Wesen von der anderen Seite drängen in Taiyo Matsumotos »GoGo Monster« in die Welt eines Jungen. Was nach »Stranger Things« und »Dark« klingt, entpuppt sich als berührende Geschichte vom Ende der Kindheit.
Seit Mitte der achtziger Jahre arbeitet der Japaner Taiyo Matsumoto an seiner eigenen Manga-Welt. Arbeiten wie die preisgekrönte SciFi-Yakuza-Dystopie »Tekkon Kinkreet«, die auch den Weg ins Kino gefunden hat, oder die eintausendseitige Tischtennis-Oper »Ping Pong« sind längst Kult- und Kulturgut der japanischen Comickunst. Seit zehn Jahren entsteht zudem seine eindrucksvolle Serie »Sunny«, in der aus der Perspektive von verschiedenen Kindsköpfen vom Leben in Kinderheimen erzählt. Genau zwischen diesen Werken ist das surreale Märchen »GoGo Monster« entstanden und tatsächlich kann man es als eine Art Brückenwerk zwischen seinen Sport- und Actioncomics der frühen Jahre und der autobiografisch motivierten Kinderheim-Erzählung verstehen.
Im Mittelpunkt von »GoGo Monster« steht der Schüler Yuki Tachibana, der in einer etwas anderen Welt lebt. Denn er fühlt sich umgeben von übernatürlichen Wesen, die er in Pfützen, Wassertropfen oder Spiegellungen erkennt. Zum Anführer dieser »GoGo Monster«, den er Superstar nennt, hat er eine ganz besondere Beziehung, ihn hat er schon wie einen steten Begleiter wahrgenommen. Seine Monster reichen Yuki, an seinen Mitschüler:innen hat er kaum Interesse. Einzig der Hausmeister, ein kantiger Typ namens Gantz, der an den Steinbeißer aus der Verfilmung von Michael Endes »Unendlicher Geschichte« erinnert, kann sein Interesse auf sich ziehen.
Im neuen Schuljahr bekommt Yuki nun einen neuen Banknachbarn. Makoto Suzuki erfährt auch gleich von Yuki, dass er auf alle anderen keine Lust hat und es ihm egal ist, dass sie ihn ärgern. Denn zum einen findet er es schwer, »mich auf Idiotenlevel zu unterhalten« und zum anderen hat er ja Superstar und Co, die er im gesperrten dritten Stock in seiner Schule vermutet. Entsprechend erbost ist er, wenn die Jungs seiner Klasse da oben ihre Schmuddelhefte verstecken oder die Mädchen dort die Toiletten frequentieren. Denn ewig lassen sich die »Wesen auf der anderen Seite« das nicht gefallen, erklärt er Makoto. Im dritten Stock sei alles voller »dunkler Magie«.
Dem neuen Schüler fällt aber auch auf, dass Yuki immer wieder zum Hausmeister geht. Als er ihn darauf anspricht, erklärt ihm Makoto, dass Gantz nicht wie die anderen Erwachsenen sei. An denen habe er nämlich gar kein Interesse. »Wenn man erwachsen wird, löst man sich im Inneren zu Brei auf und das Gehirn wird hart wie Stein. Und im Inneren wimmelt’s dann vor Würmern, und man riecht irgendwie komisch.«
Dass Yuki immer mehr den Bezug zur Wirklichkeit verliert, fällt auch den Lehrer:innen der Schule auf. Einzig Gantz hält es für möglich, dass Yukis Monsterfantasien nicht aus der Luft gegriffen sind. Denn es gab auch schon vorher Schüler:innen, die von ähnlichen Wesen berichteten. »Bemerkenswert ist, dass sich die Geschichten in vielen Punkten ähnlich sind. Zum Beispiel, dass die unsichtbaren Wesen gern Streiche spielen, dabei aber nie den Bogen überspannen. Oder dass sie einen Anführer haben, der mit absoluter Macht herrscht.« Diese Erfahrung lässt ihn auch gelassen auf Yuki und dessen Monster schauen.
Von Yukis Parallelwelt unbeeindruckt ist Sasaki, ein weiterer Sonderling der Schule. Der hochintelligente Junge wird von allen nur IQ genannt. Sein Spleen besteht darin, dass er eine Papiertüte über dem Kopf trägt und die Welt nur durch ein kleines Loch betrachtet. Er ist so klug, dass er problemlos auf eine bessere Schule wechseln könnte, aber da er dafür seinen papiernen Schutzhelm abnehmen müsste, bleibt er lieber an der Asahi-Grundschule. Statt mit seinen Klassenkamerad:innen beschäftigt er sich ohnehin lieber mit den Schulkaninchen – vor allem mit einem kleinen weißen Karnickel, das er Yuki nennt.
