Nein, ein Fan von Angela Merkel ist Alexander Hagelüken wahrlich nicht. Als »passive Kanzlerin« habe sie den »ausgeglichenen Haushalt zum Fetisch erhoben und das Land kaputtgespart«. Sie habe die Digitalisierung, die Solar-Industrie nach China verscherbelt und Innovationen wie den 3D-Druck verschleudert. Ihre 16 Regierungsjahre lähmten immer noch Land.
Die Botschaft von Alexander Hagelükens Buch »Schock-Zeiten« ist klar: Wie Deutschland den wirtschaftlichen Abstieg verhindert – verhindern soll und verhindern kann. Dies ist jedoch leichter geschrieben als umgesetzt, wie die aktuelle Bundesregierung es beinahe tagtäglich unter Beweis stellt. Statt Aufbruch strahlt die aktuelle Ampelregierung hektischen Stillstand, administrative Überforderung und ein genüssliches Gegeneinander aus. Anstatt Deutschland auf einen Wachstumspfad zurückzuführen, scheitert sie nicht nur an strukturellen Problemen, die Hagelüken so deutlich benennt, sondern oft auch an sich selbst.
Die Opposition – leider auch die sonst so pragmatische Union – sowie Teile der Regierung selbst versehen gleichzeitig Fortschrittshemmnisse mit einem Heiligenstatus, die einer sachlichen und in die Zukunft weisenden Wirtschaftspolitik ideologisch im Wege stehen. Die Schuldenbremse ist sakrosankt, die Zurückhaltung des Staates gegenüber der Wirtschaft genießt den Status der Staatsraison und eine ökologische Transformation der deutschen Wirtschaft und Gesellschaft kann nur unter der Bedingung erfolgen, dass sie nichts kosten und schon gar nicht wehtun darf. Die Opposition ruft verhalten nach Subventionsabbau, und schreit laut auf, wenn der beschlossen wird.
Neben diesen finanz- und wirtschaftspolitischen Widerständen gibt aber auch einige gesellschafts- und sozialpolitische Hemmnisse, die einer Modernisierung der Bundesrepublik Deutschland bedürfen. Diese benennt SZ-Journalist Hagelüken unmissverständlich. Deutschland ist längst Einwanderungsland und muss es noch stärker werden. Klar ist: Die Zukunft Deutschlands hängt von den Investitionen in junge Menschen ab und nicht in der Ausweitung von Rentenzahlungen. Klar ist: Der deutsche Arbeitsmarkt verlangt gut ausgebildete, motivierte Frauen und kein Ehegattensplitting. Klar ist: Dynamik und Risikobereitschaft fördert man durch soziale Mobilität und nicht dadurch, dass Reiche immer reicher werden. Klar ist: Digitalisierung ist längst kein Neuland mehr, sondern die Grundlage erfolgreicher und innovativer Ökonomien.
Dass die deutschen Wirtschaftslenker und Politprofis in den letzten Jahrzehnten dabei gerne mit autoritären Staats- und Regierungschefs kuschelten, hat zu verhängnisvollen energie- und wirtschaftspolitischen Abhängigkeiten gegenüber Russland und China geführt. Dass nun einige Politiker:innen, die zwischen 2005 und 2021 bereits in führenden Verantwortlichkeiten standen, Vorschläge unterbreiten, die intellektuell und politisch in den 1990er Jahren zu verorten sind, macht das ökonomische – und ökologische – Dilemma noch größer. Atomkraft ist einer dieser Evergreens…
Es ist aber nicht der Einstieg aus dem Ausstieg aus dem Ausstieg aus dem Ausstieg der Kernkraft – ja, dieses heillose Durcheinander haben uns auch die Regierungsjahre Merkels beschert –, sondern der der rasche Ausbau erneuerbarer Energien. Schließlich werfe, so Hakelüken, eine Solaranlage, eine Wärmepumpe oder eine andere grüne Technik einen dreifachen Gewinn ab: »Sie bremsen den Klimawandel, befreien von fossilen Importdrogen wie Gas – und etablieren deutsche Firmen bei Technologien, die nach und nach die ganze Welt nachfragen wird.«
Diesen Umbau aber gibt es nicht zum Nulltarif, wie schon Horst von Buttlar eindrücklich gezeigt hat. Die Öffentliche Hand und die Politik, so argumentiert auch Hagelüken, müssen investieren und Firmen beim Umbau helfen. Der Gewinn liegt dabei auf der Hand: Erneuerbare sind auf Dauer deutlich günstiger als fossile Energie und deutlich günstiger als jede Kilowattstunde Atomstrom. Es gilt also, das Tempo beim Ausbau Erneuerbarer Energien deutlich anzuziehen. Zwar stammt bereits heute die Hälfte des Stroms aus erneuerbaren Energien, wir wissen aber, dass die Strommenge in Zukunft deutlich ansteigen wird. Bis 2030 müsste sich der Anteil des Ökostroms verdoppeln, bis 2035 gar verdreifachen. Woran es administrativ scheitert, belegt ein Vergleich des Autors: Windparks benötigen neun Jahre, um in Betrieb zu gehen, Terminals für klimaschädliches Flüssiggas hingegen nur ein Jahr. Es scheint, dass es mit dem Deutschlandtempo leider nur vorwärts in die Vergangenheit geht.
