Ann hat nicht nur ihren Mann, sondern auch den Kontakt zum Leben verloren. Sie macht sich auf die Suche nach sich selbst und begegnet dabei einem Pariser Kommissar, der vor seiner Beförderung davon- und seinem wahren Ich entgegenläuft. Was es heißt, das Leben in die Hand zu nehmen und welche Kapriolen es dann schlägt, davon erzählt der Berliner Autorin Katerina Poladjan in ihrem Roman »Vielleicht Marseille«. Ein Gespräch über die innere Heimat, Selbstverlust und Selbstermächtigung und über das Bedürfnis, an die Hand genommen zu werden.
Katerina Poladjan, in Deinem Roman »Vielleicht Marseille« begegnen sich vier Menschen. Wirklich gemeinsam scheint ihnen nur, dass sie ihre innere Heimat und damit auch ihre Sicherheit im Leben verloren haben. Was bedeutet Dir Heimat?
Oh, das ist groß. Heimat. Ja, Heimat. … Ich denke, ich habe eine innere Heimat. Ich bin 1979 mit meinen Eltern aus Russland als Flüchtling nach Deutschland gekommen. Dadurch hat sich bei mir der Begriff von Heimat etwas relativiert. Heimat ist etwas sehr Flüchtiges, kann ein Geruch sein, eine Stimme oder eine Erinnerung und dann ist da wieder so etwas wie ein Zuhause. Heimat ist aber trotz aller Flüchtigkeit etwas, das mir sehr wichtig ist. Dennoch glaube ich, dass ich mittlerweile überall leben könnte.
Woran ist Heimat bei dir gekoppelt? Was sind das für Gerüche und Stimmen, die dieses Gefühl auslösen?
Das hat natürlich viel mit Kindheit zu tun. Man kann das drehen und wenden wie man will, irgendwie ist jeder Mensch doch sehr mit seiner Kindheit verbunden. Mir ist bewusst, dass viele Menschen das nicht wollen. Auch ich habe mich lange Zeit dagegen gesträubt, aber ich merke, dass die Momente, in denen ich gerührt bin, oft mit der frühkindlichen Phase verbunden sind. Um aber auf die Ausgangsfrage zurückzukommen. Roland Barthes schreibt in seinem »Tagebuch der Trauer« über den Tod seiner Mutter »Mein Leben ist gestorben. Jetzt brauche ich ein neues.« Das war für mich ein entscheidender Satz für Ann. Mein Gefühl beim Schreiben hat mir gesagt, dass sie mit dem Tod ihres Mannes Ed selbst auch gestorben ist und deshalb diesen physischen Schritt aus dem Trauerraum heraus braucht, um wieder lebendig zu werden. Nur so kann sie wieder eine neue Heimat – Heimat als etwas sehr Vitales – zu finden.
Ich bleibe noch einen Moment bei Dir und Deiner Familie. Dein Großvater Hrant Poladjan hat den Genozid an den Armeniern in Ordu an der östlichen Schwarzmeerküste überlebt. Auf freitext hast Du darüber und Dein inneres Ringen mit der Identität geschrieben. Da heißt es: »Ich heiße Katerina Poladjan. Ich habe einen armenischen Namen. Ich kann kein Armenisch. Ich lausche den Worten und verstehe sie nicht. Ich höre nur das Raunen, das Rauschen. In Armenien konnte ich mich auf Russisch unterhalten. Ich bin hingefahren, ich wollte das Land sehen, dem ich meinen Namen verdanke.« Im vergangenen Herbst warst Du in Armenien, der SWR hat Dich begleitet. Was hat Dir diese Reise bedeutet und was hat Sie mit Dir gemacht?
