Literatur, Roman

Die Heimat unter der Haut

Katerina Poladjans Alter Ego lernt im dritten Roman der Berliner Autorin, dass der Versuch, die weißen Flecken der historischen Landkarte zu erobern, der Suche nach dem goldenen Vlies gleicht.

Helens früheste Erinnerung an Armenien ist keine, die man einem Kind wünscht. Denn seit sie denken kann, setzt sich ihre Mutter, eine bildende Künstlerin, mit dem armenischen Genozid auseinander. Sie erinnert Puppenköpfe, Bärenarme und verschmierte Farbe, dazwischen seltsame Schwarz-Weiß-Fotos. Auf einem entdeckt sie neben einer gelockten Puppe einen ausgemergelten Mädchenkörper. »Der Körper lag im Staub, und zum ersten Mal erkannte ich, dass die Fotos echte Menschen zeigten. So tot kann ein Kind nicht sein, habe ich gedacht.«

Jahrzehnte später reist Helen im Rahmen eines wissenschaftlichen Austauschprogramms nach Armenien. Dort soll die Restauratorin die traditionellen Binde- und Restaurationstechniken lernen. Sie wird sich über alte armenische Handschriften und Familienbibeln beugen, Schimmel, Holzwurm- und Kupferfraß feststellen, beschädigte Bücher Schicht um Schicht auseinandernehmen, um die Einzelteile zu behandeln und sie danach wieder Stück für Stück zusammenzusetzen. Allein für die Passagen, in denen Helens Arbeit an den historischen Schriften beschrieben wird, lohnt sich die Lektüre dieses Romans.

Eines Tages liegt eine alte armenische Familienbibel aus dem Jahr 1733 vor ihr, die über die Jahrhunderte in russischen Besitz gekommen ist und nun wieder den Weg nach Jerewan gefunden hat. Sie zu restaurieren, soll Helens Meisterstück werden. Bei ihrer Arbeit an dem Buch findet sie an den Seitenrändern auf Notizen. Sie erzählen von einem Geschwisterpaar, dass nach Aufständen von seinen Eltern getrennt wird und fortan durch die Lande irrt, in der Hoffnung, irgendwo Aufnahme zu finden. Es ist die Geschichte des türkischen Völkermords aus kindlicher Perspektive, nicht vom Ende her erzählt, sondern aus der Mitte der Ereignisse heraus.

Die historischen Passagen erklären nicht, warum ehemalige Nachbarn zu erbitterten Feinden wurden, sondern nur, wie. Die Verwunderung darüber schwebt über allem. So umschifft sie die dramatischen Fahrwasser, in die Fatih Akin in seinem unglücklichen Flüchtlingsdrama »The Cut« geraten ist. Zugleich versucht sie erst gar nicht, sich mit so einem Epos wie Varujan Vosganians »Buch des Flüsterns« zu messen.

Katerina Poladjan, Oktober 2016 | Foto: Thomas Hummitzsch

»Das Armenische ist etwas, was schon sehr lange in mir brodelt. Ich habe mich da auch lange nicht herangetraut. Natürlich will ich darüber schreiben, aber da war etwas, das mich gehindert hat. Umso wichtiger war es, dass ich zwischen dem ersten und dem dritten Roman etwas anderes schreibe, nämlich Vielleicht Marseille«, gestand mir Katerina Poladjan vor Jahren in einem Gespräch über ihren zweiten Roman. Kurz zuvor hatte sie auf freitext über ihr »inneres Ringen mit der Identität« geschrieben: »Ich heiße Katerina Poladjan. Ich habe einen armenischen Namen. Ich kann kein Armenisch. Ich lausche den Worten und verstehe sie nicht. Ich höre nur das Raunen, das Rauschen. In Armenien konnte ich mich auf Russisch unterhalten. Ich bin hingefahren, ich wollte das Land sehen, dem ich meinen Namen verdanke.« Diese Reise wurde damals vom SWR begleitet.

Nun liegt dieser der dritte Roman vor, für den sie ihre inneren Hindernisse überwinden musste, und man spürt ihm an, wie er in ihr gereift und gewachsen ist. Viel von der eigenen biografischen Konstellation und der Hemmung, an diese Geschichte heranzugehen, findet sich in ihrer Heldin wieder.

»Hic sunt Leones schrieb man in alter Zeit an die weißen Flecken einer Landkarte«, heißt es zu Beginn des Romans, in dem es um die Eroberung der eigenen weißen Flecken geht. Helens familiäre Wurzeln reichen nach Armenien, doch Kontakt zu ihrer Familie hat sie keinen. Auch mit der armenischen Geschichte kennt sie sich nicht besonders gut aus, das Trauma der Mutter hält sie sich aus Selbstschutz vom Leib. Und dann ist da noch dieser niemals endende Konflikt mit den Türken, der von allen Seiten befeuert wird.

