Essay, Sachbuch

»We are Hongkong, und ein Ende ist nicht abzusehen«

Marko Martins Essay »Die letzten Tage von Hongkong« liest sich wie eine Sammlung an Spaziergängen und Sehenswürdigkeiten, an Entdeckungen und Erinnerungen, an Diskussionen über schöne und traurige, aber immer auch politische Literatur, an Plaudereien zu zweit oder Unterhaltungen mit Fremden und neuen Freunden, an Freundschaften, Erotik und Sex. Die Lektüre lohnt sich auch mit Blick auf den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg, den Russland aktuell in der Ukraine führt.

Am 1. Januar 2020 strömten hunderttausende Menschen auf die Straßen in Hongkong, um für die Beibehaltung der Demokratie zu demonstrieren. Die Civil Human Rights Front, die die Demonstration organisiert hatte, zählte an diesem Tag mehr Menschen als am 9. Juni 2019, als über eine Millionen Hongkonger:innen demonstriert hatten. Diese Massenkundgebung war der Beginn der über Monate dauernden Proteste in der chinesischen Sonderverwaltungszone. Der Protestmarsch am 1. Januar 2020 war einer der letzten dieser Demonstrationen, deren Kraft und Energie durch die Corona-Pandemie einerseits, durch eine härtere politische Gangart der Regierungen in Hongkong und Beijing allmählich im Jahr 2020 gebrochen wurde.

Unter diesen Verfechter:innen für Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit am Neujahrstag befanden sich Marko Martin und sein Partner. Typisch Marko Martin möchte man sagen, schließlich macht der Berliner Schriftsteller selten einen Umweg um die Orte, in denen die sogenannten westlichen Werte, die ja vielmehr universelle und universalistische Werte sind, verteidigt und erkämpft werden. Fast schon legendär sein Bericht über die Protestdemonstrationen in Myanmar im Sommer 2007, die er unter dem Pseudonym Jacob Glücklich in der Tageszeitung Die Welt veröffentlichte.

Und doch verhält es sich ein wenig anders bei dieser Winterreise 2019/2020, als Marko Martin und sein Partner sich auf einen eher privaten Trip in die ehemalige britische Kronkolonie aufmachten. Seine Erlebnisse rund um den Jahreswechsel hat der Schriftsteller nun in seinem jüngsten Buch »Die letzten Tage von Hongkong« geschildert.

Marko Martin: Die letzten Tage von Hongkong, Tropen Verlag 2021. 320 Seiten. 22,- Euro. Hier bestellen.

Der persönliche Charakter der Reise zieht sich durch den Bericht und man gewinnt an der einen oder anderen Stelle den Eindruck, man lausche einem vertraulichen und intimen Austausch eines Paares, das sich seit Ewigkeiten kennt. Das die Stärken, aber vor allem die Schwächen des Gegenübers liebt und das sich gerade im Angedeuteten oder Ungesagten versteht. Und so nehmen wir teil bei dieser Reise an Spaziergängen und Sehenswürdigkeiten, an Entdeckungen und Erinnerungen, an Diskussionen über schöne und traurige, aber immer auch politische Literatur, an Plaudereien zu zweit oder Unterhaltungen mit Fremden und neuen Freunden, an Freundschaften, Erotik und Sex.

Auch wenn der eigene Lebensweg viele Umwege aufzuweisen hat, so gibt es doch eine direkte Verbindung vom sächsischen Burgstädt, dem Geburtsort von Marko Martin, und dem südchinesischen Hongkong. Es ist das Wissen um die Bedeutung von Demokratie. Demokratie als Idee und Ideal sowie in ihrer Materialisierung in Institutionen. Über Institutionen verteilen Demokratien Macht und schaffen damit eine pluralistische Ordnung, multiple Machzentren und institutionalisierte Rechte. Nur eine institutionell abgesicherte Form der Demokratie bringt gut informierte, wachsame und selbstbestimmte Bürger:innen hervor. »Selbstbewusste Individuen, statt erpresstes Kollektiv«, so fasst es der Autor an einer Stelle treffend zusammen.

