Dietmar Dath hält mit Mathematik, Logik und Beweisführung der Gegenwart in der Zukunft den Spiegel vor. Sein neuer Roman »Gentzen oder: Betrunken aufräumen« fragt danach, wie es so weit kommen konnte, dass nicht wir die digitale Welt, sondern die digitale Welt uns in der Hand hat.
»Kunst, die blind ist für die wahre Landschaft, die wir bewohnen – die physische Wirklichkeit im weitesten Sinne –, ist nichts als auf absurde, erbärmliche Weise scheuklappenbelastet und kurzsichtig.« Dieser Satz stammt von dem Australier Greg Egan, einem der anerkanntesten SciFi-Autoren der Welt. Er taucht auch auf in Dietmar Daths Roman »Gentzen oder: Betrunken aufräumen«, zweifellos einer der anspruchsvollsten der zwanzig Titel auf der Longlist des Deutschen Buchpreises.
Gerhard Gentzen war ein deutscher Mathematiker und Logiker, Zeitgenosse von Andrei Kologorow, Kurt Gödel oder Alan Turing. Alle drei arbeiteten unabhängig voneinander vor dem Zweiten Weltkrieg daran, die Grundlagen für die moderne Mathematik zu klären. Sie wollten herausfinden, was man widerspruchsfrei nachweisbar berechnen, also kalkulieren kann? Und weil sich dieser »Kalkülroman« Gentzen auf den Titel schreibt, steckt auch viel von dem drin, was Gentzen beschäftigt hat – nicht im biografischen Sinne, sondern im gestalterischen. Mathematik, Logik und Beweisführung spielen hier eine ebenso große Rolle wie das Ignorieren selbiger und deren fatale Konsequenzen.
In Daths Roman begegnet uns der Mathematiker als Gefangener. Als Vertreter des nazideutschen Lehrkörpers an der deutschen Universität in Prag sitzt er dort kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs im Gefängnis. Denn Gentzen erfüllt alle Anforderungen, um als Nazi zu gelten. Er trat in den 1930ern erst in den NS-Lehrerbund ein, dann in die NSDAP und schließlich in die SA, »weil er sich selbst weismachte, dass man in Deutschlands Größe nicht zum Rechnen, Denken, Arbeiten kommen würde, wenn man nicht irgendeinem Arschlochverein angehörte, der die Wahnideen der Idioten und Verbrecher mit Gewalt gegen zusehends Wehrlose propagierte und durchsetzte«, mutmaßt die Erzählinstanz Dietmar Dath in Dietmar Daths Roman. In der Wehrmacht soll Gentzen kollabiert sein angesichts der Gräuel, die ihm bewusst geworden sein sollen. Ist er also Opfer seiner Zeit? Diese Frage ist nicht mehr zu klären, eindeutig ist nur, dass Genie und Wahn hier nah beieinander liegen. In Kriegsgefangenschaft isst er zu wenig, ein Umstand, dem sein Körper schon bald erliegen wird. Sein Geist aber spukt durch diese Geschichte und wird irgendwann mit Lady Gaga in einer Bar über das Führen von Beweisen sprechen.
Was seinem Kopf entsprungen ist, heißt es gleich zu Beginn des Romans, wird helfen, Computer zu programmieren. Maschinen, »mit denen wir arbeiten, Handel treiben, Forschung, Politik und Kunst, mit denen wir Meinungen machen und sie verbreiten. An einer davon schreibe ich, was du jetzt liest.« Und was man da liest, ist ebenso kühn wie kompliziert. In verschiedenen Erzählsträngen verfolgt der Roman das Schicksal zahlreicher Figuren, die in irgendeiner Form ins Programmieren und die Gestaltung des Internets beziehungsweise deren Folgen verwickelt sind. Wobei schnell deutlich wird, dass die Logik zwar die Frage nach der richtigen Gestaltung von Programmen eindeutig beantworten kann, jedoch nicht, ob diese Programme die richtigen sind, um eine lebenswerte Zukunft zu gestalten.
Dabei erstreckt sich die Handlung vom 17. Januar 1728, als David Hume an einem Vormittag der Gedanke anspringt, »dass kein Sein zum Sollen führt, von den Fakten zu den Werten, von der Forschung zur Moral«, bis zum 23. Mai 2130, in der die Welt eine vollkommen andere ist, in der »Apparate besser denken, mehr empfinden und schöner sprechen als Menschen«. Im Kern geht es aber um die Zeit seit Gentzens Tod und den Ausblick in eine dunkle Zukunft, in der die Menschen mit transgenen CRISPR-Wesen »eine andere Sorte Leben« auf den Planeten losgelassen haben. Wer hier an die Gente aus seinem ebenfalls für den Deutschen Buchpreis nominierten Roman »Die Abschaffung der Arten« denkt, bewegt sich in der richtigen Welt.
