Nur wenige der Projekte des brasilianischen Architekten Oscar Niemeyer wurden außerhalb seines Heimatlandes verwirklicht. Die Universität von Algiers ist eines dieser Ausnahmeprojekte. Der Berliner Fotograf Andreas Rost hat den Campus in stechend scharfen Aufnahmen eingefangen und ein nahezu vergessenes Werk Niemeyers dokumentiert.
Es ist der nackte, von der Witterung gezeichnete Beton, der den Gebäuden der Universität von Algiers einen weiteren visuellen Charakter verleiht, den Niemeyer selbst so wohl nicht eingeplant hat. Aus dem leidenden Stein ragen rostende Armierungseisen, die Oberflächen sind spröde und rau. Seit den siebziger Jahren in der sengenden Sonne Algeriens stehend hat dieses auf das Notwendigste reduzierte Ensemble von Oscar Niemeyer etwas Trauriges. »Das Morbide ist sehr dominant«, stellt auch der Architekturjournalist Sebastian Redecke in seinem Essay »Revolution und Symbol« zu den Campus-Fotografien des Berliners Andreas Rost fest.
Die Sonne an diesem Ort scheint nicht wärmend, sondern brennt erbarmungslos. Ihr Licht wirft schwere und lange Schlagschatten. Diese Schatten hat der 2012 verstorbene brasilianische Architekt wohl bedacht, wie auch die Spiegelungen in den großen Fenstergläsern oder in den Wasserbecken, die – zum Teil ausgetrocknet – einige der Gebäude umgeben. Die Licht- und Schattenspiele verleihen den an der Glasfassade vor den Fakultätsgebäuden aufgehangenen Betonbögen, der an mächtige Schwingen erinnernden Passerelle auf der zentralen Achse des Ensembles und dem trapezförmigen Audimax eine verspielte Eleganz, die diese wuchtige Architektur aus der Schwere in die Leichtigkeit führt. Diese typischen Niemeyerschen Licht- und Schattenspiele sind aufgrund ihrer scheinbar endlosen Optik schwierig in einem Bild einzufangen, Andreas Rost aber ist es gelungen, sie in faszinierenden, vielsagenden und metaphorischen Fotografien festzuhalten.
Er ist damit nicht der einzige, Lucien Clergue etwa hat vor wenigen Jahren die Wirkung von Niemeyers Schaffen in Brasília eingefangen. Dabei hat er vor allem auf Panoramen gesetzt, auf die Wirkung der architektonischen Form in der vom Mensch geformten Landschaft. Rost hat einen anderen Weg gewählt, er ist näher an sein Objekt herangegangen, hat sich hineinbegeben in diese Welt aus Stahl, Glas und Beton und Perspektiven gesucht, in denen die architektonischen Formen museal arrangiert wirken.
Der Grundriss der Universität birgt die vieldeutige Aussage von Niemeyers Entwurf. Redecke erkennt darin ein Flugzeug oder einen Vogel, spricht von »einer zentralen Achse mit Kopf und, breit ausgedehnt, zwei abgeknickten Flügeln«. Der Autor dieser Zeilen sieht eher ein Sprachrohr, sowohl Audimax als auch das Ensemble sind ähnlich ausgerichtet, um die Erkenntnisse von Wissenschaft und Akademie nach außen zu tragen.
Die Deutungshoheit obliegt letztendlich dem Betrachter, Niemeyer hat sich aufgrund der fehlenden Umsetzung eines Universitätsturms früh aus dem Projekt zurückgezogen und nur die Andeutung einer Interpretation hinterlassen. Das vor dem Audimax gelagerte Wasserbecken sollte ursprünglich viel größer sein, Niemeyer habe den Bau »als ein schwimmendes Schiff« sehen wollen, weiß Redecke zu rekonstruieren. Rost hat die Perspektive gefunden, in der der Kubus tatsächlich so wirkt, wie man auf dem Titelbild des Beitrags erkennt.