Yuki wiederum hat das Gefühl, dass im Vergleich zum letzten Schuljahr der Kontakt zu seinen Monstern nachlässt. Nachdem er erst überall Dinge gesehen und Signale gehört hat, sucht er nun händeringend nach Zeichen ihrer Existenz. »Ich spüre sie immer weniger. ich bin kurz davor, erwachsen zu werden. Ich verwese und werde hart wie Stein. Nicht mehr lange, und ich kann gar nichts mehr sehen«, kommentiert er beunruhigt, was in ihm vorgeht. Zugleich befallen ihn mehr und mehr surreale Tagträume, in denen seine Mitschüler:innen Blüten statt Köpfe auf ihren Hälsen tragen oder die Rede eines Lehrers in eine Hasstirade ausufert, die in seinem Kopf tobt.
Während Yuki immer mehr den Kontakt zu seinen Monstern verliert, verschwindet auch das weiße Kaninchen gleichen Namens. Beides, sowohl der schwindende Glaube an die Kräfte übernatürlicher Wesen als auch das verlorene Kaninchen (Lewis Carroll lässt grüßen), sind Symbole der zu Ende gehenden Kindheit, die sich thematisch – wenngleich höchst unterschiedlich – durch alle Werke des Japaners Taiyo Matsumoto zieht. Sowohl im Zentrum seiner frühen Yakuza-Dystopie »Tekkon Kinkreet« als auch in seinem Lebenswerk »Sunny« stehen Kinder im Mittelpunkt. Da zwei ungleiche Brüder und ihr vorbehaltloser Blick auf die düstere Welt, dort die Perspektiv einer Handvoll Heimkinder auf das Leben am Rand der Normalität. Zwischen diesen beiden Polen – hier die düstere Zukunftsvision, dort das realistische Erinnerungswerk – bildet diese in realistischer Umgebung angesiedelte Geschichte mit ihren surrealistischen Momenten eine Art Brücke, über die der Japaner im Laufe der Zeit gegangen ist. Seine Hauptfigur Yuki steht mitten auf dieser Brücke, den Kopf noch in den hohen Lüften der Poesie, die Füße schon auf dem Boden der Realität.
Auch von der Entstehung her bildet »GoGo Monster« eine Art Scharnier. Nachdem »Tekkon Kinkreet« und »Ping Pong« für klassische Manga-Magazine unter Zeitdruck entstanden sind, hatte er für diese magisch-realistische Coming-of-Age-Parabel drei Jahre lang Zeit, an »Sunny« arbeitet er seit nunmehr zehn Jahren. Doch die viele Zeit hätte hier fast dazu geführt, dass sie nie erschienen wäre, wie er in einem Gespräch mit der Mangaka Fumiko Takano einräumte. Er habe permanent Seiten überarbeiten wollen, weil er sie nicht zu bestimmten Zeitpunkten weitergeben musste. Es habe gar überlegt, es gar nicht zu publizieren, wovon ihn seine Verleger zum Glück abgehalten haben.
Ein Glück ist auch, dass die Geschichte eine Heimat wie den Berliner Reprodukt-Verlag gefunden hat, der aus dem Buch mit edel gestalteter Schnittkante und repräsentativem Schuber alles rausholt.
Die kindliche Fantasie ist Matsumotos Schaffen eingeschrieben, zum Teil sogar ganz direkt. So wie der Nissan Sunny in seiner Heim-Serie mit Willenskraft fährt, so ist es auch die Willenskraft, die Yuki die Monster sehen lässt. »Alles, was wir sehen, ist Einbildung«, flüstert Yuki Makoto zu, als der fragt, wie er Superstar und die anderen Monster eigentlich erkennt. Natürlich ist es Einbildung, was wir hier sehen. Aber eine, die hier durch kluge Dialoge, klare Bildsprache und geschickte Seitenarchitektur vermittelt wird. Stilistisch ist er hier so nah wie in keinem seiner anderen, in deutscher Übersetzung vorliegenden Werke an seinem großen Idol Katsuhiro Otomo dran und konsequent hält er die kindliche Perspektive. Absolut bewundernswert.
»GoGo Monster« ist eine große Parabel auf die kindliche Offenheit gegenüber der Welt, auf die Fantasie und die Möglichkeit, dass Dinge möglich sind, die wir uns rational nicht erklären können. Matsumotos bereits vor zwanzig Jahren veröffentlichter Comic ist aber auch ein wehmütiger Abschied der Kindheit und damit einer Welt, die noch nicht aller Wunder und Zauber beraubt ist.
[…] 1.000-seitige Tischtennis-Epos »Ping Pong«, das noch einen deutschen Verleger sucht, danach sein surrealer Geniestreich »GoGo Monster«, der erst im Sommer bei Reprodukt erschienen ist. Darin erzählt er die Geschichte von Yuki […]