Das Armenische ist etwas, was schon sehr lange in mir brodelt. Ich habe mich da auch lange nicht herangetraut. Natürlich will ich darüber schreiben, aber da war etwas, das mich gehindert hat. Umso wichtiger war es, dass ich zwischen dem ersten und dem dritten Roman etwas anderes schreibe, nämlich »Vielleicht Marseille«. Obwohl selbst dieses Buch viel mit Armenien zu tun hat. Irgendwie hängt ohnehin alles mit allem zusammen. Mein Vater ist bildender Künstler und hat sich viel mit dem Genozid am armenischen Volk beschäftigt. Als sich meine Eltern getrennt haben, ist der Völkermord wieder aus meinem Leben herausgetreten. Später kam das natürlich zurück, ich habe ja auch einen armenischen Namen und werde häufig darauf angesprochen. Da habe ich dann angefangen, zu forschen, welcher armenische Teil in mir schlummert, wie sehr ich mich dafür wirklich interessiere und ob ich die Geschichte meines Großvaters tatsächlich kenne. Diesen Fragen bin ich nachgegangen, vor allem auch auf der Reise. Das hat mich sehr bewegt, weil Armenien ein ganz außergewöhnliches Land mit einer so unglaublichen Geschichte ist. Es klingt immer so esoterisch, wenn es heißt, das hätte etwas Mythisches. Allein wenn Du dann dort in einer Kirche bist. Wir kennen hier Kirchen aus dem 13. und 14. Jahrhundert und finden das schon alt. Aber wenn Du in Armenien in den Bergen bist und stehst in einer Kirche aus dem 4. Jahrhundert, dann ist das schon Wahnsinn.
Wie genau bist Du auf Deiner Reise vorgegangen? Hast Du Verwandte besucht oder bist Du zu den Erinnerungsorten Deiner Großeltern gereist?
Ich habe noch Verwandte, von denen ich mir die Familiengeschichte aus ihrer Sicht habe erzählen lassen. Ich habe einfach viel mit den Menschen vor Ort gesprochen, um herauszufinden, welche Rolle der Genozid im Land noch spielt. Ich habe das Gefühl, dass der in den Exilgemeinden sehr viel stärker präsent ist als in Armenien selbst. Die Menschen im Land wollen den Genozid eher vergessen, sie wollen im Hier und Jetzt leben und in die Zukunft schauen. Vor allem wollen sie auch die Beziehung in die Türkei, die vielmehr von der anderen Seite blockiert wird. In Armenien haben mir die Menschen oft gesagt, dass wir doch jetzt mal den Völkermord ruhen lassen sollten, der sei schließlich einhundert Jahre her. Wichtig sei jetzt, wie es weitergehe. Das fand ich von der Stimmung her interessant, das habe ich nicht erwartet.
Kommen wir zum Roman. Die stabilste der vier Protagonisten scheint mir ausgerechnet Ann, die mit dem Tod ihres Mannes Ed den vermeintlich schwersten Verlust hat hinnehmen müssen. Zwingen solche Katastrophen stärker dazu, sich den existenziellen Fragen des Lebens zu stellen?
Das ist interessant, dass Du das so empfunden hast. Ich denke tatsächlich, dass sie die stabilste Person ist, bei allem Suchen dennoch auch die zielstrebigste Person. Ich denke, es liegt an der Eigenermächtigung, die sie durchmacht. Wenn ein sehr naher Mensch stirbt, dann stirbt man selbst auch ein Stück mit und ist gezwungen, sich selbst neu zu sortieren und neu zu bilden. Das ist zunächst einmal ein unglaublich vitaler Akt, fast wie eine Auferstehung, bei dem es – und das ist wichtig – um etwas geht. Bei Jean-Luc ist es anders, er stürzt sich absichtlich in die Sinnkrise, um die starre Arithmetik des Lebens zu erschüttern und selbst wieder Herr über sein Dasein zu werden. Auch hier also eine Eigenermächtigung.
Im Roman heißt es an einer Stelle: »Eds Tod ist kein Ereignis mehr, das sie lähmt oder festhält, sein Tod ist jetzt kompakt.« Ist Anns wortwörtlicher Aufbruch ins Nichts eine bewusste Entscheidung oder vielmehr eine spontane, vielleicht auch unüberlegte Reaktion? Schließlich verhält sie sich nicht gerade konform? Sie verschwindet, ohne eine Notiz zu hinterlassen, lässt sich auf einen vollkommen unbekannten Mann ein und klaut schließlich dessen Auto.
