Comic

Kinder mit Star-Appeal

Taiyo Matsumoto ist ein außergewöhnlicher Manga-Zeichner, dessen Herz insbesondere für Kinder schlägt. Sein Meisterwerk, die sechsteilige Kinderheim-Serie »Sunny«, ist der beste Beweis. Dank engagierter Comicverlage können seine magisch-realistischen Werke auch über »Sunny« hinaus endlich auch hier entdeckt werden.

»Wer traurig ist, der geht zu Sunny. Hier dürfen nur wir Kinder rein«, sagt der junge Sei routiniert zu dem Neuankömmling Toru, obwohl er selbst erst ein paar Wochen im »Star Kids«-Kinderheim ist. Der sonnengelbe Nissan Sunny 1200 ist nicht nur Namensgeber für Taiyo Matsumotos persönlichste Erzählung, sondern auch Rückzugsort für die heranwachsenden Sternenkinder. Der stille Kenji sucht den abgestellten Wagen auf, wenn er von seinem alkoholkranken Vater zurückkommt und einmal mehr begreift, dass es keinen Weg zurück gibt. Der weißhaarige Springinsfeld Haruo fährt dank Willenskraft im Sunny vor seiner tiefen Traurigkeit davon, die er hinter dicken Sonnenbrillengläsern zu verstecken sucht. Und auch Bücherwurm Sei zieht sich in das stillgelegte Auto zurück, um in Ruhe zu beweinen, dass ihn seine Mutter aller Versprechungen zum Trotz nie mehr abholen wird. »Im letzten Brief von Mama steht: Ich komme dich bald abholen. Aber ich will mir keine falschen Hoffnungen machen. Wenn man belogen wird, tut es noch mehr weh.«

Taiyo Matsumoto: Sunny 1. Aus dem Japanischen von Martin Gericke. Carlsen Verlag 2020. 224 Seiten. 16,00 Euro. Hier bestellen.

»Sunny« ist die melancholischste und klarste Erzählung des japanischen Comiczeichners Taiyo Matsumoto, der in seiner Heimat ein Star ist und hier seit wenigen Jahren entdeckt wird. In der auf sechs Bände angelegten Serie verarbeitet er seine Zeit im Kinderheim, wo er als Kind einige Jahre lebte. »Es gibt Teile, die meinen eigenen Erfahrungen sehr nahe kommen, aber andere Teile wurden erfunden. Eigentlich wollte ich es anfangs autobiografischer machen, aber das habe ich nicht hinbekommen, also wurde es halb real und halb erfunden«, sagte er vor Jahren dem japanischen Magazin »Time Out«.

Man muss kein Psychologe sein, um in seiner bewegenden Comicerzählung auch einen Umgang mit den eigenen Erinnerungen zu erkennen. »Wenn ich etwas zeichne, das tatsächlich passiert ist, ist es für mich, als ob das Kind auf der Seite wirklich existiert. Ich zeichne eine Szene mit einem weinenden Kind, und ich bin mir nicht sicher, ob es das Kind ist, das weint oder ich selbst. Das habe ich noch nicht erlebt«, räumt er im gleichen Interview ein.

Larmoyant ist die Serie indes keineswegs, aber unheimlich empathisch. Dies wird in jeder einzelnen Geschichte, mit der wir die Kinder immer besser kennenlernen, deutlich. Schon den sechs Deckblättern der im Original vor Jahren abgeschlossenen Serie kann man entnehmen, dass Matsumoto seine Figuren am Herzen liegen. Deshalb hat er sie auf die Cover gehoben. Auf den drei bereits erschienenen Bänden sind Haruo, Sei und Kiko abgebildet, auf den drei noch ausstehenden werden Taro, Junsuke und Megumu sein. Die sechs sind – abgesehen von dem titelgebenden Auto, das über die sechs Bände hinweg zum heiligen Ort wird – die wichtigsten, wenngleich nicht die einzigen Protagonisten in der Kinderheim-Serie des Japaners.

Taiyo Matsumoto: Sunny 2. Aus dem Japanischen von Martin Gericke. Carlsen Verlag 2020. 224 Seiten. 16,00 Euro. Hier bestellen.

