Gesellschaft, Sachbuch

Vielleicht wird doch alles gut

Der französische Ökonom Thomas Piketty hat mit seinem neuen Buch zur »Kurzen Geschichte der Gleichheit« zurück zum Optimismus gefunden. Nachdem er in seinen vorangegangenen Werken die (neo)liberale Wachstumsideologie bloßgestellt hat, zieht er längere historische Linien und sieht in der Neuausrichtung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen inmitten der Krise eine Chance für mehr Gerechtigkeit.

Thomas Piketty ist wohl der wichtigste Ökonom der Gegenwart. Seine beiden Hauptwerke »Das Kapital im 21. Jahrhundert« (2014) und »Kapital und Ideologie« (2020) waren nicht nur Beststeller, sie sind in der Zwischenzeit Klassiker der Wirtschaftswissenschaften. Mit ihnen hat sich der französische Wirtschaftswissenschaftler als Experte der ökonomischen Ungleichheit etabliert. Im Zentrum seiner Arbeiten stehen dabei die Aspekte Einkommens- und Vermögensverteilung. Eine seiner Beobachtungen ist diejenige, dass die Kapitalrendite (r) historisch meist größer sei als das Wirtschaftswachstum (g). Daraus folge zwangsläufig die Gleichung r > g. Das Vermögen derjenigen, die bereits reich seien, wachse schneller als das derjenigen, die ihr Einkommen als Angestellte verdienen. Weiterhin führe ein unregulierter Kapitalismus, wie wir ihn in der Dekade des Neoliberalismus zu verzeichnen hatten, unweigerlich zu einer steigenden Vermögenskonzentration. Problematisch sei dies, so Piketty, da starke Vermögenskonzentration eine stagnierende Wirtschaft zur Konsequenz habe, was die Demokratie bedrohe.

Nach diesen eher pessimistischen Einschätzungen Pikettys liest sich seine aktuelle »Kurze Geschichte der Gleichheit« deutlich optimistischer. Bereits zu Beginn schreibt er, dass in der Geschichte der Gleichheit eine langfristige historische Tendenz zu mehr sozialer, ökonomischer und politischer Gleichheit gäbe. »So ungerecht sie scheinen mag, die Welt der beginnenden 2020er Jahre ist egalitärer als die von 1950 oder 1900, die ihrerseits in zahlreichen Hinsichten egalitärer war als die Welt von 1850 oder 1780.«

Thomas Piketty und sein facettenreiches Werk

Das Diktum, dass es seit dem Ende des 18. Jahrhunderts eine langfristige Tendenz zu mehr Gleichheit gäbe, findet sich in seiner Schrift immer wieder. Revolutionen, Kriege, Aufstände sowie Wirtschafts- und Finanzkrisen (siehe hierzu auch Pikettys Analysen in »Die Schlacht um den Euro«) seien die Schlüsselmomente, in denen soziale Konflikte offen zu Tage traten und die Kräfteverhältnisse neu definiert werden mussten. Soziale und ökologische Widersprüche sind daher auch in Zukunft bedeutend. Konflikte und Krisen im gegenwärtigen Wirtschaftssystem verlangen ökonomische wie gesellschaftliche Neujustierung und bieten die Chance für mehr Gleichheit. Voraussetzung dafür seien kollektive Lern-, Aneignungs- und Mobilisierungsprozesse, die neue politische Programme und institutionelle Ansätze hervorbringen könnten.

Die ökologischen Widersprüche betont Piketty auch deshalb, weil sie den dialektischen Fortschritt der Moderne unterstreicht. Er betont an einer Stelle, dass sowohl die Weltbevölkerung als auch das Durchschnittseinkommen seit dem 18. Jahrhundert um mehr als das Zehnfache gewachsen ist. Und er ergänzt an einer anderen Stelle, dass dieser Bevölkerungs-, Produktions- und Einkommenszuwachs seit dem 18. Jahrhundert jedoch nur um den Preis einer Überausbeutung natürlicher Ressourcen möglich war.

