Die Geschichte eines amerikanischen Escort-Girls, das sich gegen die Familie eines russischen Oligarchensohns durchsetzt, gewinnt fünf Oscars. Adrien Brody gewinnt mit Brady Corbets Holocaust-Survivorstory »The Brutalist« seinen zweiten Oscar. Der erschütternde Film »No Other Land« über die rücksichtslose Zerstörung palästinensischer Dörfer im Westjordanland durch das israelische Militär wurde als beste Dokumentation ausgezeichnet.
Anora ist eine junge Stripperin, die sich gelegentlich als Nobel-Escort etwas dazuverdient. Vanja, der kindlich-alberne Sohn eines russischen Oligarchen, ist derart begeistert von ihr, dass er sie kurzentschlossen in Las Vegas heiratet. Als seine Eltern davon erfahren, beauftragen sie einen armenischen Priester, der mit zwei Schlägern im Schlepptau für die Auflösung der Ehe sorgen soll. Als sich Vanja aus dem Staub macht, fliegen seine skrupellosen Eltern selbst ein.
Sean Bakers zwischen Rotlicht und Kasino angesiedelter Mix aus Cinderella-Story und Gangsterkomödie hat bei der 97. Verleihung der Oscars fünf der begehrten Filmpreise abgeräumt und ist damit der Überraschungsgewinner des Abends. Damit hatten die wenigsten gerechnet, die meisten Nominierungen strichen Jaques Audiards Drogenkartell-Musical »Emilia Pérez« (13) sowie das Historiendrama »The Brutalist« und die Musicaladaption »Wicked« (jeweils zehn) ein.
Sean Baker allein gewann mit seinem Film vier der fünf begehrten Auszeichnungen. Neben dem Hauptpreis für den besten Film gewann er auch die Kategorien Beste Regie, Bestes Originaldrehbuch und Bester Schnitt. Eigentlich verrückt, verließ der amerikanische Filmemacher für den Film sein vertrautes Terrain des sozialkritischen Kinos. In »The Florida Projekt« ging es um Menschen, die in einem abgewirtschafteten Motel im Schatten von Disneyland leben, in »Red Rocket« um einen aussortierten Pornostar, in »Tangerine L.A.« folgte er einer gerade aus dem Knast entlassenen transsexuellen Prostituierten, die eine Rechnung offen hat.

Mit »Anora« gewann er bereits im vergangenen Jahr bei den Filmfestspielen in Cannes die Goldene Palme, nun also der Triumph bei den Oscars. Allein der Film erklärt diesen Erfolg nicht, sicherlich muss man hier auch die aktuellen politischen Debatten in Betracht ziehen, die mit der Auszeichnung durch die eher liberale Filmwelt kommentiert wird. Dass sich eine mittellose Amerikanerin – gespielt von der 25-jährigen Mikey Madison, die für ihre Performance den fünften Oscar für den Film gewann – gegen vermeintlich allmächtige Russen auflehnt, ist geradezu das Gegenprogramm zum Knicks, den die Trump-Administration gegenüber Putins Russland macht.
Bakers rasanter Film, der bereits im Streaming zu sehen ist, versteht es durchaus, zu unterhalten. Fans von Bakers sozialem Kino wird er dennoch nicht nur positiv überraschen. Bislang solidarisierte sich er Amerikaner immer mit seinen Figuren, die oft in prekären Verhältnissen leben und um ihre Existenz kämpfen. In »Anora« aber wird die junge Hauptfigur aber durch die Kamera den gierigen Blicken der Welt ausgesetzt. Statt sich an ihre Seite zu stellen, stellt der Film sie aus.

Mikey Madison muss als willige Amüsierdame ständig halbnackt durch die pompösen Kulissen springen. Auch die Sorglosigkeit, mit der sie sich auf die Avancen des quirligen Oligarchensohnes einlässt, unterstreichen nur ihre Naivität. Dabei müsste sie nach Jahren im Business doch klüger sein. Auch über die russische Diaspora in Amerika erfährt man hier nichts Neues, viel mehr als Klischees werden in Bakers neuem Film nicht reproduziert. Tatsächlich könnte man mit den Mitteln der Komödie die tatsächlichen Verhältnisse und Hierarchien kritisch hinterfragen. Dafür fehlt diesem Film in meinen Augen aber der Biss.
Den hat wiederum Brady Corbets fiktives Architektenporträt »The Brutalist«, in dem Adrien Brody als Holocaust-Survivor László Tóth groß aufspielt. Der Bauhaus-Schüler flieht nach dem Krieg in die USA, wo er von einem reichen Geschäftsmann dafür engagiert wird, ein Gemeindezentrum zu bauen. Der Film verhandelt Fragen von Flucht und Identität, Sucht und Liebe, aber auch das Spannungsverhältnis von künstlerischer Freiheit und monetärer Macht.