Haruo begegnet uns als lebendiger Sunnyboy, der sich wo auch immer es geht für seine Freunde einsetzt. In ihm wohnt aber auch ein tiefer Schmerz über die Distanz seiner depressiven Mutter, die ihn, gefangen in ihren Depressionen, irgendwann bitten wird, sie nicht mehr Mama zu nennen. Sei ist eine in sich gekehrte Leseratte, den seine Eltern vorübergehend unterbringen wollen, um ihr Leben zu sortieren. Als aus Wochen Monate machen, beginnt er, andere Neuankömmlinge an seiner Erfahrung teilhaben zu lassen: »Mit der Zeit gewöhnt man sich ans Traurigsein. Ich glaube, nach einer Weile tut dein Herz nicht mehr ganz so doll weh.«

Kiko, Megumu und Shosuke sind die verträumten Mädchen bei den Sternenkindern. Ihre Geschichten sind allesamt voller Tragik, überraschenderweise finden sie dennoch einen nahezu souveränen Umgang mit ihrem Schmerz. In den Hahnenkämpfen der Jungs erkennen sie weise deren Traumata. Der tapsige Zeitgenosse Taro gleicht sein Spatzenhirn durch ein Elefantenherz aus und wird gleich im ersten Band zum heimlichen Helden, als er die kleine Shosuke wiederfindet. Junsuke wiederum ist eine Rotznase, der die Finger nicht von fremder Leute Dinge lassen kann und sich so ständig Ärger einhandelt. Er kümmert sich um seine kleine Schwester Shosuke, während ihre Mutter mit einer schweren Krankheit zu kämpfen hat.

Taiyo Matsumoto: Sunny 3. Aus dem Japanischen von Martin Gericke. Carlsen Verlag 2020. 224 Seiten. 16,00 Euro. Hier bestellen.

Neben den sechs Cover-Kindern nicht vergessen darf man den verschlossenen Kenji, der aufgrund seiner Leidenschaft für Schmuddelheftchen auch Porno-Kenji genannt wird. Nicht nur die Mädchen des Kinderheims liegen dem kühlen Jungen zu Füßen, doch auch das kann sein Leben nicht versüßen. Denn ständig muss er an seinen alkoholkranken Vater und die Auseinandersetzungen mit seiner Mutter denken.

Zu diesen Kindern kommen noch noch die Erwachsenen. Herr Adaki und Frau Mistuko, die das Heim leiten, sowie Opi, ein Ruhepohl inmitten der quirligen Kinderschar, dessen herz immer für die Kinder schlägt. Das kann man auch von Makio behaupten, dem volljährigen Sohn von Herrn Adaki, der als erster Erwachsener in Band drei ein eigenes Kapitel erhält. In diesen erwachsenen Figuren blitzt immer wieder Mitgefühl und Fürsorge, Menschlichkeit und Menschenkenntnis auf, die diese Geschichte so einmalig und intensiv machen.

»Sunny« ist erzählerisch kein klassischer Manga. Es gibt nicht viel Aktion oder Bewegung, die Geschichte fließt eher wie ein stiller Strom vor sich hin. Dieser stetige Fluss zieht aber die Aufmerksamkeit tief in sich hinein. Das erklärt auch die meditative Wirkung dieser Geschichte. Zugleich wahrt Matsumoto stilistisch klassische Manga-Elemente. Er nutzt ganze Seiten, um Atmosphäre und Dynamik zu schaffen, setzt mit seinen Panels Akzente, um Rhythmus und Szenerie zu gestalten, statt sie mit Dialogen zu überfrachten. Zugleich entziehen sich seine Figuren dem typischen Manga-Stil. Statt ihnen weiche, süße Konturen zu geben, haben sie zuweilen sogar etwas Fratzenhaftes. Nicht im schlechtesten Sinn, sondern als Zeichen der Extreme.

Der alte Nissan Sunny und die jungen Bewohner des »Star Kids«-Kinderheims

Matsumoto wollte als Kind eigentlich Profisportler werden, doch als sein Fußballteam eines Tages haushoch verlor, wusste er, dass er einen anderen Plan brauchte. Sein Cousin, der Mangazeichner Santa Inoue, empfahl ihm, Comiczeichner zu werden, aber »ich war mir sicher, dass ich Mädchen damit nicht sonderlich beeindrucken würde«, so Matsumoto. Bis er eines Tages die Arbeiten von Katsuhiro Otomo entdeckte, dem Erfinder der legendären »Akira«-Comics. Darüber hinaus haben ihn die Arbeiten von Jiro Taniguchi, Minetaro Mochizuki, Fumiko Takano und Seiki Tsuchida geprägt. Aber nur bei Otomo gerät er bis heute ins Schwärmen: »Es sah cool aus, aber es steckte mehr dahinter: Es war, als würden sich die Bilder bewegen, und die Dialoge hörten sich natürlich an. Es war nicht die Manga-Welt: Es war näher an der realen Welt.«