Diese Zeit prägt etwa die Informatikerin Constance Griffith, die aus einer Schwarzen Arbeiterfamilie stammt, alles für ihren Aufstieg getan hat und am Ende dennoch einsehen muss, dass sie Ausgrenzung und Rassismus nicht entkommen kann. Nachdem sie jahrelang Informatik gelehrt hat, wird sie sich der Tinker-Community anschließen, einer Art fiktivem Chaos Computer Club, der gegen die kapitalistischen Auswüchse des Programmierens vorgehen wird. Zugleich gibt es in Bettina Willner eine Aktivistin, die eine Gruppe anführt, die sich »Die Internationale« nennt und sich im Untergrund gegen die kapitalistische Weltordnung stemmt. Bettina steht auch in engem Kontakt mit einem gewissen Dietmar Dath, auf dessen Gentzen-Roman sie – so erzählt sie es zumindest der Notwendigkeitsgöttin Ananke – entscheidend Einfluss nimmt. Und ebenjener »Dietmar Dawson Leery Käsekuchen Ersatzschlumpf Ponyfucker Filmkritik Dath« ist nicht nur Teil einer geheimnisvollen Sonderkommission auf der Suche nach einem verschwundenen Mitglied der Tinkers, der mithilfe von Rückwärtsbeweisen (reverse engineering) die verheerende Zukunft noch verhindern könnte, sondern erzählt auch immer wieder vom Alltag in der Redaktion einer großen Frankfurter Zeitung und deren charismatischen Herausgeber, der sich den Kopf über das Internet zerbricht.
Stilistisch ist dieser Roman dezidiert links, wenn nicht gar queer, indem er Minderheitenpositionen in den Vordergrund stellt und sich einer Sprache bedient, die weniger von Eigenschaften als von Zuschreibungen ausgeht. Zudem bedient sich Dath vieler Sprachspiele und Wiederholungen, wobei erste die Potentialität der (Programmier)Sprache belegen, zweite als Anker dienen, um die einzelnen Teile den jeweiligen Erzählsträngen zuzuordnen.
»Denken heißt: betrunken Aufräumen«, heißt es an einer Stelle den Romantitel entschlüsselnd und Aufzuräumen gibt es viel, will man die Geschichte der Logik mit den Versäumnissen der Gegenwart zusammenbringen. Dath geht es um einen Prozess, denn er »die Zerstörung der Vernunft« nennt. »Die erste Zerstörung der Vernunft kulminiert im wahnsinnig gewordenen Gesellschaftsdenken und betrifft die Verhältnisse zwischen den Menschen, das ist die faschistische Ideologie, besonders die der Nazis. Die zweite aber kulminiert in der Zerstörung der naturwissenschaftlichen Forschung und schlägt direkt durch ins Verhältnis zu Natur, Klima und so weiter.«
Die Folgen, so legt es uns seine diffuse Erzählinstanz nahe, sind fatal. Dass die Technologie nicht mehr im Dienst der Menschheit, sondern der Konzerne steht, liege daran, dass sich selbst die klügsten Leute nur widerwillig und ungenügend mit den theoretischen Grundlagen der Welt befasst hätten. So sei ihnen entgangen, wie sich Konzerne mit Algorithmen die Welt untertan gemacht und einer Zukunft den Weg bereitet hätten, die uns zu entgleiten droht. »Nicht, weil sie blöd wären – es ist nicht schwieriger zu lernen als alles, was selbst die Blödesten von ihnen wussten – sondern weil sie sich nicht interessierten. Nein warte… weil anderes sie mehr interessierte … Soziale Netzwerke. Kaufen. Verkaufen. Rassismus. Antirassismus. Geschlechterstreit.« Alle wollen Fortschritt, doch die wenigsten machen sich die Mühe, über die Konsequenzen des Machbaren nachdenken. Jeff Bezos, Steve Jobs, Bill Gates, Mark Zuckerberg und Co sind die Profiteure dieser Naivität.
Intellektuelle Bequemlichkeit und Wissenschaftsfeindlichkeit (Stichwort: Corona, Klimawandel, Überwachung, Waffentechnik) spielen den neoliberalen Technologiefantasien also in die Hände. Denn wenn die einen einen keine Lust haben, die Welt zu verstehen, während die anderen, die sie verstehen, dieses Verszändnis nur zu ihren Gunsten auslegen, führt das in den gesellschaftlichen Abgrund.
Hier hilft die Logik insofern weiter, als dass die Verhältnisse von Kapitalismus und Zerstörung deutlich gemacht werden können im Sinne von A impliziert B, wenn A die kapitalistische Vergesellschaftung ist und B »Krisen, Kriege, Kapitalkonzentration, Monopole, Zerstörung der lebendigen Arbeit, der natürlichen Lebensgrundlagen, der Gebrauchswerte und der Voraussetzungen für Existenz und Reproduktion des Kapitals wie der gesamten Menschheit«. Oder um es mit dem unlängst erschienen Gesprächsband mit Sybille Berg, Jens Balzer, Lars Weisbrod, Thomas Vašek und Maja Beckers zu sagen: »Zahlen sind Waffen«!
