In seinem nun mutmaßlich allerletzten Film führt der Begründer der längst legendären Ghibli-Studios Hayao Miyazaki zu den allerletzten Fragen. In diesem fantasievollen Alterswerk schimmert, schwirrt und wimmelt es in allen Ecken. Es ist gut möglich, dass der Japaner mit »Der Junge und der Reiher« seinen zweiten Oscar gewinnt.
»Meine Mutter starb im dritten Jahr des Krieges, im vierten verließen mein Vater und ich Tokio«, erklärt der elfjährige Mahito mit trauriger Stimme in Hayao Miyazakis mutmaßlich letztem Film. Der Unternehmer Shoichi Maki, der eine Munitionsfabrik leitet, und dessen Sohn Mahito ziehen aufs Land, in das pompöse Haus von Natsuko, der neuen Frau von Mahitos Vater, die ein Kind von ihm erwartet. Der überforderte Junge sucht Ablenkung in der malerischen Umgebung des Hauses. Dort steht ein verlassener Turm, in den Mahito von einem prächtigen Graureiher gelockt wird. Der verspricht dem Jungen, ihn zu seiner Mutter zu führen.
Das Verhältnis zwischen Mahito und jenem geheimnisvollen Graureiher stehen im Mittelpunkt vom mutmaßlich letzten Film von Japans Animé-Meister Hayao Miyazaki, in dem der Turm zum Tor zu einer zauberhaft magischen Welt mit beängstigend realistischen Bezügen wird. Um den Turm ranken sich zahlreiche Legenden, etwa die, dass Natsukos Großonkel ihn um einen Meteor errichtet hat und sich eines Tages in seinem Inneren verloren hat. So erzählen es zumindest die alten Tanten, die sich um das Anwesen kümmern, auf dem seit jeher seltsame Dinge geschehen. Als dann noch die schwangere Natsuko verschwindet, bricht Panik aus und Mahito begibt sich auf eine lebensverändernde Reise.
In dem rätselhaften Turm warten gierige Pelikane, menschenfressende Sittiche, träge Sumpfkolosse, niedliche Warawaras und der prächtige Graureiher auf den Jungen. Die Suche nach der (Stief)Mutter wird zu einer Reise zu sich selbst, wie das in allen Miyazaki-Filmen der Fall ist. Die fantastischen Wesen des Japaners stehen meist für die Traumata, die seine Figuren ereilt haben. Im Gegensatz zu Makoto Shinkai, der in seinen Filmen gesellschaftliche Themen verhandelt, sind es bei Miyazaki eher persönliche Auseinandersetzungen, die im Mittelpunkt stehen.
Das kann man auch dem Comic »Shunas Reise« entnehmen, der einige Wochen vor dem Filmstart in der deutschen Übersetzung von Nora Bierich erschienen ist. Shuna ist der Prinz eines armen Reiches, das weniger an Japan als vielmehr an zentralasiatische Regionen und damit an Welten wie die seiner später verfilmten Manga-Serie »Nausicaä aus dem Tal der Winde« erinnert. Shuna ist der Prinz dieses mittellosen Regimes und macht sich auf die Suche nach der Quelle eines Samens, der seinen Untertanen ein besseres Leben verspricht. Miyazakis in Pastelltönen gezeichneter Manga handelt wie die Filme Miyazakis von einer persönlichen Suche, die der Japaner mit allen Mitteln der Fantasie umsetzt.
Mahito muss sich auf seiner Reise seinen innersten Ängsten stellen, erfährt dabei aber unverhofft Hilfe. Zum einem von besagtem Reiher, der zum treuen Begleiter wird, zum anderen von zahlreichen fantastisch schrulligen Wesen, die ihm bekannt vorkommen, deren Identität sich aber erst am Ende erschließt.
»Der Junge und der Reiher« ist Miyazakis 16. Film, er kommt zehn Jahre nach »Wie der Wind sich hebt«, seinem letzten »letzten Film«, in die Kinos. Es ist eine Art autobiografisches Lebenswerk, in der Miyazakis ewiger Traum vom Fliegen – aufgegriffen in Filmen wie »Porco Rosso«, »Das wandelnde Schloss«, »Das Schloss im Himmel« und »Wie der Wind sich hebt« – recht unmissverständlich auf den Vater zurückgeführt wird. Denn Mahitos Vater verantwortet wie Miyazakis die Produktion eines Kampfjets, der von der japanischen Luftwaffe eingesetzt wurde. Die Geschichte griff der Japaner schon in seinem letzten Film auf, der neue schließt dort an. Hier müssen die Einzelteile des Fliegers vor den Luftangriffen im Garten des neuen Anwesens in Sicherheit gebracht werden.
Vor allem aber ist dieser mutmaßlich allerletzte Film Miyazakis unverkennbar von seinen größten Erfolgen inspiriert. Wer das Werk des Japaners kennt, wird nicht nur zahlreiche Figuren und Motive aus Filmen wie »Chihiros Reise ins Zauberland«, »Mein Nachbar Totoro« oder »Das wandelnde Schloss« wiedererkennen – von den seltsamen Tantchen über den geheimnisvollen Reiher bis hin zu den niedlichen Totoros –, sondern auch die liebevoll gezeichneten Bilder und fantastischen Erzählstrategien zu schätzen wissen.
Hayao Miyazaki ist einer der erfolgreichsten Animationskünstler aller Zeiten. Sein Studio Ghibli ist weniger bloße Marke als vielmehr international anerkannter Qualitätsausweis großartiger Erzählungen. Mit »Chihiros Reise ins Zauberland« gewann der erste Animationsfilm in der Geschichte der Berlinale den Goldenen Bären. Ein Jahr später erhielt er dann den Oscar. Auch die Filme »Das wandelnde Schloss« und »Wie der Wind sich hebt« waren bei den Academy Awards im Rennen.
Es kann gut sein, dass er mit seinem letzten Film noch einmal den begehrten Filmpreis erhält. Bei den Golden Globes, die als Fingerzeig auf die Oscars angesehen werden, setzte sich » Der Junge und der Reiher« gegen Box-Office-Hits wie »Elemental«, »Spider-Man: Across the Spider-Verse« und »Suzume« durch.
Makoto Shinkai gehört mit seinen überwältigenden Animefilmen wie »Suzume« und »Your Name« ganz sicher die Zukunft. Hayao Miyazaki aber lässt seine Fans nun noch einmal in der goldenen Vergangenheit schwelgen. In seinen poetischen Fantasmagorien kann man die Welt(en) in all ihren magisch-realistischen Dimensionen erfahren und die Verantwortung für die eigene Rolle begreifen. Vor allem aber kann man Schmunzeln über den verspielten Esprit, der in diesem Meisterwerk steckt.
»Ein Graureiher sagte mir einmal, dass alle Graureiher Lügner sind. Ist das die Wahrheit oder eine Lüge?« Die Antwort auf diese Frage ist natürlich völlig nebensächlich. In Miyazakis Filmen geht es um die fantastisch-surrealen Räume, die er uns mit derlei Spielereien erschließt und die uns zu den ganz großen Fragen der menschlichen Existenz führen.
[…] letzten Film »Der Junge und der Reiher« erneut den Oscar für den Besten Animationsfilm gewinnen. In diesem fantasievollen Alterswerk voller autobiografischer Schlüsselmomente schimmert, schwirrt u… Zugleich hat die Erzählung eine enorme Tiefe und macht vor den allerletzten Fragen nicht Halt. Der […]