Adrien Brody legt mit diesem Film seine Paraderolle als »Pianist« Wladyslaw Szpilman ab und streift eine neue als »Brutalist« László Tóth über. Es ist absolut überzeugend, wie Adrien Brody diesem gleichermaßen gebrochenen wie stolzem Mann Format und Identität verleiht. Vollkommen zurecht erhält er dafür nach über zwanzig Jahren seinen zweiten Oscar, denn er macht vollkommen vergessen, dass es diesen Architekten nie gegeben hat. Tóth ist eine fiktive Figur, die sich an Mies van der Rohe, Oscar Niemeyer oder Marcel Breuer orientiert, ein Vertreter des Brutalismus.
Kameramann Lol Crawley, der diese Geschichte in gleichermaßen überwältigenden wie einschüchternden Bildern festgehalten hat, sowie Daniel Blumberg, dessen Filmmusik durch dieses dreieinhalbstündige Epos trägt, wurden ebenfalls ausgezeichnet. Der in vielerlei Hinsicht spektakuläre Film von Brady Corbet läuft aktuell in den deutschen Kinos, ist ab April aber auch für das Heimkino erhältlich.
Der Preis für den besten internationalen Film ging an den brasilianischen Kandidaten »Für immer hier«. Walter Sallas erzählt darin die Geschichte einer Politikergattin, die sich während der Militärdiktatur auf die Suche nach ihrem verschollenen Mann macht. Der Film setzte sich ebenfalls etwas überraschend gegen eine hochrangige Konkurrenz durch. Jacques Audiards »Emilia Pérez« ging ebenso leer aus wie der dänische Schwarz-Weiß-Film »Das Mädchen mit der Nadel« von Magnus von Horn über eine Serienmörderin im 19. Jahrhundert sowie der deutsche Kandidat »Die Saat des Heiligen Feigenbaums« des Iraners Mohammad Rasulof, der aufgrund politischer Verfolgung inzwischen in Hamburg lebt. Mit seinem kafkaesken Puzzle »Doch das Böse gibt es nicht« gewann er 2020 in Berlin den Goldenen Bären, »Die Saat des Heiligen Feigenbaums« lief 2024 im Wettbewerb in Cannes.
Ebenfalls bei den Oscars ausgezeichnet wurde der Film »No Other Land« des israelisch-palästinensischen Filmduos Basel Adra und Yuval Abraham. Der Film, der die Zerstörung palästinensischer Dörfer im Westjordanland durch das israelische Militär und den zivilgesellschaftlichen Widerstand gegen dieses Vorgehen festhält, erhielt im vergangenen Jahr den Dokumentarfilmpreis der Berlinale und den Europäischen Filmpreis für die beste Dokumentation.
Die politische Positionierung der von Basel Adra und Yuval Abraham bei der Preisverleihung, die sich für gleiche Rechte von Israelis und Palästinenser:innen aussprachen und Israels radikales Vorgehen im Gaza-Streifen kritisierten, wurde medial zum antisemitischen Eklat stilisiert. Dem Film wurde zudem Einseitigkeit und fehlender künstlerischer Anspruch vorgeworfen. Diese Vorwürfe folgten einer politischen Haltung, die Israelkritik mit Antisemitismus gleichsetzt und damit das Geschäft der rechtsextremen israelischen Regierung macht. Die linke israelische Zeitung Haaretz bezeichnete dies als Entsprechung der gegenwärtigen Lage in Israel, in »der Atmosphäre des Verschweigens, der Selbstzensur und der Verfolgung jeder Person, die Kritik am israelischen Regime« äußere. Mit der erneuten Auszeichnung des Films setzt Hollywood – wie schon im vergangenenjahr mit dem Oscar an die Doku »20 Tage in Mariupol« – ein politisches Zeichen.
Der Lette Gints Zilbalodis, der mit »Flow« ebenfalls für den Besten Internationalen Film nominiert war, gewann in der Kategorie Bester Animationsfilm einen Oscar. Ohne Worte erzählt er in einem Stream of Images von einer Naturkatastrophe, die die Welt verändert und ihre tierischen Bewohner auf eine magisch-realistische Reise schickt. Ein eindrucksvolles Werk, dass in seinen gestochen scharfen und emotionalen Bildern ein neues Kapitel des Animationsfilms aufschlägt. Im vergangenen Jahr hatte Hayao Miyazaki mit seinem mutmaßlich letzten Film »Der Junge und der Reiher« den Preis gewonnen.
Die weiteren Oscars gingen an Kieran Culkin als bester Nebendarsteller. In der Tragikomödie »A Real Pain« spielt er einen Mann namens Benji Kaplan, der mit seinem Cousin David (Jesse Eisenberg) in Polen an einer Shoa-Tour teilnimmt und die Reisegruppe mit seinen Marotten ziemlich aufmischt. Als Beste Nebendarstellerin wurde Zoë Saldaña ausgezeichnet, die in Jacques Audiards »Emilia Pérez« die Anwältin eines Mafiabosses spielt. Peter Straughan gewann mit dem Papst-Thriller »Konklave« den Oscar für das beste adaptierte Drehbuch. Jon M. Chus Musicaladaption »Wicked« mit Ariana Grande in einer der Hauptrollen erhielt die Oscars für das beste Szenenbild und das beste Bühnendesign, Denis Villeneuves »Dune: Part Two« gewann die Kategorien Bester Ton und Beste visuelle Effekte.