Allgemein, Literatur, Roman

Sowjetischer WG-Blues

Die Berliner Autorin Katerina Poladjan blickt in ihrem für den Preis der Leipziger Buchmesse nominierten Roman »Zukunftsmusik« aus ganz individueller Perspektive vom Rand der sowjetischen Welt auf das Ende einer Epoche in ihrem Zentrum.

»Ja, wir alle hoffen auf bessere Zeiten«, hört Warwara Michailowna von jedem, der ihr ein weiteres Möbelstück abkauft. Mit den Einnahmen hält sie sich, ihre Tochter, ihre Enkelin und Urenkelin über Wasser. Sie teilen sich mit einer Handvoll anderer Menschen eine heruntergekommene Gemeinschaftswohnung in Sibirien, als im fernen Moskau nach dem Tod von Konstantin Ustinowitsch Tschernenko ein gewisser Michail Gorbatschow an die Spitze des Zentralkomitees gewählt wird. In seiner Wahl klingt die »Zukunftsmusik« an, die Katerina Poladjans neuem Roman seinen Titel gibt.

Die in Moskau geborene Berlinerin stand mit ihrem letzten Buch, dem Armenien-Roman »Hier sind Löwen«, auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2020. 2011 erschien ihr Debüt »In einer Nacht«, 2015 der Roman »Vielleicht Marseille«, gefolgt von dem Reiseband »Hinter Sibirien«. Die Auseinandersetzung mit der Sowjetski Sojus, dem Gebiet der Sowjetunion, taucht in ihrem Schaffen immer wieder auf. In dem neuen Roman, der für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert ist, findet dieser Fokus einen vorläufigen Höhepunkt.

Von den Ereignissen in Moskau ist der Alltag der Menschen, die im Mittelpunkt ihrer Geschichte stehen, weit entfernt. Warwara, Maria, Janka und Kroschka Michailowna leben in einer Gemeinschaftswohnung in Sibirien, »tausende Werst oder Meilen oder Kilometer östlich von Moskau«, wie es zu Beginn des Romans heißt. Neben ihnen leben unter dem löchrigen Dach ihrer Kommunalka noch der unglückliche Professor Matwej Alexandrowitsch, das Ehepaar Kosolapi sowie zwei Frauen, die im Roman einfach nur »die Karisen« heißen.

Aber nur weil Moskau meilenweit weit weg ist, heißt das nicht, dass hier am Ende der Welt an diesem 15. März 1985, an dem dieser Roman spielt, nichts passiert. Warwara besucht noch einmal das Krankenhaus, in dem sie viele Jahre als Schwester auf der Entbindungsstation gearbeitet hat, doch ihr Kommen wird von niemandem bemerkt. In der kommunistischen Planwirtschaft ist sie längst ersetzt, sie tröstet sich mit einem Besuch bei Ippolit Iwanowitsch Kosolapi, in dessen Arm sie noch einmal heimlich Feuer fängt. Maria träumt sich tagsüber mit Alexandre Dumas in ferne Welten, um dann doch wieder am Konsum für das notwendigste in langen Schlangen zu stehen. Janka hofft auf eine Karriere als Sängerin und Schauspielerin, am Abend will sie ein Konzert in der Küche der Gemeinschaftswohnung geben. Doch ihre Gitarre ist kaputt, ein Ersatz muss her. Weshalb sie Matwej Alexandrowitsch bitten muss, die kleine Kroschka aus der Kita abzuholen,um nicht den Freund mit dem neuen Instrument zu verpassen.

Katerina Poladjan: Zukunftsmusik. Fischer Verlag 2022, 186 Seiten. 22,- Euro. Hier bestellen

Sie alle hoffen seit Jahren auf bessere Zeiten und sind beim Hoffen müde geworden. Selbst der brave Kommunist Alexandrowitsch, der an diesem 15. März mit einer ganz anderen Katastrophe als dem Tod des ZK-Vorsitzenden Tschernenko zu kämpfen hat, wird missmutig. Der kleinen Kroschka, die grad zu sprechen beginnt, sagt er auf dem Heimweg: »Jeden Tag ein neues Wort, jeden Tag wächst die Welt. Aber schon bald entscheidest du dich für bestimmte Worte und für ihre Reihenfolge, und umgehend beschleicht die die Furcht, dass es die falschen Worte in der falschen Reihenfolge sein könnten.«

Poladjans vierter Roman taucht voll und ganz ein in diesen realsozialistischen Kosmos, der voller gemeinsamer Probleme. Am offensichtlichsten wird der Zustand dieser am Boden liegenden Gesellschaft in dem Haus der Kommunalka, dessen Fenster blind sind und dessen Dach von Innen den Blick gen Himmel freigibt.

Wie eine Kamera gleitet der Text von einer Figur zur nächsten, begleitet sie eine Weile und schwebt dann weiter, um den Tag einer (Zwangs)Gemeinschaft einzufangen, die mit allzu menschlichen Dingen beschäftigt ist, während in der Hauptstadt der Teppich für eine neue Zeit ausgerollt wird.

Romane, die in ihrer Handlung einen Tag in den Blick nehmen, bilden ein eigenes Genre. James Joyce »Ulysses« ist sein wohl bekanntester Vertreter, Alexander Solschenizyns »Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch« ist der bekannteste russische Roman dieser Art. Von Joyce führt aber noch ein anderer Weg in die russische Literatur, der irische Schriftsteller war großer Bewunderer von Tschechows Werk. Und an dessen humanistischesMenschenbild erinnert auch der zugewandte Blick, den Poladjan auf ihre Figuren wirft.

»Zukunftsmusik« zu lesen ist wie in ein Kaleidoskop schauen, an dem jemand permanent dreht. Immer wieder ändert sich die Perspektive, von den Rändern drängen die Unschärfen in die Mitte und gewinnen Konturen. Dabei lehnt sich die Autorin an die Melancholie russischer Klassiker an, über die Rationalität des russischen Realismus geht sie hinweg. Sie erweitert ihren Roman um eine magische Dimension, damit die Bewohner der Kommunalka der maroden Gegenwart durch die Fenster entfliegen können.

Ebenso poetisch wie lakonisch beschreibt Katerina Poladjan den 15. März 1985 aus Perspektive der Bewohner dieser Kommunalka, die an der Gegenwart leiden und noch nicht ahnen, dass sich von einer anderen Zukunft zu träumen lohnt.

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