Er reißt damit das Spannungsfeld auf, in dem die Menschen gefangen sind. Einerseits sei es Anliegen und Bedürfnis, im Einklang mit der Natur zu leben, gleichzeitig aber verbraucht der Hunger nach Wohnraum, Nahrung, Kultur und Gerechtigkeit enorme Ressourcen. Für ihn spielt Gerechtigkeit und die Ausbildung entsprechender Normen auch deshalb eine so wichtige Rolle, um das globale Wirtschaftssystem neu zu organisieren, wie er bereits in Arbeiten wie »Für ein anderes Europa« (2015), »Die weltweite Ungleichheit: World Inequality Lab« (2017), »Der Sozialismus der Zukunft« (2021) oder »Rassismus messen, Diskriminierung bekämpfen« (2022) gezeicgt hat. Im Zentrum steht dabei immer der faire Ausgleich zwischen Reichen und sozial Schwachen. Nur, indem die sozioökonomischen Ungleichheiten abgebaut werden, gäbe es für den Autor Lösungen in der Umwelt- und Klimakrise. Soziale und ökologische Gerechtigkeit bedingen sich also. Eine Erkenntnis, die sich bei den deutschen Sozialdemokraten nur bedingt findet, wird doch häufig das Soziale gegen die Ökologie ausgespielt.

Pikettys Ausgangsthese, dass es zwar langfristig eine Tendenz zu mehr Gleichheit gäbe, schließt seine Kritik, dass sich die Ungleichheit weiter auf einem hohen, »ja untragbaren« Niveau befinde, nicht aus. In Frankreich besäßen zu Beginn dieser Dekade »die reichsten 10 Prozent mehr als 55 Prozent (und die reichsten 1 Prozent mehr als 25 Prozent) dessen, was es zu besitzen gibt, während die ärmsten 50 Prozent fast nichts haben (kaum 5 Prozent des Gesamteigentums)«.

Weltweit sieht es noch düsterer aus, wie die Entwicklungsorganisation Oxfam in ihrem jüngsten Bericht zeigte. Während die zehn reichsten Menschen der Welt ihr Vermögen seit 2019 auf insgesamt 1,5 Billionen US-Dollar verdoppeln konnten, sind am unteren Ende der Weltbevölkerung weitere 160 Millionen Menschen in Armut gerutscht. Gleiches gilt für Deutschland. Während die Quandts, Würths und Kühnes im gleichen Zeitraum ihr Vermögen von 144 Milliarden auf 256 Milliarden US-Dollar nahezu verdoppeln konnten, erreicht die Armutsquote mit 16,1 Prozent ein nie dagewesenes Hoch.

Die Konzentration des Eigentums in den Händen weniger ist also weiterhin extrem, innerhalb des Gesamtrahmens gebe es aber deutliche Verschiebungen, so Piketty. Es sei im 20. Jahrhundert eine vermögende Mittelschicht entstanden, die es davor nicht gegeben habe. Treiber dieses Wandels waren das Erstarken eines Sozialstaats, die Durchsetzung einer gewissen Gleichheit des Zugangs zu Grundgütern wie Bildung und Gesundheit, die Einführung einer stark progressiven Steuer auf hohe Einkommen und Vermögen. Neben den Folgen der Kriege und Wirtschaftskrisen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sei der Aufstieg der Mittelschicht vor allem auf diese neuen Sozial- und Steuerpolitiken zurückzuführen, die vor allem in den Dekaden zwischen 1950 und 1980 durchgesetzt wurden.

Die Fähigkeit zu Sozial- und Steuerpolitiken sowie die Ausweitung des Rechts zugunsten der Nichteigentümer verweist auf eine Bedingung: die Entstehung und Entwicklung durchsetzungsstarker staatlicher Strukturen. Die Geschichte des modernen Kapitalismus ist damit eng mit der Geschichte des Staates verbunden. Kapital und Macht, Politik und Ideologie verweisen somit permanent aufeinander. Und weil die Weiterentwicklung unseres Wirtschaftssystems ein unabgeschlossener Kampf sei, sei auch der Weg zu mehr Gleichheit und zur Stärkung der Würde der Arbeit unabgeschlossen.

Ein beeindruckendes Beispiel liefert Piketty dafür aus Schweden, das sich zu Beginn des Jahrhunderts binnen weniger Jahrzehnte von einem extrem inegalitären System in einen Staat verwandelte, der längst als Leuchtturm einer relativ egalitären Gesellschaft gilt. Veränderung ist also möglich!