In die Heimat ihrer Ahnen ist sie nun aber mit der armenischen Kultur ganz unmittelbar konfrontiert und taucht tief in sie ein. Ausgehend von den antiken Schriften, die in ihrer Werkstatt restauriert werden, erobert sie sich diese bekannt-unbekannte Welt. Und je näher sie dabei der armenischen Gegenwart kommt, desto tiefer taucht sie ein in die Geschichte des Landes. »Es gibt Abertausende Schichten, und ich kratze an der Oberfläche herum, schabe Schmutz, löse Verklebungen«, beschreibt Helen ihre Arbeit an den alten Schriften. Ein Bild, dass auch für ihre Auseinandersetzung mit der armenischen Gesellschaft und ihrer Familiengeschichte zutrifft, aber auch für den Roman als solchen, für den Katerina Poladjan eine ganz eigene, sensible und bildreiche Sprache gefunden hat.

Katerina Poladjan: Hier sind Löwen. S. Fischer Verlag 2019. 288 Seiten. Hier bestellen

»In Armenien macht man sich mehr Sorgen um die Vergangenheit als um die Zukunft«, liest man später. Aber da weiß man noch nichts vom Araratismus, an dem die Armenier angeblich leiden und demzufolge der sagenumwobene Berg immer schon da ist, wohin man auch geht. Das Komische daran ist, dass der gar nicht in Armenien steht, sondern in der Türkei. Die Armenier hindert das dennoch nicht daran, ihn zum Nationalheiligtum zu erklären. »Von uns aus hat man den besten Blick darauf, der Eiffelturm ist auch nicht so schön, wenn man druntersteht.«

»Hier sind Löwen« ist eine poetische Spurensuche, eine kluge Ergründung der armenischen Seele und eine überwältigende Liebeserklärung an die Buchkultur. Dieses kluge Buch ist auch absolut zeitgemäß, weil es von den unbekannten Territorien der eigenen Identität handelt. Denn die Selbstbefragung nach dem, was uns prägt und welche Rolle Herkunft und Familienhistorie dabei spielt, ist allgegenwärtig. Übrigens auch in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, wie die Werke von Saša Stanišić, Olga Grjasnowa, Abbas Khider, Olivia Wenzel, Sharon Dodua Otoo, Senthuran Varatharaja, Ronya Othmann, Olga Martynova, Katja Petrowskaja, Fatma Aydemir, Shida Bazyar und vielen anderen belegen.

Poladjan spielt dies Selbstbefragung im Roman nicht nur mit ihrem Alter Ego Helen durch, sondern auch am Beispiel eines aus Syrien eingewanderten Armeniers. »In Syrien hat man uns gesagt, die Armenier in Armenien seien keine richtigen Armenier, weil sie nicht vor Verfolgung und Ermordung fliehen mussten. Sie täten, als teilten sie ein gemeinsames Schicksal, aber eigentlich hätten sie keine Ahnung, und trotzdem verachteten sie die Diaspora-Armenier. Und jetzt bin ich hier, man nimmt mich auf, und ja, man verachtet mich ein wenig. Wo immer Du Armenier triffst, hier oder irgendwo in der Diaspora – alle werfen sich gegenseitig vor, keine richtigen Armenier zu sein.« Weil Identität niemals nur ein Selbstkonstrukt, sondern immer auch Fremdbild ist, gibt es keine abschließende Antwort auf die Frage nach der eigenen Identität.

Irgendwo richtig und falsch zu sein bedingt, dass es so etwas wie Heimat gibt. Poladjan assoziiert Heimat nicht mit einem Ort, wie sie mir in besagtem Gespräch sagte: »Ich denke, ich habe eine innere Heimat. Ich bin 1979 mit meinen Eltern aus Russland als Flüchtling nach Deutschland gekommen. Dadurch hat sich bei mir der Begriff von Heimat etwas relativiert. Heimat ist etwas sehr Flüchtiges, kann ein Geruch sein, eine Stimme oder eine Erinnerung und dann ist da wieder so etwas wie ein Zuhause. Heimat ist aber trotz aller Flüchtigkeit etwas, das mir sehr wichtig ist.«

Dieser Flüchtigkeit gibt Poladjan in ihrem 2019 für den Deutschen Buchpreis nominierten Roman verschiedene Gestalten. Sie steckt in den vielen Erzählungen, die Helen aufschnappt. Zwischen den Seiten, die sie restauriert. In der Liebe, die ihr zwischen den Fingern verrinnt. Und in der Hoffnung, doch noch so etwas wie ein familiäres Erbe zu finden. Dafür reist sie schließlich bis ins türkische Ordu, wo sie verzweifelt nach den letzten Armeniern sucht. Nach den »Argonauten, die an den Gestaden des Schwarzen Meeres gelandet, sich auf die Suche nach dem Goldenen Vlies machen.«

2 Kommentare

  1. […] in Moskau geborene Berlinerin stand mit ihrem letzten Buch, dem Armenien-Roman »Hier sind Löwen«, auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2020. 2011 erschien ihr Debüt »In einer Nacht«, 2015 […]

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