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Leipzig überrascht

Wie in jedem Frühjahr hat die Jury zum Preis der Leipziger Buchmesse 15 Titel in das Schaufenster gestellt, die um den begehrten Preis konkurrieren. Dabei setzt die Jury mehrere Ausrufezeichen und macht einen großzügigen Bogen um die Konzernverlage, die den Messeausfall provoziert haben. Der Preis wird trotz Ausfall der Messe im März vergeben.

Diese Liste wird viele überraschen. Die Jury um Insa Wilke legt knapp zwei Wochen nach der Absage der Leipziger Buchmesse ihre Nominierungen für die drei Literaturpreise der Messe vor und wird damit sicher die nächsten Debatten verursachen. Schaut man aufmerksam hin, sticht ins Auge, dass die Konzernverlage, die mit all ihrer Marktmacht die Frühjahrsmesse in die Knie gezwungen haben, kaum eine Rolle spielen. Gerade einmal zwei von 15 Titeln stammen aus ihrem Umfeld. Der Suhrkamp-Verlag führt mit vier Nominierungen das Verlagsranking, gefolgt von Matthes & Seitz Berlin, der sich gemeinsam mit seinem Imprint Friedenauer Presse über drei Nominierungen freuen kann. Branchengrößen wie Hanser, Rowohlt, Kiepenheuer & Witsch, Aufbau oder DTV gehen vollkommen leer aus.

Die Jury scheint auch etwas nachzuholen zu haben. Lediglich sechs der 15 nominierten Titel stammen aus den Frühjahrsprogrammen der Verlage, alle anderen sind bereits in der Vorsaison erschienen. Im Extremfall sind die nominierten Titel bereits seit Juni 2021 auf dem Markt. Da stellt sich grundsätzlich die Frage, welche Bedeutung der Preis für das Frühjahr und die Debatten rund um die Neuerscheinungen noch hat.

Mit zehn nominierten Frauen und fünf Männern setzt die Jury auch geschlechterspezifisch ein Ausrufezeichen. Um die Lyrik macht die Jury allerdings einen Bogen, der Roman und das Essay sind die Gattungen der Stunde.

Im Bereich Belletristik entspringen lediglich zwei der nominierten Titel den Frühjahrsprogrammen: Heike Geißlers experimenteller Roman »Die Woche«, in dem sie die gesellschaftlichen Verwerfungen unserer Zeit erkundet. Ein Auszug des Romans war 2021 für den Bachmann-Preis nominiert. Katerina Poladjans Roman »Zukunftsmusik« ist das Protokoll einer sich ankündigenden Veränderung in Russland. Daneben sind mit Dietmar Daths Mathematiker- und Geschichtsroman »Gentzen oder: Betrunken aufräumen«, Tomer Gardis halb auf deutsch verfassten, halb aus dem Hebräischen übersetzten Identitätssuche »Eine Runde Sache« und Emine Sevgi Özdamars Roman eines Lebens »Ein von Schatten begrenzter Raum«, der bereits den Bayerischen Buchpreis erhalten hat, nominiert. Dass es Titel wie Esther Kinskys bebende Erkundung der friaulischen Landschaft »Rombo« oder Friederike Gösweiners »Regenbogenweiss«, Nino Haratischwilis neues Georgien-Epos »Das mangelnde Licht«, Edgar Selges Erinnerungsroman »Hast du uns endlich gefunden« oder Ulrike Draesners lyrische Erkundungen »Doggerland« nicht auf die Liste geschafft haben, mag durchaus überraschen. Kinsky hatte den Preis bereits mit ihrem Landschaftsroman »Hain« gewonnen.

Bei den nominierten Sachbüchern setzt die Jury sichtbar auf Vielfalt und Varianz. Neben dem vielgelobten und reich bebilderten Michelangelo-Band von Horst Bredekamp sind zwei Bücher nominiert, die sich mit den Debatten um Vielfalt und Identitäten auseinandersetzen: Hadija Haruna-Oelkers »Die Schönheit der Differenz« und Juliane Rebentischs »Der Streit um Pluralität«. Christine Hoffmanns Buch »Alles, was wir nicht erinnern« denkt Geschichte und Gegenwart neu, indem sie den Fluchtweg ihres Vaters aus Schlesien 75 Jahre später selbst geht, unterwegs Gespräche führt oder Orte wirken lässt. Dass sich das genaue Hinschauen auf das geschriebene oder gesprochene Wort lohnt, beweist Uljana Wolf in ihren Essays und Reden, die sie als »Etymologischen Gossip« herausgegeben hat.

Bei den nominierten Übersetzer:innen möchte die Jury Büchern die Aufmerksamkeit schenken, die mit Ausnahme von Marieke Lucas Rijnevelds »Mein kleines Prachttier« in der Übersetzung von Helga van Beuningen bisher wenig bis gar nicht diskutiert wurden. Man darf sich darüber freuen. Das sind Hiromi Itos Roman »Dornauszieher«, aus dem Japanischen übersetzt von Irmela Hijiya-Kirschnereit, der Monumentalroman »Im Saal von Alastalo« von Volter Kilpis – ein Zeitgenosse von Proust und Joyce – in der Übersetzung von Stefan Moster, Andreas Tretners Übersetzung von Hamid Ismailovs russischer Blechtrommel-Variation »Wunderkind Erjan« sowie Cécile Wajsbrots Übersetzer- und Woolf-Roman »Nevermore«, den Anne Weber aus dem Französischen übersetzt hat. Den schwergewichtigsten Titel der Saison hat die Jury allerdings links liegen gelassen. Ulrich Blumenbachs Übertragung von Joshua Cohens »Witz« hat es nicht auf die Liste geschafft. Dass Blumenbach vor Jahren mit seiner Übersetzung von David Foster Wallace’ »Unendlicher Spaß« den Preis gewonnen hatte und für »Witz« das Zuger Übersetzer-Stipendium genoss, mögen Gründe für diese Entscheidung sein.

Die Messe mag nicht stattfinden, aber der Preis der Leipziger Buchmesse lebt. Seine Nominierungsliste lässt aufhorchen.

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