Dieser realen Welt hat er sich langsam angenähert. Seine ersten Comicerzählungen handeln von einem in die Jahre gekommenen Baseball-Spieler und einem Boxer am Karriereende. Die anschließende Comicserie »Hanaotoko«, die von einer Familie am Meer erzählt, hat ihn selbst ans Meer geführt. Seit 30 Jahren lebt er mit seiner Frau, der Mangaka Saho Tōno, die für die weiblichen Charaktere in »Sunny« verantwortlich ist, auf der Halbinsel Enoshima südlich von Tokio. Schon in diesen ersten Arbeiten werden die ästhetischen Einflüsse europäischer Zeichner wie Moebius und Enki Bilal sichtbar, deren Werke er in den 80ern auf einer Europareise begeistert entdeckt hat. Das erklärt auch seinen Hang zu Hard-Boiled-Stories. Moebius Klassiker »Incal« und »Arzach« haben ihn auch grafisch beeinflusst, in der besonderen Art und Weise, wie Moebius den Raum nutzt, um seine Geschichte in Szene zu setzen.

Seinen Durchbruch als Zeichner feierte er mit dem grandiosen Yakuza-Noir »Tekkon Kinkreet«, der vor Jahren bei Cross Cult Comics erschien. Die in 33 Kapiteln erzählte Hard-Boiled-Dystopie handelt von den Brüdern Kuro und Shiro, die in Takara Town der Halbwelt den Kampf ansagen. Nicht Moral, sondern Überlebenswille treibt sie an, denn in der fiktiven vergnügungssüchtigen Trabantenstadt herrscht das Recht des Stärkeren. Matsumotos gezeichneter Schlag in die Fresse der japanischen Leistungsgesellschaft wurde erst im Nachhinein zum Kult. Künstler, Musiker und Filmemacher begannen, sie aufgrund ihrer zahlreichen popkulturellen Anspielungen weiterzuempfehlen. 2008 gewann er mit der Geschichte einen Eisner Award, den Oscar der Comicszene.

Es folgte das 1.000-seitige Tischtennis-Epos »Ping Pong«, das noch einen deutschen Verleger sucht, danach sein surrealer Geniestreich »GoGo Monster«, der erst im Sommer bei Reprodukt erschienen ist. Darin erzählt er die Geschichte von Yuki Tachibana, in dessen Welt »Wesen von der anderen Seite« spuken, angeführt von einem allmächtigen »Superstar«. Wie seine Mitschüler Makoto und Sasaki gehört er zu den Sonderlingen an der Schule, für die nur Hausmeister Gantz Sympathien hegt. »Wenn man erwachsen wird, löst man sich im Inneren zu Brei auf und das Gehirn wird hart wie Stein. Und im Inneren wimmelt’s dann vor Würmern, und man riecht irgendwie komisch«, sagt Yuki zu Makoto.

Taiyo Matsumoto: Sunny 4. Aus dem Japanischen von Martin Gericke. Carlsen Verlag 2020. 224 Seiten. 16,00 Euro. Hier bestellen.

Wenn er sich nicht Geschichten des Sports widmet, sind es Kinder, die (sich durch) die Welten des Japaners bewegen – zumindest die, die bislang in deutscher Übersetzung vorliegen. Diese Geschichten lassen uns mit Kinderaugen auf die Welt blicken und – ohne anzuklagen – begreifen, was wir in ihren Seelen anrichten, wenn wir sie ungeschützt dieser Welt ausliefern. Sie wecken aber auch das Kind in uns, die Füße auf dem Boden der Realität, den Kopf aber in den Wolken der Fantasie.

Seine mit Abstand bewegendste Geschichte hat Taiyo Matsumoto mit der »Sunny«-Reihe vorgelegt. In einem Interview mit dem Radiosender Franceinfo findet sich ein Erklärungsansatz, warum diese Geschichte so zu Herzen geht. Dort erklärt er, dass er den Blick von Erwachsenen auf Kinder nicht mag. »In meinen Arbeiten werden Kinder aus kindlichem Perspektive dargestellt, ich bleibe auf Augenhöhe der Kinder, und bin froh, dass mir das gelingt.«

Ende Oktober erscheint Band vier von sechs, auf dem Cover wird der gewichtige Taro sein. Für alle, die sich noch nicht diesem Meisterwerk gewidmet haben, ist noch genug Zeit, bis dahin den Sternenkindern im Heim von Herrn Adaki mit den ersten drei Bänden hoffnungslos zu verfallen.