Die Preise bei der Berlinale 2022 sind vergeben. Den Goldenen Bären für den Besten Film nimmt die Spanierin Carla Simón mit nach Hause. Als beste Hauptdarstellerin wurde die deutsche Kabarettistin Meltem Kaptan geehrt, den Bären für die Beste Doku erhalten zehn anonyme Filmemacher:innen aus Myanmar. Das Festival leidet derweil weniger unter den Corona-Einschränkungen als vielmehr unter programmatischer Willkür und der Verwässerung der Sektionen.
Die Internationale Jury der 72. Berlinale unter dem Vorsitz des indisch-amerikanischen Filmemacher M. Night Shyamalan hat am Mittwochabend bei einer Gala die sieben silbernen und den goldenen Bären für den Besten Film vergeben. Der Goldene Bär für den Besten Film geht in diesem Jahr an Carla Simón für ihren bewegenden Film »Alcarràs«, der auch bei der Presse für Begeisterung sorgte. Der Film ist mit Laiendarsteller:innen gedreht und erzählt von einem letzten Sommer auf einer Pfirsichfarm, die einem Solarpark weichen soll. Ein Dokument der Melancholie, der Wehmut und der Wut über die Zerstörung einer fast heilen Welt. Eine gute Entscheidung für einen Film, der auch einem breiteren Publikum zugängig sein wird. 2021 ging der Goldene Bär an den rumänischen Film »Bad Luck Banging Or Loony Porn«, 2020 an das iranische Drama »Doch das Böse gibt es nicht«.

Der Große Preis der Jury geht in diesem Jahr an den Koreaner Hong Sangsoo für seinen Film »So-Seol-Ga-Ui Yeong-Hwa«. Der Film begleitet verschiedene Figuren am Rande Seouls, die sich zufällig begegnen. Darunter auch die koreanische Schriftstellerin Junhee, die auf Menschen trifft, mit denen sie einen Film drehen will. Je mehr sie über den Film spricht, desto wahrscheinlicher wird, dass dies der Film ist, den man gerade sieht. Eine Entscheidung, die Stirnrunzeln verursacht, da dieses sichtbar unter Corona-Bedingungen gedrehte Werk nicht der beste Film des Koreaners ist und sein letzter Film erst im Vorjahr den Drehbuch-Preis erhalten hatte.

»Für die kühne Erneuerung der cineastischen Sprache« erhält die Mexikanerin Natalia López Gallardo für ihr Debüt »Robe of Gems« den Silbernen Bären Preis der Jury. Der Ensemblefilm handelt von verschiedenen Formen der Gewalt, die Frauen an der US-amerikanisch-mexikanischen Grenze erleben. Mit der Auszeichnung kommt die Jury dem Ruf der Berlinale nach, ein politisches Festival zu sein.

Die französische Regisseurin Claire Denis wurde für seinen Liebesfilm »Avec Amour Et Acharnement« mit dem Silbernen Bären für die Beste Regie ausgezeichnet. Der Film erzählt von einer Frau, die zwischen zwei Männern hin- und hergerissen ist. Angesichts zahlreicher Beiträge aus Frankreich sah sich die Jury wohl verpflichtet, einen dieser Filme auch auszuzeichnen. Eine streitbare Entscheidung.

Der Silberne Bär für die Beste Schauspielerische Leistung in einer Hauptrolle wurde die Comedienne Meltem Kaptan für ihre brillante Verkörperung von Rabiye Kurnaz in Andreas Dresens Wettbewerbsbeitrag »Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush« ausgezeichnet. Eine absolut nachvollziehbare und von Vielen erwartete Entscheidung. Kaptan widmete den Bären Rabiye Kurnaz und »allen Müttern, deren Liebe stärker ist als alle Grenzen«.

Für die Beste Schauspielerische Leistung in einer Nebenrolle wurde Laura Basuki für ihre Rolle als Geliebte und Freundin Ino in dem indonesischen Drama »Nana« ausgezeichnet. Von Kamila Andini, in dem eine Frau im Indonesien der 1960er Jahre porträtiert wird.

Als Bestes Drehbuch wurde das Skript von Laila Stieler für Andreas Dresens Film »Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush« mit einem Silbernen Bären ausgezeichnet. Dresen erzählt von der unrechtmäßigen Inhaftierung des Bremers Murat Kurnaz aus der Perspektive seiner Mutter, die für seine Freilassung kämpft.