Ich glaube, Ann verhält sich in ihrem Neuanfang geradezu kindlich. Sie sagt Theo nicht ab, weil sie zu viel Angst hat, dass sie sich erklären müsste und er sie davon abbringen würde. Zugleich ist der Anfang so fundamental, dass sie zum ersten Mal seit langer Zeit das Gefühl hat, sie muss sich hier nach niemandem richten. Deshalb kann sie auch ein Auto klauen; was sie im Übrigen ja auch wieder zurückbringt. Selbst dieser Ausbruch erfolgt sehr im Rahmen dessen, was möglich wäre. Aber auch hier geht es um die Rückeroberung des eigenen Daseins. Bin ich überhaupt noch in der Lage, zweckentfremdet zu handeln oder muss alles, was ich tue, einen Sinn haben und in irgendeine Kategorie passen? Diese Fragen stecken dahinter. In einem Interview über Luxus in der ZEIT habe ich gelesen, wie ein Philosoph erklärt, dass es wichtig ist, nutzlose Dinge tun. Genau darum geht es hier, um das Ausbrechen aus der Nützlichkeit und das Eintauchen in die Wünsche des eigenen Ichs, auch wenn diese nichts mit Gewinn oder Profit zu tun haben. Damit man als Mensch wieder das Gefühl für sich bekommt und nicht das Gefühl hat, man wäre in eine Maschine eingespannt.
Ist Anns Abschied von der Trauer eine Art Dammbruch, dem erst einmal nichts mehr entgegenzusetzen ist, weil das Leben seine Freiheit zurückverlangt?
Das weiß ich nicht genau. Ich weiß auch nicht, wie es nach den sechs Tagen, die mein Roman beschreibt, weitergeht. Es kann sein, dass sie nach Hause fährt und das Gefühl hat, wieder einen Kontakt zum Leben zu haben. Genau der fehlt ihr ja. Als ihr Jean-Luc Gaspard die Hand reicht, beschleicht sie das Gefühl, als wäre das ihr erster Händedruck seit Monaten. Vielleicht ist mit diesem Kontakt der Durchbruch schon gelungen, möglicherweise fährt sie nach den sechs Tagen nach Hause und sortiert sich nach diesen Erfahrungen neu.
Das Gegenteil von Ann ist ihr Sohn Theo. Er scheint jeder Frage, die ihn aus seinem Loch heraustragen könnte, ausgewichen zu sein. Von seinen Eltern spricht er immer noch im Plural, die Trennung seiner Freundin Lisa will er nicht akzeptieren. Selbst sein Vater, der immer mal in seinen Erinnerungen auftaucht, bemerkt das. »Na mein Junge, sitzt du da und hast nichts vor?«, heißt es an einer Stelle. Dieser Satz hat mich sehr berührt. Beschreibt er nicht ein Generationsproblem? Nämlich dass die Generation, die immer alles hat, zugleich grundsätzliche Angst vor dem Leben, dem Ungefähren und dem Neuen hat?
Es ist heute schwierig, sich von den Eltern abzugrenzen, aber ja, ich denke, dass diese Angst tatsächlich typisch für Theos Generation ist. Diese Generation ist so sehr in Watte gehüllt, dass sie eigentlich kaum mehr etwas spürt. Hier passiert etwas, das Theo aus der Bahn wirft, er plötzlich etwas spürt. Bei Theo ist es der wunde Punkt der fehlenden Trauerverarbeitung. Wenn ein Elternteil stirbt, dann ist der andere Elternteil oft sehr mit sich selbst beschäftigt und größere Kinder bekommen für sich fast gar keinen Trauerraum. Exemplarisch dafür, dass Ann Theo nach der Beerdigung fragt, was sie denn nun mit den Sachen seines Vaters machen soll. Theo erklärt sich bereit, sich darum zu kümmern, denn das ist seine Rolle seit Eds Tod. Er muss sich kümmern. Den eigenen Verlust hat er noch gar nicht richtig wahrgenommen, eben weil er keine Zeit hatte, dessen Tragweite zu spüren und sich damit auseinanderzusetzen. Im Roman ist nun diese Zeit und auch Theo macht so etwas durch wie eine Eroberung des eigenen Lebens.