Dieses Rezept funktioniert in allen Gesellschaften, in allen Regionen der Welt, über alle Epochen hinweg. Diese Kraft, diese Energie findet Marko und sein Partner H. in Hongkong wieder. In den unaufgeregten, freudigen, aber auch gespannten Gesichtern der Demonstrierenden wieder, die die zwei Europäer in der Hennessy Road erblicken. »Hier sind nicht jetzt etwa Menschen auf der Straße – das ist eine Straße, die trotz ihrer Ausdehnung die Menschen kaum zu fassen vermag, die laufen, nein: strömen und ihre Forderungen rufen und dabei selbst zur Stadt werden. We are Hongkong, und ein Ende ist nicht abzusehen.«

Für fünf Forderungen waren die Menschen aus Hongkong auf die Straßen gezogen: Keine Auslieferung an China. Keine weitere Kriminalisierung der Proteste. Sofortige Freilassung der Verhafteten. Einsetzung einer unabhängigen Kommission zur Untersuchung der Polizeigewalt. Rücktritt von Regierungschefin Carrie Lam und Implementierung eines allgemeinen Wahlrechts. Das Bemerkenswerte dieser Forderungen fasst der Autor dann wie folgt zusammen: »Fünf Forderungen, konkret und präzise. Kein utopischer Überschwang, keine Unter-dem-Pflaster-der-Strand-Träumereien, keine abstrakten Anklagen. Und vor allem: Keine Bilder oder Namen irgendwelcher Führer.«

Und so ist auch Joshua Wong, dem die beiden auf der Demonstration begegnen, nicht die markante, autoritäre und charismatische Führungsgestalt, die sich Rechte wie Linke mit ihren auch immer autoritären Gesellschaftsmodellen so gerne wünschen, sondern er wirkt auf Marko und H. wie »ein schüchterner, aber entschiedener Schülersprecher«. Wong strahlt eine Ruhe und Ausdauer aus, eine unprätentiöse Würde und ruhige Entschlossenheit. Er ist ein urdemokratisches Gegenmodell zu den politischen Leadern, die uns in den letzten Jahren das Leben so schwer gemacht haben und machen: Donald Trump, Boris Johnson, Victor Orban, Matteo Salvini, Wladimir Putin, Xi Jinping.

Demonstranten strecken fünf Finger in die Luft – ein Symbol für die fünf Forderungen der Demokratiebewegung | Foto: Studio Incendo – DSCF5666

Joshua Wong steht für Marko Martin aber eben auch dafür, dass das Modell von allgemeinen und freien Wahlen, von freier Presse und Gewaltenteilung nicht exklusiv westlich, sondern universell ist. Ein Gesellschafts- und Politikmodell, das für die USA und die Bundesrepublik Deutschland ebenso gilt wie für Tschechien, Finnland und Estland, für die Ukraine, für »China und alle Länder, in denen Diktatoren dem Volk einreden wollen, ihre Kultur sei eben anders.« Das seien Lügen, so Wong – und so auch Martin.

Man wünschte sich, dass dies der eine oder die andere Russlandversteher:in schon vor dem 24. Februar 2022 erkannt hätte. Stattdessen war viel zu lange von ihnen von einer »russische Seele« zu hören, die so inkompatibel mit westlicher Demokratie sei. Oder diejenigen China-Expert:innen, die die asiatischen Werte gegen Rechtsstaatlichkeit und politischer Partizipation ausspielen. Joshua Wong und die eine Million demonstrierender Menschen in Hongkong am 1. Januar 2020 strafen sie Lügen. Oder werden die russische Seele und die asiatischen Werte auf ewig Autokraten hervorbringen? Es ist weder den Menschen in China oder Russland noch ihren Nachbarstaaten zu wünschen.

Die Schwäche der Demokratie, darauf verweist der Autor immer wieder, ist nicht eine systemische, sondern eine intellektuelle derer, die sich einer modischer Identitätspolitik und einem mondänen Kulturrelativismus ergeben. Für Martin ist die Behauptung, individuelle Menschenrechte seien keine universellen Rechte, sondern ein okzidentales Konstrukt und deshalb nicht auf andere Kulturkreise anwendbar, eine rassistische Lüge. Und er verweist bei einem Kurztrip nach Macau auf den chinesischen Reformer des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, Zheng Guanying, der für China ein parlamentarisches System forderte, da nur ein frei gewähltes Parlament als Spiegel der Gesellschaft in der Lage sei, Fehlentscheidungen eines einzelnen Regierenden zu korrigieren.