Der Silberne Bär für eine Herausragende Künstlerische Leistung geht an Rithy Panh für seine tierische Dystopie »Everything Will Be Okay«. Ein außergewöhnliches Filmexperiment. Eine lobende Erwähnung erhielt zudem der intensive Schweizer Film »Drii Winter« von Michael Koch. Dass der sehenswerte spanische Beitrag »Un Año, Una Noche« über ein Paar nach dem Anschlag auf das Bataclan leer ausging, ist angesichts seiner Konstruktion und des erzählerischen Turns am Ende des Films durchaus überraschend.
Insgesamt war der Wettbewerb mit seinen 18 Filmen sehr westlich dominiert. Allein elf Filme kamen aus westeuropäischen Ländern, drei Produktionen aus Nordamerika und vier Asien. Filme aus den erfolgreichen Schwerpunktregionen der letzten Jahre, also aus Osteuropa und dem Mittleren Osten, waren im Wettbewerb ebensowenig vertreten wie Beiträge aus Afrika oder Südamerika. Das ist einer Berlinale, die für sich beansprucht, zu den drei großen internationalen Filmfestivals zu gehören, nicht würdig. Während die Festivalleitung die anhaltende Bedeutung der Berliner Filmfestspiele an ihrer (kontrovers diskutierten) Durchführung als Präsenzfestival festgemacht hatte, könnte am Ende für den Festivalstandort Berlin viel bedeutender sein, dass unter der künstlerischen Leitung von Carlo Chatrian nicht Filmemacher aus aller Welt, sondern nur aus einem sehr ausgewählten Teil um die Bären konkurrieren.
Zur Wahrheit des diesjährigen Wettbewerbs gehört aber auch, dass der Wettbewerb unter der Leitung von Carlo Chatrian eine erkennbarere Handschrift hat, als es unter Dieter Kosslick jemals der Fall war. Es war fast ausnahmslos programmatisch nachvollziehbar, warum Filme am selben Tag gezeigt wurden, nicht selten traten die Filme inhaltlich oder künstlerisch miteinander in einen Dialog. Enttäuschungen gab es im Wettbewerb nur vereinzelt.

Das Kammerspiel hat Corona-bedingt ein Revival erlebt. Ein großer Teil der Filme war klein besetzt, meist trug eine Handvoll Schauspieler:innen, im Eröffnungsfilm sogar ausschließlich in einem Studio gedreht, die Filme. Die wichtigsten Themen waren – wie angekündigt – Liebes- und Familiengeschichten, aber auch die Verhandlung ruraler Lebensverhältnisse vor dem Hintergrund des Turbokapitalismus. Carla Simòns Drama »Alcarràs«, mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet, ist einer dieser Filme. Starke Frauenfiguren trafen auf weinerliche Männerfiguren, Kinder- und Jugendschauspieler:innen hinterließen bleibende Eindrücke. Und es wurde auffallend oft gesungen.
Auch in den Filmen aus den deutschsprachigen Ländern, die insgesamt einen starken Eindruck hinterließen. Die beiden Filme aus der Schweiz überzeugten mit formaler Strenge und großer Wucht, die deutschen mit spielerischer Leichtigkeit bei anspruchsvollen Themen und der österreichische Film mit starkem Cast und großer Atmosphäre.

Im Nebenwettbewerb Encounters ging der Preis für den Besten Film an Ruth Beckermann für ihre großartige Dokumentation »Mutzenbacher«, in dem die Österreicher Regisseurin auf grandiose Art und Weise Fragen von Misogynie und Missbrauch thematisiert.
Den Preis für die Beste Regie in der Sektion Encounters erhielt der Schweizer Cyril Schäublin für seinen Film »Unrueh«, der den Erfindungsreichtum und die Konflikte rund um die industrielle Uhrenfertigung in der Schweiz im 19. Jahrhundert abbildet. Mit dem Spezialpreis der Encounters-Jury wurde die in Paris lebende iranische Filmemacherin Mitra Farahani für ihren Beitrag »À Vendredi, Robinson« ausgezeichnet. Der Film setzt die Filmlegenden Jean-Luc Godard und Ebrahim Golestani miteinander in Dialog.

Sektionsübergreifend wurde der Film »Sonne« der im Irak geborenen Filmemacherin Kurdwin Ayub als Bester Erstlingsfilm ausgezeichnet. Der österreichische Beitrag war in der Sektion Encounters zu sehen und wurde von Ulrich Seidl produziert, der selbst mit »Rimini« im Wettbewerb vertreten war.

Der 2017 ins Leben gerufene Berlinale Dokumentarfilmpreis ging an den Film »Myanmar Diaries«, den zehn anonyme Filmemacher:innen heimlich zusammengestellt und aus dem Land geschafft haben. Der mutige Film dokumentiert die Gewalt des Militärregimes anhand von visuellen Tagebucheinträgen. Ike Nnaebues »No U-Turn«, der retrospektiv die Migration des Filmemachers aus Nigera nach Europa nachzeichnet, wurde zudem lobend erwähnt.