Obwohl mir bei Theo der Impuls fehlt, wieder Zugriff über sein Leben zu erlangen. Er scheint mir irgendwie in der Luft zu hängen. Auch von Lisa, die ihn längst verlassen hat, und dem Haus, das bereits Makler besichtigen wollen, will er nicht loslassen.
Ich denke, er war lange einfach noch nicht so weit. Erst mit seiner Reise nach Marseille wird er ein Stück erwachsen. Das ist fast so eine Art Coming-of-Age-Reise, eine Emanzipation vom eigenen Schicksal. Er wird dabei ein Stück erwachsen. Auch bei Lisa muss er erst lernen loszulassen. Als Teenagerliebe war sie immer ein Stück Heimat für ihn, war immer da. Dass ihr Verlassen der Beziehung und der Tod des Vaters dann ineinander fallen, führt dazu, dass die wichtigsten Haltepunkte in seinem Leben wegbrechen, während er selbst zu demjenigen werden soll, der sich um seine Mutter und die Dinge, die es zu erledigen gilt, kümmern muss.
Als sich Theo noch einmal mit Lisa im Haus seiner Eltern trifft, kommt es ein letztes Mal zu einer zärtlichen, geradezu unschuldigen Berührung. Sie legt ihren Kopf an seine Schulter. Und dann heißt es im Roman, »und jetzt sitzt er stocksteif neben ihr und hat Angst, durch eine unachtsame Bewegung alles zu zerstören.« Warum ist die Liebe so ein empfindsames Ding?
Wenn ich das wüsste. Weil es das ist, was uns am Leben erhält. Wenn das nicht wäre, wären wir alle dem Tod so nah, gedanklich und räumlich. Dass Theo da aber so sitzt, liegt auch an seiner grundsätzlichen Angst vor dem, was jetzt kommt. Er ist kein spontaner Typ, er braucht lange, um neue Lebensphasen zu akzeptieren. Nun muss er nach dem Tod seine eigene Basis schaffen, etwas, das er bis dahin nie so wirklich musste.
Wie empfindsam die Liebe ist, führst Du auch an den beiden anderen Protagonisten aus. Der Kriminalkommissar Jean-Luc Gaspard und seine japanische Frau Miyu. Beruht deren Verhältnis auf einem Missverständnis? Während Miyu am Ende von einer Vereinbarung spricht, vernehme ich bei Jean-Luc eher den Wunsch, sein altes Leben – mutmaßlich das vor den Kindern – zurückhaben zu wollen.
Ich denke, es gibt in jeder Beziehung Kippmomente, in denen sich die Beteiligten fragen, ob sie das noch wirklich wollen und wenn ja, warum sie das wollen. Weil es Kinder gibt, weil Vereinbarungen getroffen wurden oder weil es tatsächlich das ist, was man sich im tiefsten Inneren wünscht. Das sind die Fragen, auf die Jean-Luc auf seiner Reise plötzlich kommt, weil Miyu ihr Leben zuhause in Den Haag so perfekt organisiert. Dann kommt diese Aussicht auf Europol und kurz vor diesem Karriereschritt bricht bei ihm die totale Panik aus im Sinne von Wenn ich diesen Schritt mache, bin ich in der Mühle drin und komme da auch nicht mehr so schnell raus. Dazu kommt, dass es zwischen Miyu und Jean-Luc ein starkes Gefälle gibt. Sie ist eine Diplomatentochter, er kommt aus sehr einfachen Verhältnissen, ist im Grunde ein Mann der Straße, der als Kommissar auch gern auf der Straße gearbeitet hat. Während sie hinter dem Karrieresprung auch einen gesellschaftlichen Aufstieg sieht, hat er große Angst vor der administrativen Aufgabe bei Europol, ist sich unsicher, ob ihm dieser Karrieresprung entspricht. Dieses Missverständnis zwischen den Welten ist sicherlich immer unausgesprochen zwischen den beiden.