Beim Neujahrsmarsch gingen erneut hunderttausende Menschen auf die Straßen | Foto: Studio Incendo – DSCF5666

Die Fähigkeit zur Korrektur von Fehlentscheidungen, ja bereits das Eingeständnis, dass Fehler gemacht wurden, ist eine der großen Stärken demokratischer Gesellschaften. Die Absenz einer solchen Fehlerkultur in autoritären Staaten, die nichts anderes ist als der Mangel einer Lernkultur, findet sich in einem Nebenstrang des Buches wieder. Aufgebrochen waren M. & H. im letzten Corona-freien Jahr. Am 4. Januar 2020 nahmen sie zum ersten Mal Kenntnis von einer »Lungeninfektion auf dem Festland«. Die Anzahl von Menschen, die sich ihre Mund- und Nasenpartie mit einer Maske bedeckten, nahm in den folgenden Tagen des neuen Jahres rasch zu. Als die beiden am 7. Januar 2020 zurück nach Europa flogen, war die Unsicherheit, die Covid-19 ausstrahlte, bereits greifbar. Marko Martin geriert sich aber nicht als Besserwisser ex-post. Stattdessen sein Eingeständnis: »Lass mal nicht übertreiben. Ist doch so schon….«

Die Geschichte um den Ausbruch des Corona-Virus’ begann für die beiden Reisenden am letzten Tag des Jahres 2019, als die beiden zufällig auf das SARS Memorial Hongkong stoßen. Ein Ort, der an den Ausbruch einer seltsamen Lungenkrankheit im November 2002 erinnert. Wie 2019 informierte die Kommunistische Partei Chinas nicht die WHO über das Schwere Akute Atemwegssyndrom, sondern befahl stattdessen den einheimischen Medien zu schweigen. Drei Monate hatte das Virus damals Zeit, sich in ganz Südostasien auszubreiten. Es forderte innerhalb eines halben Jahres 774 Menschenleben. Hätte die KPCh die richtigen Lehren aus dieser Pandemie 2002/2003 gezogen – vor allem transparent gegenüber der Weltöffentlichkeit und internationalen Institutionen gegenüber zu sein –, sie hätte vielen Menschen Krankheit und Tod 2019, 2020, 2021 und 2022 ersparen können.

Lernfähigkeit, Kritikfähigkeit, Fehlerkultur sind autoritären Systemen nicht inhärent, sie sind ihnen wesensfremd. Ihre Logik ist eine andere: Erhalt der eigenen Macht. Die friedliche Machtübergabe, der institutionalisierte Machtwechsel ist der Kern demokratischer Gesellschaftssysteme. Dort, wo sie hintertrieben werden, wie etwa in den USA am 6. Januar 2021, kann es lebensgefährlich für Demokratien werden. Demokratie lebt nicht nur von ihren Idealen, nicht nur durch ihre Institutionen, sondern auch mit den demokratischen Überzeugungen ihrer Bürger:innen. Die wesentliche Überzeugung besteht im Zweifel an der Unfehlbarkeit der eigenen Position und dem Wissen, dass die Person gegenüber Recht haben könnte. An diesen Dreiklang erinnert uns Marko Marin immer wieder mit seinen Beobachtungen und Reflexionen.

»Die letzten Tage von Hongkong« ist ein ungewöhnliches Buch eines Überzeugungstäters für eine liberale Demokratie. Intellektuell geprägt durch einen »Liberalismus der Furcht«, wie ihn Judith N. Shklar formuliert hat. Ein Liberalismus, der Freiheit dadurch definiert, frei von der Zufügung psychologischer und körperlicher Furcht zu sein. Oder mit den Worten der US-amerikanischen Politikwissenschaftlerin: »Jegliche Konzentration gesellschaftlicher Macht, die Menschen der Furcht aussetzt, ihrer Anstellung, Gesundheit und Bildung beraubt zu werden, ist abzulehnen.«

Demokratiepolitisch fügt sich Marko Martin keinen intellektuellen Moden, keinem kuscheligen Mainstream, keinem Relativismus von Werten. Seine persönlichen Erfahrungen im repressiven System der ehemaligen DDR haben sein Gespür für die richtige Seite der Geschichte entwickeln lassen. Auch deswegen ist sein Hongkonger Reisebericht vom Jahreswechsel 2019/2020 ein so eminent wichtiges Buch.

Die Menschen dort auf den Straßen waren und sind auf der richtigen Seite der Geschichte. Diese Hongkonger:innen glauben an die Ideale der Demokratie, weil ihre Erfahrung zeigt, dass nichts besser ist als diese Gesellschaftsform. Sie zeigen uns auch, dass Demokratie und Liberalismus an der Peripherie erneuert werden. Wir sollten von ihnen lernen.

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