Beim Umbau der Energieversorgung in eine postfossile fehlt seit der Regierungszeit Merkels auch etwas Wesentliches: Die Solarindustrie, einst eine Vorzeigebranche, die den deutschen Erfindungs- und Tüftlergeist unter Beweis stellte. Solar Valleys finden sich nun leider nicht mehr in Bitterfeld-Wolfen, sondern in China. Massiv hat die Bundesrepublik die Arbeitsplätze dieser Branche ins Ausland exportiert und ganze Regionen wie etwa Sachsen-Anhalt wirtschaftlich abgleiten lassen. Kontrolliert wird das Solar-Geschäft heute von China, das die Wertschöpfungskette dominiert und einen kräftigen Gewinn macht – etwa 30 Milliarden Dollar im Jahr, so der Autor. Die deutsche Abhängigkeit der Solarbranche von China ist nun gewaltig – »und vielleicht noch bedenklicher als die Gasabhängigkeit von Russland«, wie Kathrin Wiesch in einem Artikel im Handelsblatt am 16. Februar 2023 schrieb.
Während Merkels Regierungen diese Zukunftstechnologie verscherbelte, tritt mit den USA ein weiterer Akteur in den Wettbewerb um die Energiesysteme der Zukunft ein. Mit dem Inflation Reduction Act betreibt der US-amerikanische Präsident eine Industriepolitik at its best. Und nicht nur das – Joe Biden fördert gutbezahlte Jobs im Energie- und Umweltsektor. Unternehmen, die ihr Geld in den Bereichen Solar-, Wind- oder Wasserstoffanlagen, Ladestrukturen für E-Autos oder energieeffiziente Häuser verdienen, erhalten zusätzliche finanzielle Vorteile, wenn sie gute Löhne zahlen. Biden macht diese intelligente Industriepolitik nicht nur deswegen, um die USA ökologisch zu transformieren, sondern er nutzt sie als Instrument gegen Arbeitslosigkeit, gegen Niedriglöhne und gegen die Spaltung in Arm und Reich. Geht es mit deutscher Besserwisserei und dem orthodoxen Glauben an den Ordoliberalismus weiter, kann es dazu kommen, dass Europa nach der Digitalisierung auch das zweite Riesengeschäft der Zukunft, die Dekarbonisierung, an die USA verliert.
Damit Deutschland wieder auf ökonomischen Wachstumskurs kommt, müssten einige Heilige Kühe der deutschen Wirtschaftsliberalen und -konservativen geschlachtet werden, so Hagelüken. Die erste ist der Glauben, dass ein freier Markt alles regeln wird. Dass dies nicht so ist, zeigen folgende Beispiel des Autors: »Sowohl die Finanzkrise 2008 wie auch die Explosion der sozialen Ungleichheit und der skrupellose Aufstieg Chinas haben den Mythos entlarvt, wonach Märkte alles richten – und der Staat bloß nicht eingreifen soll.« Es sind gerade die Staaten, die eine aktive Industriepolitik betreiben, die ökonomisch an Deutschland vorbeiziehen: China, Russland, Japan, Südkorea und die USA.