Wie in Schweden wurde zwischen 1914 und 1980 in der westlichen Welt wie auch in Japan, Russland, China und Indien ein Sozialstaat spektakulär auf- und auf unterschiedliche Weisen die Eigentums- und Vermögensungleichheiten stark abgebaut. Der Autor nennt diese Jahre die Ära der großen Umverteilung. Bedingung dazu war auch der Steuerstaat, der seine Wurzeln bereits im 18. Jahrhundert hatte. »Die neuen Einnahmen haben die Finanzierung von Ausgaben ermöglicht, die nicht bloß für den Abbau von Ungleichheiten unerlässlich waren, sondern auch dafür, das Wachstum anzukurbeln.«

Reduzierung der Ungleichheit, Ausweitung von Möglichkeiten, Intensivierung von Innovationen und Steigerung des Wirtschaftswachstums sind eng mit einer fairen Besteuerung verbunden. Dass wohlhabende Menschen entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit besteuert wurden, sorgte für eine reale wie auch gefühlte Steuergerechtigkeit zwischen 1914 und 1980. Heute allerdings sähe dies anders aus, schreibt Piketty. »Die reale Progression ist verschwunden, wenn nicht der Regression gewichen, da die Reichsten mitunter in den Genuss eines niedrigeren effektiven Satzes als die Mittel- und Unterschichten kommen und die Steuersätze von Großunternehmen häufig unter denen von kleinen und mittleren liegen. Politisch liegt darin eine massive Gefahr für die Steuerakzeptanz und die Legitimität des gesellschaftlichen Solidarsystems insgesamt.«

Der Ära der großen Umverteilung folgten Jahrzehnte der Regression. Der Washington-Konsens setzte auf Staatsabbau, Austerität, Deregulierung in allen erdenklichen Hinsichten sowie der Liberalisierung des Handels, der Finanzmärkte und des freien Kapitalverkehrs. Wenn der Weg zu mehr Gleichheit weiterhin beschritten werden soll, müssen gerade diejenigen Institutionen gestärkt werden, die sich im Laufe des 20. Jahrhunderts bewährt haben: Sozialstaat und ein gerechter Steuerstaat inklusive einer progressiven Steuer. Für Piketty impliziert das die Perspektive eines demokratischen, selbstverwalteten und dezentralisierten Sozialismus, der auf Selbstverwaltung und permanenter Macht- und Eigentumszirkulation beruht. Dies ist für den französischen Ökonomen das Gegenmodell zu den Systemen eines zentralisierten und autoritären Staatssozialismus, wie ihn das 20. Jahrhundert in Form des Sowjetblocks erlebt hat und wie er aktuell in China rasche Verbreitung erfährt.

In mehreren Kapiteln widmet sich der Autor intensiv den Fragen des Kolonialismus und möglichen Auswegen aus dem Neokolonialismus. Ebenso verweist er darauf, dass der Sozialstaat der Nachkriegsjahrzehnte ein zutiefst sozial-patriarchalischer sowie ein national-sozialer war. In den Nationalstaaten des Nordens entwickelte sich ein System sozialer Sicherungssysteme mit Investitionen in Bildung und Infrastruktur, die in erster Linie der eigenen Bevölkerung zugutekommen sollten. Fragen der internationalen Verantwortung blendet(e) dieses Modell großzügig aus. In seinem Buch »Rassismus messen, Diskriminierung bekämpfen« hatte Piketty schon darauf hingeweisen, dass es ein neues und besseres universalistisches Modell braucht, das die Antidiskriminierungspolitik in den allgemeinen Rahmen einer Sozial- und Wirtschaftspolitik stellt, die auf Gleichheit und Universalität abzielt und die Realität von Rassismus und Diskriminierung wahrnimmt.

In dem bestehenden Weltwirtschaftssystem sei allerdings ein Fehler eingewoben. Einerseits gelte international bei den Beziehungen zwischen Ländern die Freiheit von Kapital- und Güterverkehr. Andererseits betreffen die die Entscheidungen zu Steuer und Recht das innere Gefüge dieser Länder und sind einer strikt nationalen Souveränität vorbehalten. Beide Postulate seien miteinander unvereinbar. Sie bevorzugen die mobilsten und mächtigsten Akteure und schaffen »de facto eine neue Form der Zensusmacht zum Wohle der Reichsten«.

