Mads Mikkelsen spielt in Thomas Vinterbergs neuem Film »Der Rausch« einen Lehrer in der Krise und beweist einmal mehr, dass er einer der größten Schauspieler seiner Generation ist.
»Stellt Euch vor, ihr müsstet zwischen einem chronisch kranken Lügner, einem übergewichtigen Alkoholiker und einem vegetarischen Nichtraucher wählen. Wen würdet ihr wählen?«, fragt Martin (Mads Mikkelsen) seine Schüler. Natürlich entscheiden sie sich für den nikotinabstinenten Vegetarier – und damit nicht für Franklin D. Roosevelt oder Winston Churchill, sondern für Adolf Hitler. »Die Welt ist nie das, wofür man sie hält«, so die Lektion, die der Geschichtslehrer seinen Schülern mitgeben will.
Dieser Satz schwebt über Thomas Vinterbergs neuem Film, der nicht nur mit dem Oscar für den besten internationalen Film, sondern auch mit vier Europäischen Filmpreisen (Bester Film, Bester Darsteller, Beste Regie, Bestes Drehbuch) und zahlreichen anderen Lorbeeren ausgezeichnet worden ist. »Der Rausch« erzählt von vier Freunden, die zwar alles haben, aber dennoch irgendwie die Kontrolle über ihr Leben verloren haben. Ihr Dasein ist ein unaufhaltsames Minenspiel, nur dass sie die Maske nicht mehr wahren können. Martin, Tommy, Nikolaj und Peter ist im Laufe der Jahre der Spaß am Unterrichten ebenso verloren gegangen wie der Spaß im Leben.
Martin scheint es von allen am schlimmsten erwischt zu haben. In den Augen seiner Schüler ist er nur noch eine Witzfigur, der heute nicht einmal mehr weiß, was er gestern noch unterrichtet hat. Zuhause ist er ein Gespenst in den eigenen vier Wänden, weder seine Frau noch seine beiden Söhne interessieren sich für ihn. Und auch bei Nikolajs Geburtstagsfeier in einem Spitzenrestaurant sitzt er zunächst recht unbeteiligt am Rand, während sich Tommy, Peter und Gastgeber Nikolaj ein ums andere Mal edle Tropfen gönnen. Als sie ihn auf seine schlechte Stimmung ansprechen, brechen seine Selbstzweifel aus ihm heraus. Da kommt Nikolaj mit der Theorie des norwegischen Psychiaters Finn Skårderud um die Ecke, dass der Mensch mit einem halben Promille zu wenig geboren sei. Ein entsprechend permanent erhöhter Pegel würde zu mehr Produktivität, Kreativität und Zufriedenheit beitragen.
Die vier Freunde starten ein Experiment, um zu beobachten, ob ein maßvoller Rausch ihre persönlichen und sozialen Fähigkeiten steigert. Sie beschließen, regelmäßig zu trinken: immer bis zu einem bestimmten Pegel, nur in der Woche und nie nach 20 Uhr. »Wir bestimmen selbst, wann wir trinken wollen. Ein Alkoholiker kann nicht anders«, beruhigen sie sich selbst. Um dem ganzen einen wissenschaftlichen Anstrich zu geben, protokollieren sie ihre Wahrnehmungen akribisch.
Mit dem Vorhaben, alkoholisiert durch den Tag zu gehen, begeben sich die vier Freunde auf die Spuren von Hemingway, Churchill, Jelzin, Sarkozy und anderen berühmten Alkoholikern, die Vinterberg in einer Art Galerie in seinen Film verewigt hat. Tatsächlich werden die vier Freunde zunächst entspannter, offener und mutiger. Dank unkonventioneller Lehrmethoden erreichen sie ihre Schüler wieder, Martins Geschichtsunterricht wird zu einem aufregenden Lauf durch die Weltgeschichte, Peters Musikunterricht zu einem harmonischen Erlebnis und Tommy schafft im Sportunterricht echten Teamgeist. Und auch auf privater Ebene zeigt das Experiment Wirkung. Martin scheint seine Ehe wieder in den Griff zu bekommen und als die Familie einen Ausflug macht, scheinen alle Sorgen verflogen.
Doch so wie dauerhafter Alkoholkonsum unweigerlich in den Abgrund führt, läuft auch das Experiment mit der Steigerung auf den »maximalen Promillewert« aus dem Ruder. Mads Mikkelsen, der schon in Vinterbergs »Die Jagd« als Lehrer unter Pädophilieverdacht (und in zahlreichen anderen Filmen, etwa den Komödien des Dänen Anders Thomas Jensen) brillierte, spielt sich hier die Seele aus dem Leib und beweist, dass er einer der Besten seiner Generation ist. Seine intensive Verkörperung gibt dem Film eine psychologische Tiefe, die sich in den meditativen Bildern von Sturla Brandth Grøvlen – der als Kameramann von Sebastian Schipper für seine Performance in »Victoria« mit dem Silbernen Bären ausgezeichnet wurde – spiegelt.
Wirklichkeitsnahe Stoffe liegen dem Dogma-Mitbegründer Vinterberg einfach am besten. In »Kolektivet« hatte er die Erinnerungen an seine Kindheit in der Kommune verfilmt, nun verarbeitet er den enormen Alkoholkonsum – selbst unter Jugendlichen, wie die Eingangsszene zeigt – in seiner Heimat Dänemark. »Das ganze Land säuft ja wie verrückt«, heißt es dazu im Film. Der ist keine moralische Belehrung, sondern eine grandiose Hommage an das Leben, die kein Tabu scheut und gerade deshalb überzeugt. Zugleich wahrt der Film immer den optimistischen Blick. Er feiert das Leben und die Freiheit, auch wenn diese manchmal in den Exzess führen. In Cannes, wo er im letzten Jahr im Wettbewerb hätte laufen sollen, hätte der Film bei den Palmen sicherlich eine Rolle gespielt.
Das ist auch deshalb eine Meisterleistung, weil der Film mit einer Tragödie verbunden ist. Kurz vor den Dreharbeiten kam Vinterbergs Tochter bei einem Autounfall ums Leben, sie sollte eigentlich eine Rolle in dem Film übernehmen. Dennoch entschied sich der Regisseur, weiterhin mit der Klasse seiner Tochter zu drehen – ein emotionaler Balanceakt, den der Däne meisterhaft bewältigt hat. »Der Rausch« sein ein Film, der vom Herzen komme, kommentiert Vinterberg seinen Film, der eine berührende und bei aller Tragik witzige Ode an das Leben ist. Und eine Hommage an Ida Vinterberg.
Eine kürzere Fassung des Textes ist im Rolling Stone 5/21 erschienen.
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