Was haben die wohlschmeckenden Filets der Fleischergesellen Svend und Bjarne, die wurmzerfressenen Äpfel des gutgläubigen Pfarrers Ivan und die hasenschartigen Mischwesen fünf schräger Halbbrüder gemeinsam? Es sind skurrile Kopfgeburten des dänischen Kultregisseurs Anders Thomas Jensen, dessen düster-kongeniale Komödien zu den besten des europäischen Kinos gehören.
In Jensens gefeiertem Spielfilmdebüt, der launigen Gangsterkomödie Flickering Lights, machen sich vier Kleinganoven mit vier Millionen Kronen aus dem Staub, um in Barcelona noch einmal von vorne anzufangen. Wie es dazu kam, wissen wahrscheinlich nicht einmal Torkild (Søren Pilmark), Peter (Ulrich Thomsen), Arne (Mads Mikkelsen) und Stefan (Nikolaj Lie Kaas) so genau, denn irgendwie sind sie da reingerutscht. Seit ihrer Jugend sind sie Freunde, ihr ganzes Leben haben sie in Kopenhagen verbracht. Aber wirklich seltsame Züge des Schicksals – die zu erzählen hier verzichtet werden muss, um dem Spaß nicht vorzugreifen – haben sie vom rechten Pfad abkommen lassen.
Als sie im Auftrag des Bandenchefs Færingen (Peter Andersson) bei einem Griechen einbrechen und dort vier Millionen Kronen erbeuten, beschließt der gerade verlassene Torkild, mit dem Geld im Kofferraum und seinen drei Kumpels auf der Rückbank abzuhauen. Doch sie kommen nicht so weit, wie er wollte, enden in einem verfallenen Haus irgendwo im Nirgendwo. Sie beschließen, sich dort niederzulassen und mit dem Geld ein Restaurant zu eröffnen. Der Traum eines neuen Lebens könnte für die vier tragikomischen Helden wahr werden, doch je näher er rückt, desto vehementer drängen die Traumata aus dem alten Leben in den Alltag und zwingen die Gangster auf Freuds Couch.
Traumatisch könnte man die Folgewirkungen der tiefschwarzen Fleischerkomödie Dänische Delikatessen von 2003 bezeichnen. Es dürfte niemanden geben, der nach dem schaurigen Genuss dieses delikaten Geniestreichs noch unvoreingenommen an die Fleischtheke im Supermarkt tritt. Denn die eigenwilligen Jungunternehmer Svend (Mads Mikkelsen) und Bjarne (Nikolaj Lie Kaas) entledigen sich einer Leiche, indem sie sie als marinierte Filets in die Auslage legen und einen Verkaufshit sondergleichen landen. Ursprünglich wollten Sie nur ihrem ehemaligen Chef einen Strich durch die Rechnung machen, doch einmal am Erfolg geschnuppert, will vor allem Svend nicht mehr von der mörderischen Verkaufsstrategie Abstand nehmen – zumal das Geschäft das einzige ist, was läuft, nachdem ihn seine Frau verlassen hat. So finden sich nacheinander ein Elektriker, ein Immobilienmakler und ein Parkstreicher im Kühlraum der Fleischerei zwischen Schweinehälften und gerupften Hühnern wieder.
Bjarne findet das alles gar nicht so komisch, aber der lethargische Endzwanziger spielt dieses makabre Spielchen mit. Zumal ihm der Erfolg mit seinem Kompagnon ganz recht ist, da er bei der jungen Astrid (Line Kruse) landen will, die für das örtliche Bestattungsunternehmen arbeitet. Und da ist noch sein hirntoter Zwillingsbruder Eigil, der von Kindesbeinen an von Tieren besessen war und seit einem Unfall von Maschinen am Leben gehalten wird. Diese sollen nun abgestellt werden, der Ausgang ist aber ganz anders als erwartet.