Die zweite ist die der Schuldenbremse. Der ökonomische und ökologische Umbau Deutschlands kosten Geld. Merkels Regierungen haben es versäumt, das goldene Jahrzehnt zwischen 2010 und 2020 zu nutzen, um massiv in die Infrastrukturen Deutschlands zu investieren. In diesem Jahrzehnt sprudelten die Steuereinnahmen und Schulden hätten zu günstigen Zinssätzen aufgenommen werden können. Merkel und ihre Finanz- und Wirtschaftsministern haben das verpennt. Nun aber stehen Investitionen an. Der klimagerechte Umbau der Energieversorgung etwa wird bis 2030 circa 600 Milliarden Euro kosten. Diese Berechnung hat keine linksgrün versiffte Denkfabrik errechnet, sondern das Beratungsunternehmen Ernst & Young. Das hat zugleich die Summe genannt, die für diesen Umbau im letzten Regierungsjahr Merkels 2021 investiert wurde: weniger als neun Milliarden Euro, ein Bruchteil der nötigen Summe.
Um zu verdeutlichen, wohin die neoliberale Austeritätspolitik der vergangenen Jahrzehnte geführt hat, zitiert der Autor den Ökonomen Moritz Schularick, seit kurzem Präsident des Kiel Instituts für Weltwirtschaft: »Wir haben drei Dekaden neoliberaler Attacken auf den Staat hinter uns. Die Schulen sind nicht in Ordnung, es fehlt an Polizisten und kein Zug fährt pünktlich.« Ja, die empirische Erfolgsbilanz dieser liberal-konservativen Politik ist frappierend, das Festhalten an der »Zukunftsbremse« Schuldenbremse umso mehr.
Weder Schularick noch Hagelüken wünschen sich eine Planwirtschaft zurück, aber sie hoffen auf die Rückkehr des Staates als ökonomischer Akteur und Investor. Es geht nicht um ein Entweder/Oder, sondern um ein Miteinander. Es geht um unternehmerisch-staatliche Kooperationen, um volkswirtschaftliche Missionen, wie sie Mariana Mazzucato beschrieben hat. Auch Mazzucato weiß, dass der Staat keinesfalls der bessere Unternehmer ist. Im Gegenteil, unternehmerische Logiken beschleunigen den Einsatz von Innovationen und nutzen Effizienzen gewinnbringend.
Verglichen mit Asien und Amerika scheint Europa immer mehr zu einem in die Jahre gekommener Kontinent zu werden – demographisch, kulturell und ökonomisch. Viele europäische und vor allem deutsche Firmen verstehen exzellent ihr Handwerk darin, Bestehendes weiterzuentwickeln: Europäische Autos, Maschinen oder Chemieprodukte – die Innovationen der dritten Welle der Industrialisierung – genießen weltweit hohes Ansehen. Es sind jedoch die Innovationen um die Jahrhundertwende 1900. Europa fehlt es an Zukunftstechnik, an Technologien und Innovationen, die in die zweite Hälfte des 21. Jahrhunderts oder gar ins 22. Jahrhundert verweisen. Der Kontinent gerät international ins Hintertreffen. Doch wenn Europa in Zukunft erfolgreich sein möchte in Bereichen wie E-Mobilität, Chemie, Maschinen und Anlagen, Pharma, Biotechnologie, neue Materialien und Künstliche Intelligenz, dann müssen die europäischen Staaten und die EU massiv investieren. Nur so lassen sich viele Millionen Jobs halten oder schaffen. Nur so können die europäischen Unternehmen im Wettbewerb gegen die »staatlich gedopten asiatischen und amerikanischen Rivalen« bestehen.