Der Goldene Bär für den Besten Kurzfilm geht an den russischen Film »Trap« von Anastasia Veber, der Jugendliche zwischen Party und Olympiatraining porträtiert. Die Jury lobt die »handwerklich meisterhafte Montage« der 20-minutigen Tour de Force, die mit der Auszeichnung für den Wettbewerb um den Kurzfilm-Oscar 2023 teilnahmeberechtigt ist. Der Silberne Bär für den Preis der Kurzfilm-Jury erhält der Portugiese Bruno Ribeiro für sein Porträt einer Künstlerin »Manhã De Domingo«. Den Preis widmete er seiner während der Pandemie verstorbenen Mutter. Eine lobende Erwähnung erhielt zudem der Film »Bird in the Peninsula« von Atsushi Wada aus Japan.
Nüchtern betrachtet muss man aber auch feststellen, dass die einzelnen Sektionen immer mehr verwässern. Die Bedeutung des noch unter Kosslick ins Leben gerufenen Encounters-Wettbewerb erschließt sich auch im dritten Jahr nicht. Wenn diese Sektion tatsächlich das Kino neu vermessen will, dann fragt man sich, warum Rithy Panhs dystopisches Film-Essay, erzählt mit handgeschnitzten Figuren und dokumentarischen Aufnahmen, nicht hier gezeigt wurde. Stattdessen blieb der Film, der vielfach Potential für Debatte böte, ein Fremdkörper im Wettbewerb. Dass er für Herausragende Künstlerische Leistung ausgezeichnet wurde, ist angesichts des betriebenen Aufwands aber nachvollziehbar.

Zugleich werden die bestehenden Sektionen geplündert, um diese kompetitive Sektion aufzufüllen. Das Forum, einst Hort cineastischen Eigensinns, leidet in doppelter Hinsicht. Zum Einen weil sein Profil dem des neuen Nebenwettbewerbs ähnelt und ihn auffüllt, zum Anderen weil durch das Forum Expanded die Sektion endlos ausgereizt wird und verwässert. Auch das Panorama wird in Mitleidenschaft gezogen und zunehmend zum Auffangbecken dessen, was für Encounters zu publikumstauglich ist und zugleich nicht genug Glamour aufweist, um als Berlinale Special geführt zu werden.
Das deutsche Kino mischt überall irgendwie mit, schließlich soll der Berliner Standort auch das hiesige Kino fördern. Für die Regiedebüts junger Talente gibt es mit der Perspektive Deutsches Kino eine eigene Sektion, Alina Pinskes unterhaltsames Langfilm-Debüt »Alle reden übers Wetter« war dennoch im Panorama zu sehen.

Mit Natalia Sinelnikovas zwischen Dystopie und Komödie changierender Sozialkritik »Wir könnten genauso gut tot sein«, die den Irrsinn unserer Zeit – die Stichworte lauten Verschwörungstheorien, Tokenism und (Xeno)Phobien – ebenso unterhaltsam wie treffend auf den Punkt bringt, wurde dennoch ein guter Eröffnungsfilm gefunden. Der Heiner-Carow-Preis zur Förderung der deutschen Filmkunst ging an Constantin Hatz und seinen Film »Gewalten«. Kein gefälliger Film, aber einer, der nachhallt, wie die Jury begründete, »dessen intensiven Bildern wir uns nicht entziehen konnten, der zu Fragen zwingt, auf die sich schwer Antworten finden lassen.«
Die zunehmende Unübersichtlichkeit bei der Berlinale wird von den Festival-Macher:innen ganz gern damit begründet, dass man »sektionsübergreifend« arbeite. Schön für die Macher:innen, für das Publikum ist das aber kaum mehr zu verstehen. Die Berlinale ist mit ihren neun Sektionen zu einem Buch mit elf Siegeln geworden, von denen streng genommen einzig der Titel »Berlinale Series« verlässlich hält, was er verspricht. Und das mit einigem Erfolg, die Sektion erfreut sich nicht nur großer Beliebtheit, sondern überzeugt mit zahlreichen Entdeckungen.

Bei aller Skepsis zum Präsenzfestival muss man der Leitung fast schon gratulieren, dass ihr Konzept aufgegangen ist. Selbst die für die Presse noch strenger gestalteten Regeln – Impfung, Testpflicht, Maskenpflicht – haben ohne größere Pannen funktioniert und das Festival so sicher gemacht, wie man es auf dem Höhepunkt einer Corona-Welle nur sicher machen kann. Die ticketgebundenen Sitzplätze, für manche ein Ärgernis, haben das Festival so entspannt wie nie gestaltet. Und während die Buchmesse Leipzig für ihre Absage Kritik von allen Seiten einstecken muss, kann die Berlinale als großes kulturelles Gewinnerevent des Frühjahrs auftrumpfen.
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