Jensens zweite, mehrfach ausgezeichnete Komödie, erzählt ist eine Allegorie auf die Familie und die Bewältigung tiefer Traumata. Denn wie sich herausstellen wird, gibt es nachvollziehbare Gründe dafür, dass Svend wie besessen für Nachschub in der Fleischtheke sorgt und Bjarne an einer Depression leidet. Beide gehörten besser auf die Couch als hinter einen Verkaufstresen, aber so spielt das Leben in Dänemark nun mal nicht.
Offenbar ist auch der Strafvollzug in Dänemark etwas anders gestrickt, als man das aus anderen Ländern kennt. Zumindest kommt zu Beginn von Adams Äpfel der überzeugte Neonazi Adam (Ulrich Thomsen) in die skurrile Resozialisierungsherberge des Weltverbesserers Ivan (Mads Mikkelsen), wo er der in der Gesellschaft des notorischen Tankstellenräubers Khalid (Ali Karim), des unbelehrbaren Triebtäters Gunnar (Nicolas Bro) und der rückfälligen Alkoholikerin Sarah (Paprika Steen) ein besserer Mensch werden soll. Die Grundlage seiner Läuterung hängt am kircheneigenen Apfelbaum. Mit dessen Früchten, verspricht er eilfertig dem Pfarrer, will er am Ende seines Aufenthalts einen Kuchen backen. Insgeheim will Adam eigentlich nur seine letzten Wochen absitzen und dann zu seinen Kameraden zurückkehren, doch plötzlich wird sein Versprechen zu einer echten Herausforderung – und für Freunde des rabenschwarzen Humors ein Vergnügen sondergleichen. Denn höhere Mächte scheinen etwas dagegen zu haben, sein Äpfel werden erst von Raben und dann von Würmern befallen, in der Kirche geht der Backofen kaputt und irgendwann schlägt sogar der Blitz in den Baum ein.
Jensens Persiflage auf die Therapie, in der alle Weltverbesserer und Unverbesserlichen ihr Fett wegbekommen, ist zugleich auch die erfolgreichste seiner Komödien. Sie lebt von spritzigen Dialogen und der Inszenierung einer skurrilen Wirklichkeit, die sich am Buch Hiob entlanghangelt. Darüber hinaus ignoriert Pfarrer Ivan die Wirklichkeit (wofür der örtliche Arzt das Rawaschi-Syndrom erfindet), Adam fällt bei jedem Glockengeläut seine Hitler-Devotionalie von der Wand und seine Mitbewohner betreiben ein eigenwilliges Dasein im Schatten der Aufmerksamkeit des Pfarrers. Der Apfelkuchen wird zum die Feinde vereinenden Projekt, was Adams alte Freunde auf den Plan ruft. Aber da haben sie die Rechnung ohne Khalid gemacht…
Adams Äpfel ist vielleicht ein guter Film zur Stunde, da er von der Läuterung eines Neonazis durch einen Apfelkuchen erzählt. Dabei kommt er ganz ohne historische Lektionen aus, sondern bleibt ganz bei den Menschen, ihren Hoffnungen und Ängsten sowie ihrem Blick auf die Welt, der immer wieder gebrochen wird – mal durch die Linse der Ironie, mal durch das Brennglas der Wirklichkeit.
Jensens im Frühjahr in die Kinos gekommenes posthumanes Märchen Men & Chicken ist eine fantasievolle Reflektion der Genforschung. Der dänische Kultregisseur erzählt in dem in den Ruinen der Beelitzer Heilstätten gedrehten Werk von den Irrwegen der Evolution, bei denen neben den fünf eigenwilligen Halbbrüdern Gabriel (David Dencik), Elias (Mads Mikkelsen), Gregor (Nikolaj Lie Kaas), Franz (Soren Malling) und Josef (Nicolas Bro) auch eine seltsam verschworene Dorfgemeinschaft sowie einige seltsame Viecher eine wichtige Rolle spielen. Und dann gibt es da noch einen experimentierfreudigen Wissenschaftler, dem aber nur ein kurzer, wenngleich nachhaltiger Auftritt beschieden ist.