»Gentzen oder: Betrunken aufräumen« ist voller Meta-Ebenen und literarischer Verweise auf Philosophie, Wissenschaft, SciFi, Popkultur (Oliver Scheibler, der Zeichner seines Comics »Mensch wie Gras wie« ist auch wieder mit dabei) und Journalismus. Und natürlich der Mathematik, wobei Dath hier auf Teile seines vergriffenen Werks »Höhenrausch. Die Mathematik des XX. Jahrhunderts in zwanzig Gehirnen« zurückgreifen kann, aber auch sein Roman über die Suche nach dem Physiker Paul Dirac taucht auf. Überhaupt bedient er sich im eigenen Werk, zum Teil sind ganze Passagen aus anderen Texten – etwa seiner Schreiblehre »Stehsatz« – übernommen respektive bedienen sich diese Texte im Roman. Und ein Blick in seine möglicherweise noch Geschichte »Hoffnung ruft Angst«, die in der hervorragenden Anthologie »2029 – Geschichten von morgen«, in der auch Emma Braslavskys Vorlage für Maria Schraders Oscar-Kandidaten »Ich bin dein Mensch« enthalten ist, lohnt sich ebenfalls.
Man muss sich Daths Erzählen wie ein Möbiusband vorstellen, auf dem es weder Innen noch Außen gibt beziehungsweise auf dem alles sowohl Innen als auch Außen ist. So schafft er nicht nur Welten, die auf magische Art realistisch und spekulativ zugleich sind. Dath entlässt seine Fiktionen in die Wirklichkeit und holt die Wirklichkeit in die Fiktion, ohne dass man sie noch voneinander trennen könnte. Und denkt dabei über das Erzählen nach: »Ein Erzähltext ist kein Beweis, oder? Ist das Leben einer? Ist das Leben eher Beweis oder eher Erzählung?«
Auch Genregrenzen sind schwer zu ziehen. Seine spektakuläre Poetologie der Science Fiction namens »Niegeschichte« sei zwar in Gestalt einer Abhandlung erschienen, es handle sich aber eigentlich um einen »Roman meines Bewusstseins auf der Reise durch die Science Fiction«, gesteht er in seiner Schreiblehre.
In »Gentzen oder: Betrunken aufräumen« treffen erzählende Kapitel auf essayistische Passagen und kühn-spekulative Visionen. Ein klassischer Roman ist das nicht. Vielleicht Hybridprosa, so wie sie auch der diesjährige Büchner-Preisträger Clemens J. Setz in seinem jüngsten Buch »Die Bienen und das Unsichtbare« praktiziert hat.
Sein Prinzip, theoretische und philosophische Ansätze als Katalysator zu verwenden, um eine Haltung zur Gegenwart zu entwickeln, betreibt er schon seit über 25 Jahren. 1995 erschien sein Debütroman »Cordula killt dich« im damals neu gegründeten Verbrecher Verlag, der das vergriffene Werk nun neu auflegt. Schon dort griffen Realität und Fiktion stilistisch kühn ineinander. Titelfigur Cordula Späth verschwindet dort nach einem Sturz aus dem Fenster und geistert seither – nicht als einzige Dath-Figur – durch das Werk des Freiburgers. Auch durch den Gentzen-Roman, in dem sie die Wirklichkeit von ihrem »viewpoint außerhalb der Zeit« betrachtet.
Daths Kritiker werfen ihm immer wieder Theoriehuberei vor, von Pein und Qual der Lektüre ist da die Rede. Das bestätigt seine Analyse der »Zerstörung der Vernunft«, die Denkfaulheit, die Berufs- wie Hobbykritiker:innen angesichts seiner zweifelsohne herausfordernden Texte überkommt. Diese wohlfeile Empörung des (Pseudo)Feuilletons darüber, dass er sich die Freiheit nimmt, seine Romane in jeder Hinsicht ausufern zu lassen, wirkt wie ein eifersüchtiger Beißreflex auf die Erkenntnis, dass ihnen da einer Kopfschmerzen bereitet, die sie selbst – tätig in den Zwangsmühlen des Kapitalismus – niemandem mehr zumuten dürfen. Aber wenn Kunst abgesprochen wird, andere zum (angestrengten) Nachdenken aufzufordern, dann ist der Weg zu einer erneuten Zerstörung der Vernunft nicht mehr weit.
Daths Literatur ist daher ein hochwirksames Antidot zum geistigen Verfall und sein neuer Roman »bestimmt kein Gentzen-Buch« im herkömmlichen Sinne, aber eines, dass uns über den Wert von Logik und Theorie neu nachdenken lässt.
Dieser Beitrag erschien in kürzerer Form im Freitag, Ausgabe 39/2021.
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