Du hast in den vergangenen Minuten immer wieder von Selbstermächtigung gesprochen. Das Gegenteil von Selbstermächtigung wäre Schicksalsergebenheit. Jean-Luc fragt sich an einer Stelle, warum er vom Schicksal verschont werden sollte, Anns Schwester Johanna bemerkt noch am Tag von Eds Beerdigung, dass man nicht mit allem davonkommen könne. Glaubst Du selbst an das Schicksal?
(Lacht) Ja, ich glaube schon. Schicksal ist schwierig, vielleicht sag ich es so: Ich glaube an die Entscheidung zum Schicksal. In Russland ist Schicksal ein ganz großes Thema; in der russischen Literatur, in der russischen Klassik, selbst bei meinen Eltern ist das so. Immer wenn irgendetwas schiefgeht, ist das Schicksal dran Schuld. Das hat natürlich auch etwas mit Verantwortung zu tun, die Schicksalsschublade ist ein schöner Ausweg. Demgemäß liegt das auch irgendwie in mir.
Führst Du da nicht auch immer wieder einen Kampf mit Dir selbst?
Ach, ich führe ständig irgendwelche Kämpfe, in allen Variationen. Ist es nicht vielmehr ein großer Menschheitskonflikt, einerseits das Leben in der Hand halten zu wollen und andererseits irgendwie an das Schicksal zu glauben? Ist das nicht der Zwiespalt zwischen Selbstbestimmung und Überforderung, in dem wir alle sitzen? Das Schicksal ist so etwas wie die letzte Ausfahrt vor der Verantwortung.
Schicksal ist natürlich auch der Punkt, wo die eigene Einflusssphäre endet.
Ja, wobei man hier genau hinschauen muss. Dass Ann Jean-Luc kennenlernt, ist keine Fügung des Schicksals, sondern ihre Entscheidung, das zuzulassen. Drei Wochen vorher hätte sie diesen Mann mutmaßlich gar nicht wahrgenommen. Und wäre Jean-Luc in Marseille geblieben, hätte es die Situation auch nicht gegeben. Beide haben sich in einem Moment getroffen, in dem sie offen für Begegnungen waren.
Ann begegnet auf der spontanen Reise an die Schauplätze ihrer Beziehung mit Ed einem älteren Paar. Sie erzählt den alten Leuten ihre Geschichte, der Satz »Irgendwann wird sowieso jeder alleingelassen.« fällt. Das klingt ziemlich fatalistisch.
Das hat etwas mit Altersweisheit zu tun und der Gewissheit, dass jeder alleine stirbt. Im Moment des Todes ist man einfach allein. Aber es ist in der Situation auch ein wenig kokett gemeint.
»Vielleicht Marseille« hat eine stilistische Besonderheit. In die erzählte Gegenwart hinein sind Erinnerungen und Hoffnungen der Protagonisten eingefügt. So entsteht neben der Handlung ein permanenter Stream of Conciousness, in dem wir die Wahrnehmung der Wirklichkeit, das Nebeneinander von innerem und äußerem Erleben, gespiegelt bekommen. Was war die Absicht hinter diesem Vorgehen?
