Springer-Unternehmer Christoph Keese hat ein Buch über visionäre Erfinder geschrieben, die mit marktwirtschaftlichen Instrumenten die Grenzen des Möglichen verschieben. Anhand von Beispielen aus den Bereichen Energie, Kommunikation, Mobilität, Gesundheit und Bildung zeigt er auf, wie technologischer Fortschritt und digitale Innovation Mensch und Gesellschaft voranbringen können.
Christoph Keese ist einer der spannendsten Beobachter, Erklärer, Deuter und Agent der Digitalisierung in Deutschland. Kaum einer versteht und erahnt die Veränderungen, die sich mit Internet, Daten, digitalen Plattformen, IoT, KI und Industrie 4.0 ergeben. Als Journalist ist er in einer Branche groß geworden, die ganz besonders von den digitalen Disruptionen betroffen ist. Als Executive Vice President bei Axel Springer trieb er für den digitalen Umbau des Konzerns voran. Aktuell ist Christoph Keese Chief Executive Officer von hy, einem Consulting Unternehmen von Axel Springer. Hy unterstützt Unternehmen dabei, sich digital zu transformieren: »We support leaders in turning their organizations into 21st century winners.«
Mehrfach lebte Keese im Silicon Valley und spürte sowohl den Stars der Digitalisierung wie den Digitalhandwerkern nach, die unsere Welt verändert haben und weiter verändern. Als 2013 die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel das Internet als Neuland entdeckte, verbrachte er als sogenannter Visiting Fellow ein halbes Jahr im kalifornischen Palo Alto. Seine Erfahrungen mit Startups und den großen Internetkonzernen in Kalifornien schrieb er in seinem Buch »Silicon Valley – Was aus dem mächtigsten Tal der Welt auf uns zukommt« nieder, das 2014 erschien. Dieses Buch ist ein Staunen über die Kraft der digitalen Disruption, über technologischen Fortschritt, globalen Gestaltungsanspruch, über digitale Chancen und Möglichkeiten sowie über das Billionen-Geschäft der Digitalisierung. Vor lauter Staunen und Begeisterung übersah Keese aber auch schon damals nicht die Schattenseiten der Entwicklungen. Dass etwa diejenigen, die etwas Reales produzieren und im Realen arbeiten, ins Abseits gedrängt werden. Keese erzählte etwa von den gut bezahlten Techies des Silicon Valleys, die die Bewohner:innen San Franciscos aus deren Wohnungen verdrängen.
Zwei Jahre später veröffentlichte Christoph Keese mit »Silicon Germany« das Nachfolgewerk. Der Untertitel »Wie wir die digitale Transformation schaffen« zeigt deutlich die Stoßrichtung des Buches auf: Es appelliert an die Unternehmer:innen in Deutschland, den digitalen Umbau als Chance zu verstehen und entsprechend Tempo aufzunehmen. Klar war und ist: Viele der wertvollsten Unternehmen der Welt sind inzwischen die Digitalkonzerne aus Kalifornien, währenddessen die deutschen Großkonzerne in den globalen Ranglisten abrutschen. Keeses Analyse: Die deutsche Industrie investiert viel weniger in die digitale Transformation als Unternehmen in den USA und in Großbritannien.
Nun also veröffentlicht Keese ein weiteres Buch zur wirtschaftlichen Zukunft Deutschlands, die digital sein wird oder nicht sein wird. Mit »Life Changer« ist dem Autor auch diesmal ein spannendes, anregendes und lehrreiches Buch gelungen, auch wenn man nicht all seinen Annahmen und Analysen folgen möchte. Es geht darin um die Life Changer, jene Menschen wie den Tesla- und Twitter-Chef Elon Musk oder die BioNTech-Gründer:innen Ugur Sahin und Özlem Türeci. Getrieben werden sie von visionärem Erfindergeist, ihre Hebel sind marktwirtschaftliche Instrumente, mit denen sie die Grenzen des Möglichen verschieben.
Ihr intellektuelles und unternehmerisches Grundgesetz beruht auf »deduktivem Denken«: Sie leiten aus einem allgemeinen Prinzip eine konkrete Folge ab. Sie unterscheiden sich von jenen Personen, die sich vom »induktiven Denken« – man schließt vom Besonderen auf das Allgemeine – oder gar vom »analogen Denken« – man schließt vom Besonderen auf das Besondere – bestimmen lassen. Diese Lebensveränderer sind unermüdlich im Dienst des Fortschritts unterwegs und haben mit ihren Gründungen ein besseres Leben zum Ziel.
Keese greift in seinem neuen Buch auf Argumentationen zurück, die sich bereits in »Disrupt Yourself – Vom Abenteuer, sich in der digitalen Welt neu erfinden zu müssen« aus dem Jahr 2018 finden. Darin bemängelt er, dass für viele die Zukunft lediglich die Verlängerung der Vergangenheit in die Zukunft sei. Dies sei das Denken von Controller:innen und Buchhalter:innen. Ihre Art, in Analogien zu denken, führe in einer sich rasch verändernden Umwelt häufig zu falschen Schlüssen. Disruptoren oder Gamechanger hingegen arbeiten an der Abschaffung des Hinfälligen. Dieses Prinzip, das Keese vor vier Jahren auf die Ebene von Individuen und Unternehmen entwickelt hat, wendet nun in seinem Buch auf die Wirtschaft und Gesellschaft in Deutschland in Gänze an.