Deutschland hat sich noch nicht erholt von der Corona-Pandemie. Vor allem hat das Land noch nicht die richtigen Schlüsse daraus gezogen, was die Krisenjahre 2020/21 seinem institutionellen und administrativen Gefüge angetan hat. In seinem klugen Buch »Der entzauberte Staat – Was Deutschland aus der Pandemie lernen muss« schreibt Moritz Schularick, dass die Pandemie ein Muster offengelegt hat, »das auf ein tieferliegendes Problem hindeutet. Wir brauchen eine andere organisatorische und intellektuelle Infrastruktur, um mit künftigen Herausforderungen besser umzugehen. Vater Staat braucht ein Update. Er braucht bessere Daten und eine bessere Vernetzung mit der Wissenschaft. Er braucht auch ein anderes Mindset: Mehr Dynamik, den Willen zum Handeln und das Selbstvertrauen zu erkennen, dass manchmal auch unkonventionelle Lösungen zum Erfolg führen können.«
Dynamik, den Willen zum Handeln und Selbstvertrauen – nein, dieses Mindset ist nicht das Erbe der Kanzlerin Angela Merkel. Für Hagelüken haben ihre 16 Regierungsjahre das Land gelähmt und innovationsavers werden lassen. In einer weltweiten Pandemie in Zeiten der Digitalisierung war im Jahr 2020 die schärfste Waffe der Verwaltung das Faxgerät. Hagelüken: »Der Schock der Pandemie legte brutal offen, was sich schleichend als Versagen angesammelt hat.«
Erstaunlicherweise wiederholt sich hier Geschichte, denn dieses Muster zeigte sich auch 1998, als die damalige rot-grüne Bundesregierung ein Land mit sklerotischen Strukturen, mit einer steigenden Arbeitslosigkeit und mit einem überforderten Sozialstaat übernahm. Damals zeichnete der Economist das Bild Deutschlands als dem kranken Mann Europas. Die aktuelle rot-grün-gelbe Bundesregierung hat im Dezember 2021 die Regierungsgeschäfte für ein Land übernommen, das dem von 1998 gleicht. Neben dem Erbe der Jahre 2005 bis 2021 muss sie zugleich Klimawende, Industriepolitik, Digitalisierung, Bildung und die Folgen des demografischen Wandels angehen.
Sie hat das im Krisenjahr 2022 kraftvoll getan, 2023 war jedoch ein annus horribilis. Die Fortschrittskoalition hat sich als Stillstands- und Gegeneinander-Koalition entpuppt. Wenn es ihr nicht gelingt, die Zukunftsideen der Grünen mit dem Versprechen der Sozialdemokratie »You’ll never walk alone« und dem unternehmerischen Methodenset der Liberalen zu verbinden, dann wird es keine Reform mit dem Charakter einer staats- und gesellschaftspolitischen Innovation wie die Agenda 2010 geben. Deutschland braucht aber eine Vielzahl von wirtschafts-, staats- und gesellschaftspolitischen Innovationen. Nicht zuletzt die Union hat diese Innovationen bitter nötig, sollte sie wieder an die Regierung kommen. Dass sie es aus sich heraus nicht kann, hat sie in den Jahren 2005 bis 2021 bewiesen.
2023 war für viele Bürger:innen ein anstrengendes Jahr. Sie haben erfahren, dass Transformation nicht nur Fremdwort ist, sondern Konsequenzen für das eigene Leben bedeuten. Diese Veränderungen mit intended and unintended consequences werden weitergehen, egal ob die Deutschen das wollen oder nicht. Diese Transformationen werden auch kommen, wenn die Bundesregierung wieder einmal von der Union gestellt wird.
Die Menschen in Deutschland, so Hagelüken, stehen vor anstrengenden und fordernden Jahren und Jahrzehnten. Das außenpolitische Gefüge hat sich in den letzten Jahren enorm verändert und durch den Überfall Russlands auf die Ukraine eine neue Beschleunigung erfahren. Ein erneuter Wahlsieg Donald Trumps bei den Präsidentschaftswahlen im November 2024 könnte die letzten Gewissheiten einer transatlantischen Verbundenheit hinwegfegen. Das deutsche Exportmodell – die Grundlage des Wohlstands in Deutschland – steht in den Sternen, der Klimawandel verlangt Veränderungen, die Auswirkungen des demografischen Wandels sind bereits zu sehen, schlagen aber erst in den kommenden Jahren richtig zu.
Nein, es sind keine Wohlfühlanalysen, die Alexander Hagelüken uns in »Schock-Zeiten« präsentiert. Aber wichtige. Und er gibt uns eben auch Hinweise, wie ein wirtschaftlicher Aufschwung in Deutschland zu bewerkstelligen ist.
Die deutsche Gesellschaft hat jahrzehntelang sehr gut von einem klugen demokratischen Verständnis des Kompromisses gelebt. Dieses Verständnis muss Rot-Grün-Gelb intern vorleben, dann hat sie auch die Chance, die staatstragenden Personen der Opposition für den nötigen Umbau und die erforderliche Beschleunigung zu gewinnen. Dies wird auch die Gesellschaft honorieren. Oder mit den Worten des Autors: »Die Deutschen brauchen mehr Zusammenhalt und weniger Egotrips, um sich in diesen Schock-Zeiten die Hände zu reichen und gegen den Abstieg zu stemmen.« Das Potential und die Fähigkeit hat dieses Land weiterhin.