Eine Lösung, die Piketty skizziert, sei eine Europäische Versammlung, die sich aus nationalen Abgeordneten zusammensetzt und befugt wäre, eine Reihe haushalts-, steuer- und sozialpolitischer Beschlüsse zu fassen. Neben dieser Idee ist es vor allem Pikettys Postulat eines demokratischen, partizipativen und föderalen, ökologischen und multikulturellen Sozialismus. Dieser setze die langfristige Tendenz zu mehr Gleichheit, die aus seiner Sicht seit Ende des 18. Jahrhunderts besteht, fort.

Sozialisiert in Frankreich arbeitet Piketty ohne Scheu mit Begriffen wie Sozialismus, die in deutschen Kontexten auf Vorbehalt stoßen. Aber erst der Begriff selbst ermögliche es ihm, Debatten über alternative Regime zu führen, wie er es beispielsweise schon in »Der Sozialismus der Zukunft. Interventionen« (2021) getan hat. Dies sei vor allem nach der Finanzkrise von 2008 nötig und Alternativen gegenüber den inegalitären und klimatischen Sackgassen des gegenwärtigen Wirtschaftssystems zu schaffen. Nur durch starke gesellschaftliche Mobilisierungen von sozialen Bewegungen und politischen Organisationen können gemeinsame Ziele definiert und die Kräfteverhältnisse verschoben werden. Seine »Kurze Geschichte der Gleichheit« versteht Piketty daher als intellektuellen Beitrag dafür, den Weg zur Gleichheit weiterzugehen – ein Weg »mit ungewissen Ausgang, kein im Voraus abgesteckter Weg«.

Thomas Piketty: Eine kurze Geschichte der Gleichheit. Aus dem Französischen von Stefan Lorenzer. Verlag C.H.Beck 2022. 264 Seiten. 25,00 Euro. Hier bestellen.

Piketty hat eine wichtige Botschaft gesetzt: Ein Mehr an Gleichheit ist auch in Zukunft möglich. Es wäre die Fortsetzung eines historischen Wegs, der vor mehr als 200 Jahren eingeschlagen wurde. Dass der Ausbau des Wohlfahrtsstaates und die Weiterentwicklung des Steuersystems für eine weitreichendere Umverteilung gesorgt haben, wissen wir aus den Dekaden Ende des Ersten Weltkriegs bis 1980. Wie aber die Verhältnisse, die sich in den letzten 40 Jahren etabliert haben, sich konkret ändern können und wer die entscheidenden Akteure bei dieser Transformation sein könnten, darüber erfahren wir leider nur wenig in diesem Buch.

Dass der französische Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty bei den Präsidentschaftswahlen auf einen national-sozialen Politiker setzte, widerspricht eigentlich seinen eigenen Erkenntnissen. Jean-Luc Mélenchon ist meines Erachtens nur bedingt mit Pikettys Ziel eines demokratischen, partizipativen und föderalen, ökologischen und multikulturellen Sozialismus in Deckung zu bringen. Der wissenschaftliche Optimismus aber, dass eine bessere Welt möglich ist, zeichnet »Eine kurze Geschichte der Gleichheit« aus. Ein Buch, das in seiner Perspektive Mut macht, in den Lösungen aber zu vage bleibt.

2 Kommentare

  1. […] Womit wir beim lesenswerten und einsichtsreichen Buch »Das grüne Jahrzehnt« von Horst von Buttlar wären. Für ihn revolutioniere die Klimakrise die Wirtschaft, was den Umbau der Energieversorgung hin zu den Erneuerbaren Energien aber auch die Entwicklung von Produkten und Dienstleistungen der deutschen Wirtschaft angehe. »Dafür müssen wir die Energieversorgung komplett umstellen, Fabriken umrüsten, neue Fabriken hochziehen, Infrastrukturen austauschen, Leitungen, Netze, Anlagen und manche Wirtschaftszweige, die dem Klima schaden, müssen sich komplett neu erfinden – oder sie werden verschwinden.« Der russisch-ukrainische Krieg mache den Umstieg auf erneuerbare Energien zwar komplizierter und herausfordernder, habe aber die Entschlossenheit von Regierungen und Unternehmen, die die grüne Revolution vorantreiben, verstärkt. Der französische Ökonom Thomas Piketty sieht in seinem aktuellen Buch deshalb auch eine Chance, die grüne Transformation auch zum gesellschaftspolitischen Umbau für mehr Gerechtigkeit zu nutzen. […]

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