Flugzeug, Vogel, Sprachrohr, Schiff – in all diesen Auslegungsmöglichkeiten ist die Hoffnung auf Fortschritt erkennbar, die zum Zeitpunkt des Baus der Universität das Land in Atem hielt. Der französische Kolonialismus war gerade überwunden, alle Zeichen standen auf Aufbruch. Niemeyer, seit jeher ein linkspolitischer Idealist, wollte dieser Hoffnung mit einer pragmatischen, dem Zweck gemäßen Architektur Ausdruck verleihen – freilich ohne von seinem Ideal abzurücken. Demnach muss der schöpferische Architekt nicht nur einzigartige Gebäude entwerfen, sondern auch »kulturelle Symbole schaffen, die die Menschen aufrütteln, in sie eindringen und sie überraschen«, sagte Niemeyer vor seinem Tod dem italienischen Architekturkritiker Roberto Segre.
Tatsächlich gelingt es Andreas Rost, den in Niemeyers Oeuvre nur selten erwähnten Campus so zu inszenieren, dass es aufrüttelt und überrascht. Mit der Klarheit der geraden Linien sowie der Eleganz von Schwüngen, Bögen und Parabeln repräsentiert die Universität die Vision einer besseren, von Vernunft geleiteten Welt. Andere Bilder sind geradezu erschütternd, weil sie nicht nur von der Hoffnung, sondern vor allem von ihrem Scheitern erzählen. Algerien ist von der islamistischen Welle, die den Maghreb sowie den Nahen und Mittleren Osten aufwühlt, erfasst. Das Land gilt als unfrei, die Regierung ist autoritär. Die Arabellion hat hier nichts besser gemacht, sondern nur die Konflikte zwischen den Bevölkerungsgruppen verschärft. Entsprechend sehen wir den Campus auf Rosts Bildern meist menschenleer, nur auf wenigen Bildern sind Silhouetten von Studierenden zu sehen, meist unscharf.
Will uns der Fotograf glauben machen, dass der Beton diese Einöde regiert, die die Algerier vielleicht niemals wirklich für sich erobert haben? Nein, das nicht, Graffitis, Skretchings und die Überreste ungepflegter Grünanlagen belegen, dass es hier auch sehr lebendig sein kann. Rost geht es aber nicht um die Abbildung ungenutzten Potenzials, sondern um das Vermächtnis des Betons. Deshalb regiert die schroffe Struktur der gegossenen Betonplatten selbst dann das Bild, wenn sich im Vordergrund einige Studentinnen vor das Objektiv des Berliners geschoben haben. Seine Aufnahmen sind tiefsinnig, sie spielen klug mit der widersprüchlichen Architektur Niemeyers.
Aber der Zahn der Zeit nagt hartnäckig an diesem Vermächtnis, »es ist ein Ort der Tristesse«, stellt auch Sebastian Redecke fest. Betonflechten haben Besitz von den glatten Wänden ergriffen, der Wüstensand hat die Fensterscheiben in Nebelwände verwandelt, dahinter hängen gestreifte Vorhänge an den letzten Gardinenklammern. Diese Arche der Akademie ist auf eine Sandbank gelaufen und steckt dort fest. Dort, wo ein schwimmendes Schiff seine Bahnen ziehen sollte, regiert der Wüstensand. Wo man Diskussion und Austausch erwartet, herrschen aktuell eher Schweigen und Sprachlosigkeit. Ein Ort der Tristesse ist der Campus auch in diesem Sinn.
Dennoch wohnt diesem Ort auch etwas Erhabenes inne, das keine Verwitterung zu vertreiben vermag. In dem Vermächtnis des Betons steckt auch die Macht des Unverrückbaren. Wie ein Fels in der Brandung weigern sich diese robusten Mauern, der Aggressivität von Außen – sei sie natürlich oder ideologisch – nachzugeben. Weder Sonne noch Wüstensand, weder religiöser Wahn noch politische Ideologie scheinen diesem Hort von Wissenschaft und Forschung tatsächlich etwas anzuhaben. Dieser auf Grund gelaufene Bildungsdampfer scheint jederzeit wieder Fahrt aufnehmen zu können. Nicht die schlechteste Erkenntnis am Ende dieser Bilderexkursion über Oscar Niemeyers Campus in Algier.
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Andreas Rost: Der unbekannte Oscar Niemeyer in Algiers
Verlag für Moderne Kunst 2015
164 Seiten. 27,27 Euro
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[…] Jahre lang hat der ehemalige Bürgerrechtlicher und Fotograf Andreas Rost (auf dem Titelbild im Rücken von Marx und Engels 1990 in Berlin) an dem überwältigenden […]