Diese Form der erlebten Rede habe ich auch schon in meinem ersten Roman verwendet. Ich möchte in meinen Büchern das Verhalten der Figuren nicht bewerten oder kommentieren. Manche beklagen dann das Fehlen der psychologischen Dimension oder der Motivation, ich denke aber, dass das Leben oft einfach so ist. Es hat keinen psychologischen Faden, der von einem zum anderen führt. Ich fühle mich beim Schreiben wie ein Detektiv, der nur ganz wenige Informationen hat und diesen folgt. Da kommt es schon mal vor, dass ich in eine Situation oder Figur hineingehe und sofort wieder raus, weil ich selbst auch nicht mehr weiß, als ich es in dem Moment beschreiben kann. So bin ich einerseits sehr nah an den Figuren dran, zugleich bleibt aber eine Lücke, die die Distanz schafft, die es mir ermöglicht, das nicht werten zu müssen. Die Figuren in meinen Romanen werten übrigens auch nicht, es gibt keine eigene Ebene der Reflektion. Man beobachtet die Protagonisten einfach in der Handlung.
Tatsächlich werden die Lesenden Deiner Romane Zeugen des puren Erlebnisses. Etwa wenn Du in die sexuelle Begegnung von Jean-Luc und Ann unkommentiert Anns Erinnerungen an die Beerdigung von Ed schneidest. Als Leser sitzt man plötzlich in ihrem Kopf und wird Zeuge eines reinigenden Rituals, bei der die Nähe von Leben und Tod gespiegelt wird.
Ich habe die Szene nicht darauf hingeschrieben, aber der Katharsis-Moment ist auch mir deutlich geworden. Es ist die Berührung mit dem Leben, die sie Ed loslassen lässt. Dabei hat sie zugleich noch ein letztes Mal Kontakt zu ihrem Mann aufgenommen, das hat etwas Rituelles, Mythisches. …womit wir wieder bei Armenien und meinem großen Thema sind (lacht).
In Klagenfurt hast Du einen Auszug aus dem Roman gelesen und dort wurde der Vergleich mit der Nouvelle Vague gezogen. Findest Du das passend?
In Klagenfurt wurde Jean-Luc Gaspard als Godard-Figur beschrieben. Und ja, als Assoziationsraum war das schon da, weil bei Godard vieles nebeneinander existieren kann. Die größten Albernheiten stehen da neben den schlimmsten Tragödien des Lebens ohne emotionale Verbindungsbrücke. Diese Parallelitäten finde ich spannend. Sie münden beim Schreiben in der Frage, kann ich das so lassen oder muss ich hier zugunsten des Verständnisses entweder expliziter oder aber zurückhaltender sein. Aber viele wollen an die Hand genommen werden, das scheint der Trend zu sein.
Verstehst Du den Roman ein stückweit auch als Road-Novel?
Das wird jetzt immer so beschrieben, klar, man kann »Vielleicht Marseille« so lesen. Ich sehe das so nicht. Für mich hat der Roman etwas sehr Filmisches, gerade wenn die Figuren schweigend im Auto sitzen und durch die Welt fahren. Aber ich tue mich ohnehin schwer mit Begriffen, die Literatur oder Kunst im Allegmeinen in Schubladen sortieren.
Katerina, vielen Dank für das Gespräch.
[…] Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller machte ihre Aufwartung ebenso wie Ingo Schulze oder Katerina Poladjan. Neben der aktuellen Präsidentin der Akademie der Künste Jeanine Meerapfel wollte sich auch ihr […]
[…] schwarzer Tintin-Mähne über der Stirn, der in der Schule schläft und seinen Lehrern (hier u.a. Katerina Poladja in einer charmanten Gastrolle) schon mal den Alkohol der letzten Nacht vor die Füße kotzt. Doch […]
[…] ersten und dem dritten Roman etwas anderes schreibe, nämlich Vielleicht Marseille«, gestand mir Katerina Poladjan vor Jahren in einem Gespräch über ihren zweiten Roman. Kurz zuvor hatte sie auf freitext über ihr »inneres Ringen mit der Identität« geschrieben: […]
[…] für ihren Beitrag »À Vendredi, Robinson« ausgezeichnet. Der Film setzt die Filmlegenden Jean-Luc Godard und Ebrahim Golestani miteinander in […]
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