Alles beginnt damit, dass Gabriel und Elias nach dem Tod ihres Vaters feststellen, dass er gar nicht ihr Vater war und augenscheinlich auch mit der mütterlichen Seite etwas im Argen liegt. Also machen sie sich auf die Suche und stellen fest, dass sie Nachkommen eines Wissenschaftlers sind, der sich auf eine einsame Insel zurückgezogen hat. Dort suchen sie ihn in seinem verfallenen Märchenschloss auf, werden aber von drei seltsamen Typen und ihren tierischen Mitbewohnern – zu denen sie ein befremdliches Verhältnis pflegen – zunächst abgewimmelt. Wie sich herausstellen wird, sind es ihre Halbbrüder, die ähnlich von ihrer Herkunft gezeichnet sind, wie sie selbst.
In Men & Chicken hat Jensen die Überzeichnung seiner Charaktere auf die Spitze getrieben. Gabriel ist ein eulenschlauer Evolutionswissenschaftler mit Hochbegabtenallüren, Elias ein sexbesessener Holzkopf, Franz ein gewaltbereiter Gockel, Gregor ein unterwürfiges Schoßhündchen und Josef ein beleibter Käseliebhaber mit Laufleidenschaft. Diese Marotten sind für sich schon komisch, im Zusammenspiel sind sie der Motor dieses komischen, aber auch unter die Haut gehenden Films, in dem gackernde Schweinchen, behufte Truthähne und menschbefußte Störche von den Abwegen der Evolutionsbiologie erzählen, wenngleich in einer ironischen Form.
Das aberwitzige Dasein einiger aus der Zeit gefallener Typen bildet das Herzstück des besonderen Jensen-Kinos voller Absurdität und Komik. Gespielt werden die verschrobenen aber liebenswerten Gesellen – von denen einer meist gern isst, ein anderer ein besonderes sexuelles Verlangen verspürt und ein dritter wiederum zur Gewalttätigkeit neigt – von der fast immer gleichen Crew rund um Hollywoodstar Mads Mikkelsen, zu der die dänischen Schauspieler Nikolaj Lie Kaas, Ole Thestrup und Nicolas Bro gehören. Jensens Filme machen auch die Verwandlungskunst und das formidable Charakterschauspiel dieser Crew deutlich.
Mads Mikkelsen, den man als Bond-Gegner Le Chiffre in Casino Royale oder als Dr. Hannibal Lecter in der TV-Serie zum Kinohit kennt und bald in der neuen Star Wars Story Rogue One sehen wird, darf bei Jensen wie bei keinem anderen Regisseur sein Talent zur Komik in vollen Zügen ausleben.
Ähnlich wie Roy Andersson es in seinem im vergangenen Jahr mit dem Goldenen Löwen ausgezeichneten Bilderreigen Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach getan hat, führen Jensens Werke in spektakulär unspektakulären Bildern die Idiotien der Gegenwart vor. Dabei vermeiden sie es allerdings, sich im überbordenden Gefallen an der eigenen Kunst zu verlieren. Sie sind daher nicht intellektuelles Kunstprodukt, sondern Lachgas für das Volk, für das hier ein Feuerwerk aus treffsicheren Pointen, ironischen Wirklichkeitsverweisen und Slapstick gezündet wird. Dabei gibt es auch immer wieder auf die Mütze, aber das hat ja schon bei der Olsenbande oder bei Bud Spencer und Terrence Hill für Heiterkeit gesorgt.
»Es gibt keine schlechten Menschen«, flötet Pfarrer Ivan seinem miesepetrigen Kirchennazi entgegen. Für Jensens Filme gilt das ganz gewiss, da können nicht einmal männermordende Fleischergesellen, geldgierige Ganoven oder hasenschartige Bauerntölpel etwas dran ändern.
[…] neben mir in den weichen, dunkelroten Rundungen des Kinosessels seinen Rausch ausschlief, sah ich Bud Spencer und Terence Hill dabei zu, wie sie Komparsen vermöbelten. Für mich gehören diese zwei Jahre zu den schönsten […]
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