Julia Ducournaus Cannes-Sieger »Titane« ist ein brutales Drama, das die Grenzen von Gender und sexueller Identität in Körperhorror auflöst. Ein Horrorfilm, wie von vielen attestiert, ist es dennoch nicht.
Dieser Film ist nichts für sensible Gemüter. Mehr als einmal lassen einen die schonungslosen Bilder, mit denen Julia Ducournau ihren irren Mix aus fesselndem Familiendrama und Fantasy erzählt, im Kinosessel zusammenzucken. Etwa wenn Alexia – flirrend gespielt von Agathe Rouselle, selbst erklärt nichtbinäre:r Künstler:in – mit der Autotür einem übergriffigen Typen auf dem leeren Parkplatz eines Messezentrums zu Leibe rückt, bis nichts mehr von ihm übrigbleibt. Oder wenn sie im Mordrausch ihren Opfern eine Haarnadel ins Hirn treibt, um ihnen das Leben auszuhauchen. Alexias Brutalität ist grenzenlos, weil sie von klein auf in emotionaler Kälte aufgewachsen ist.
Der Film beginnt mit einer Szene, in der sie einen Autounfall auslöst, weil sie mit allen Mitteln die Aufmerksamkeit ihres kalten Vaters bekommen möchte. Nach dem Unglück muss ihr eine Titanplatte in den Schädel eingesetzt werden. Diese scheint eine psycho-emotionale Kettenreaktion auszulösen, die einerseits zu einer körperlichen Affinität für Fahrzeuge führt und andererseits zu einem Hass auf alles Menschliche. Beides kann man bei der erwachsenen Alexia beobachten. Auf Autosalons räkelt sich die Erotiktänzerin halbnackt auf glänzenden Motorhauben, in ihrer Freizeit zieht sie mordend durch die Lande.
Während ihre Vernichtungsfeldzüge an so manchen Film von Quentin Tarantino erinnern, schafft Ducournau gemeinsam mit Hauptdarsteller:in Rouselle eine Figur, die es so noch nicht in der Filmgeschichte gegeben hat. Als Mensch ungreifbar, als Monster überwältigend. Um sie noch weiter vom Menschsein wegzurücken, haben Ducournau und Rouselle gemeinsam mit Kameramann Ruben Impens (»The Broken Circle Breakdown«, »Raw«, »Beautiful Boy«) eine in der Filmgeschichte einmalige Sexszene gedreht. Darin reitet Alexia auf der ledernen Rückbank wild und leidenschaftlich eines der glänzenden Fahrzeuge. Die Federung des Fahrzeugs spielt verrückt, während die Erotiktänzerin von den Gurten gehalten wird wie in einer Bondage-Szene. Was geschrieben lächerlich klingt, wirkt auf der Leinwand absolut authentisch und glaubhaft. Selbst noch, als die Wirklichkeit in die Absurdität gesteigert wird. Alexia wird von dem Fahrzeug ein Kind bekommen, ihre schweren Brüste plötzlich schwarzes Motoröl absondern.
Mit allen ästhetischen Mitteln greift Ducournau (»Raw«) die menschliche Vernunft an, um Glaubhaftigkeit herzustellen. Und das gelingt auf fantastische Weise, eben weil sie zu den drastischsten Mitteln greift. Hat man erst einmal akzeptiert, dass eine Welt möglich ist, in der Autos und Menschen eine sexuelle Beziehung eingehen können, kann dieser Film nur noch überwältigen.
Zumal dieser erste Teil, der Alexia gewidmet ist, mit einem nahezu realistischen Drama verwoben ist, das sich anschließt. Denn um nicht als Serienmörderin geschnappt zu werden, vollzieht Alexia eine in jeder Hinsicht extreme Wandlung. Sie schlüpft in die Haut eines jungen Mannes, der seit vielen Jahren als vermisst gilt. Auf einer Flughafentoilette rammt sie ihren Kopf so lange gegen ein Waschbecken, bis ihre Identität nicht mehr erkennbar ist. Alexia wird zu Adrien, dessen Vater Vincent nur allzu gern jemanden in sein schmerzverzehrtes Leben lässt, der den verlorenen Sohn ersetzt.
