers), zum anderen setzte sich Glazers Film, in dem Christian Friedel und Sandra Hüller als Ehepaar Höß einen ebenso beklemmenden wie bleibenden Eindruck hinterlassen, in einer starken Konkurrenz als Bester internationaler Film durch. Neben Glazers Film waren Ilker Çataks toller Film »Das Lehrerzimmer«, Wim Wenders umwerfendes Porträt eines japanischen Toilettenputzers »Perfect Days«, Matteo Garrones aufwühlendes Flüchtlingsdrama »Ich Capitano« und Juan Antonio Garcia Bayonas Thriller »Die Schneegesellschaft« nominiert.
Dass es der junge deutsche Regisseur Ilker Çatak keine zehn Jahre nach der Auszeichnung mit dem Student Academy Award in Gold für seinen Abschlussfilm »Sadakat« unter die besten fünf internationalen Filme geschafft hat, ist eine grandiose Geschichte. Bei der Konkurrenz hatte er aber maximal Außenseiterchancen. Ganz anders Wim Wenders, dessen leiser und doch so vieles erzählender Film nicht nur von mir favorisiert war. Nachdem die Academy aber Glazers genial verstörendes Experimentalwerk vorgezogen hat, bleibt es nach »Buena Vista Social Club«, »Pina« und »Das Salz der Erde« bei der vierten Oscar-Nominierung des deutschen Altmeisters.
Ein anderer Altmeister hat zum zweiten Mal einen Oscar gewonnen. Hayao Miyazaki, Gründer der legendären Ghibli-Studios, konnte über zwanzig Jahre nach der Auszeichnung von »Chihiros Reise ins Zauberland« mit seinem mutmaßlich letzten Film »Der Junge und der Reiher« erneut den Oscar für den Besten Animationsfilm gewinnen. In diesem fantasievollen Alterswerk voller autobiografischer Schlüsselmomente schimmert, schwirrt und wimmelt es in allen Ecken. Zugleich hat die Erzählung eine enorme Tiefe und macht vor den allerletzten Fragen nicht Halt. Der erneute Triumph kommt für mich nicht überraschend, sondern ist eine folgerichtige Entscheidung.
Überaus erfreulich, dass auch Justine Triets »Anatomie eines Falls« nach der Goldenen Palme und zahlreichen Auszeichnungen in Europa den Oscar für das Beste Originaldrehbuch, geschrieben von Arthur Harari, erhalten hat. So haben die beiden Filme, in denen Sandra Hüller mitgewirkt hat, von acht möglichen Oscars – bei zehn Nominierungen (»Anatomie eines Falls« und »The Zone of Interest« waren jeweils als Bester Film und für die beste Regie nominiert) – drei gewonnen. Die Amerikaner sprechen schon von einem Hüller-Effekt. Sandra Hüller ist für ihre Darstellung in den Filmen bereits mit dem Douglas-Sirk-Preis, dem Gilde-Filmpreis, dem Europäischen Filmpreis, dem französischen Filmpreis César, dem Prix Lumières und dem LA Film Critics Association Award ausgezeichnet worden. Bei den Golden Globes, den Baftas und dem Oscar unterlag sie jeweils Emma Stone.
Da’Vine Joy Randolph konnte sich als Beste Nebendarstellerin ebenfalls bei den Golden Globes, den Baftas und den Oscars durchsetzen. Sie spielt in Alexander Paynes ebenso unterhaltsamer wie kluger College-Komödie »The Holdovers« die Schulköchin Mary, die ihren Sohn im Vietnamkrieg verloren und entsprechend einiges aufzuarbeiten hat.
Wes Anderson erhielt nach den Oscarnominierungen für »Die Royal Tenenbaums« und »Der fantastische Mr. Fox« seinen ersten Oscar für den Kurzfilm »Ich sehe was, was du nicht siehst« (mit Stephen Rales). Die 40-minütige Adaption einer Kurzgeschichte von Roald Dahl mit Benedict Cumberbatch in der Hauptrolle sowie Ralph Fiennes, Dev Patel und Ben Kingsley in den Nebenrollen wurde bei den Filmfestspielen in Venedig uraufgeführt und ist Teil einer Kurzfilmreihe des Amerikaners, die auf Netflix zu sehen ist.
Der japanische Actionfilm »Godzilla Minus One« setzte sich in der Kategorie Beste visuelle Effekte gegen Großproduktionen wie »Mission: Impossible – Dead Reckoning Teil Eins«, Ridley Scotts Historienepos »Napoleon« oder die Star Wars-Nebenerzählung »The Creator« durch.
Cord Jefferson gewann den Oscar für seine Adaption von Percival Everetts Roman »Ausradiert«, das die Grundlage für seinen Spielfilm »Amerikan Fiction« bildet. In der Satire schreibt ein Schwarzer Hochschullehrer einen Roman, die alle stereotypen Schwarzen-Klischees vereint und ihn zum erfolgreichen Romanautor werden lässt.
Als Bester Dokumentarfilm wurde »20 Tage in Mariupol« von Mstyslaw Tschernow, Raney Aronson-Rath und Michelle Mizner ausgezeichnet. Der Film, der in der ARD-Mediathek zu sehen ist, hält den skrupellosen russischen Angriff auf die ukrainische Hafenstadt fest. Gedreht vom letzten verbliebenen internationalen Kamerateam (von Associated Press) zeigt es die fatalen Folgen von Beschuss und Belagerung der Stadt und dokumentiert die Kriegsverbrechen, die russische Truppen verübt haben, darunter die Bombardierung einer Entbindungsklinik und zahlreiche Anschläge auf Zivilist:innen. Schwer zu ertragen sind diese Bilder, die ähnlich wie »Shidniy front« von Vitaly Mansky und Yevhen Titarenko schonungslos festhalten, was der Krieg konkret bedeutet.
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