Adrien zieht in die Dienstwohnung des Feuerwehrmanns ein. Damit betritt die androgyne Figur Alexia:Adrien eine absolute Männerdomäne, in der sie nun überzeugend als Mann auftreten muss. Es ist ein bedrückender Kampf gegen alle Kräfte, die in diesem Charakter streiten. Ein Kampf, der filmisch in der Geschichte von Vincent gespiegelt wird. Denn während Adrien die letzten Spuren von Alexia auszulöschen versucht, versucht Vincent, eindrucksvoll gespielt von Vincent Lindon, das Schrumpfen seiner virilen Männlichkeit mit Steroiden aufzuhalten. Seine geölten Muskeln sollen den Blick in seine Seele verhindern.
Sowohl Alexia:Adrien als auch Vincent ringen mit ihren Rollen und gehen brutal gegen den eigenen Körper vor. Es ist ihr Weg, den seelischen Schmerz, der in ihnen wohnt, auf eine körperliche und damit handhabbare Größe zu reduzieren. Dieser gewaltvolle und in grellen Bildern illustrierte Kampf gegen das Selbst wurde von vielen Kritiker:innen als Körperhorror gelesen, weshalb der diesjährige Cannes-Gewinner von manchen gar als Horrorfilm vorgestellt wird. Georg Seeßlen ergänzt das mit dem Adjektiv »dunkelfeministisch« und zieht Vergleiche zu trashigen B-Movies, »voll mit Sex and Crime, Body-Horror, Drastik und Groteske«.
Falsch ist das nicht. Aber »Titane« hat in der Auslöschung des Körpers als Definitionsmerkmal vor allem etwas zutiefst Visionäres. Der Film setzt die Auflösung der Gendergrenzen, die in den aktuellen Diskursen längst als Modell der Zukunft gehandelt wird, in extremer Form um. In diesem Sinne handelt es sich bei Ducournaus Film eher um einen mit Cyberpunk-Elementen angereicherten Vertreter der Science Fiction. Und das funktioniert deshalb so gut, weil – hier bediene ich mich den Ausführungen von SciFi-Experte Dietmar Dath in dem Gesprächsband »Zahlen sind Waffen« – die Wahl der künstlerischen Mittel (grelle Bilder, schnelle Schnitte, harter Beat, drastische Überzeichnung) von der ersten Szene an die Synapsen zur Rationalität lahm legt und ganz auf Überwältigung setzt.
Alexia:Adrien ist die furchterregende, nicht zu greifende Mensch-Maschine, die seit Mary Shelleys »Frankenstein« durch die Kulturgeschichte geistert. In ihrer einerseits androgynen, andererseits (durch die Schwangerschaft) aber unweigerlich weiblichen Inszenierung erfüllt sie alle Zuschreibung und verweigert sich ihnen zugleich. Dabei bekommt das mobile Monster, das in ihr heranwächst, Züge der unheimlichen Wesen, die in Ridley Scotts »Alien« ihre Wirte aus dem Inneren heraus zerstören (nicht zufällig erinnert das Cyberpunk-Bild der kindlichen Alexia, die grimmig in die Welt schaut, an Sigourney Weavers Begegnung mit dem Monster in »Alien 3«). Die Zerstörung des Körpers nimmt Ducournaus Antiheld:in erst an anderen und schließlich an sich selbst vor. Sie bindet Bauch und Brüste ab, prügelt auf ihren störrischen Körper ein und kratzt sich die Haut bis zur Auflösung auf.
Im französischen Kino haben solch extreme Filme seit jeher einen Platz. Ducournaus Drama reiht sich in seiner radikalen Überzeichnung ein in strittige Meisterwerke wie Marco Ferreris »Das große Fressen« über Mathieu Kassovitz »La Haine« oder »Irreversible« von Gaspar Noé.
Ob dieser Film, der für Frankreich konsequenterweise um die Oscars konkurrieren wird, in den finalen Szenen das Thema der Mensch-Maschine nicht etwas zu lang reitet, sei dahingestellt. Aber diese Geschichte von der Bildung einer titanischen Figur mit Todestrieb hin zur heiligen Mutter einer unheimlichen Mensch-Maschine wirft viele Rätsel auf: Kommen wir jemals aus unserer Haut? Können wir unsere Geschichte abstreifen und neu beginnen? Ist es die Gesellschaft, die die Gewalt gegen den (vorwiegend weiblichen) Körper hervorbringt? Oder ist die Menschheit der Brutalität ihrer Spezies schicksalhaft ausgeliefert? Diese und andere Fragen stellt Julia Ducournau in ihrem ebenso grimmigen wie unvergesslichen SciFi-Drama, das von dem intensiven Spiel der beiden furchtlosen Hauptdarsteller:innen sowie von Ruben Impens flimmernden Bildern getragen wird.
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