Dieses – unser – Land bringt dabei eine wesentliche Stärke mit, die sich in ihrer gesellschaftlich-politischen Verfassung findet. Deutschland ist eine liberale Demokratie, ein freiheitlicher Staat, eine Gesellschaft mit einer offenen Debattenkultur. Freiheitliche Staaten, so Keese, sind in keiner anderen Disziplin so gut wie im Lernen. Problemlösungen bedürfen der Kreativität, und Kreativität gedeiht eben am besten in freien und pluralen Gesellschaften. Diese Wertschätzung für Demokratie, Liberalismus und Freiheit ist die große Stärke von »Life Changer«. Sie verwirft alle autoritären Überlegungen als ökonomisch zum Scheitern verurteilt. Mit dem Blick zurück auf die Politik der letzten Dekaden gegenüber Russland und China ist dies eine politisch kluge und moralisch richtige Grundannahme.
Keese ist nicht nur ein Demokratie-Fan, sondern eben auch Experte von Innovation und Disruption. Er orientiert sich dabei an dem Ökonomen und Nobelpreisträger Edmund Phelbs, für den Innovation eine neue Methode oder ein neues Produkt darstellt, das irgendwo in der Welt zu einer neuen Praxis wird. Innovation bewähren sich in der Anwendung und in der Praxis. Sie entwickelt sich graduell sowie in vielen kleinen Verbesserungen und unterscheidet sich dadurch von Technologien, die oft sprunghaft und in großen Schritten entstehen.
Keese greift auf das Konzept von Napoleon Hill zurück, bei dem der US-amerikanische Schriftsteller sechs Urängste des Menschen ausmacht: Armut, Kritik, Krankheit, Verlust eines geliebten Menschen, Alter und Tod. Es sind laut Keese jene Dinge, die wir Menschen am dringendsten vermeiden möchten und bei denen das Innovationsbedürfnis am größten ist. Innovationen nach Napoleon Hill und Christoph Keese sind dann als Fortschritt zu verstehen, wenn sie dabei helfen, den Urängsten den Boden zu entziehen. Die Digitalisierung habe dabei in den letzten Jahren keinen besonders guten Job gemacht, denn Lieferservices, Fotosharing-Apps und soziale Medien in der heutigen Ausprägung genügen den Bedürfnissen der Menschheit nur in Grenzen. »Nach Jahrzehnten der digitalen Steigerung unserer Bequemlichkeit ist es nun an der Zeit, unser Innovationsgeschick zur Behebung existentieller Probleme anzuwenden.«
Wie schon in seinem Buch »Silicon Valley« erkennt der Autor klar die negativen Entwicklungen der Digitalisierung. Für ihn ist der digitale Clickworker kein gelungenes Gegenmodell zum gut ausgebildeten und hoch bezahlten Facharbeiter der Industrie. Digitalisierung muss mehr hervorbringen können als ein algorithmisch organisiertes Prekariat. Die Auswirkungen sind aber nicht nur auf individueller Ebene zu sehen, sondern auch auf gesellschaftlicher. E-Commerce und Onlineshopping sind natürlich auch Ursache für den rapiden Verfall der öffentlichen Räume. Wo sich der stationäre Handel nicht mehr lohnt, räumen Bücher-, Blumen- und Elektroläden, Boutiquen, Einrichter, Handwerker und Restaurants das Feld. Die letzten Dekaden betrachtet nicht nur Keese, sondern auch andere Technik-Apologeten als eine verlorene Ära. Eine Ära, die als die bekanntesten digitalen Innovationen Zeittotschläger wie YouTube, Facebook und Twitter hervorgebracht haben.
An diesem Punkt möchte Keese jedoch nicht stehen bleiben, sondern er macht anhand der Themenkomplexe Energie, Kommunikation, Mobilität, Gesundheit, Ernährung und Bildung deutlich, wie technologischer Fortschritt und digitale Innovation Mensch und Gesellschaft voranbringen können. Gehen wir auf zwei, drei Beispiele gesondert ein.
Im Kapitel Energie stellt Keese die Frage, woher der Strom kommen soll, den wir dafür benötigen, um das Klima zu retten. Seine Prognose: Wir werden deutlich mehr Strom benötigen, als wir heute produzieren. Die rund 25.000 Terawattstunden Strom (1 Terawattstunde = 1 Milliarde Kilowattstunden), die die Menschheit zurzeit pro Jahr verbraucht, werden bis zum Jahr 2050 auf etwa 40.000 Terawattstunden ansteigen. Die Reduktion des Treibhausgases CO2 führt zu einem Anstieg der Stromproduktion, nur so können wir nachhaltige Energien gewinnen. Bei einem gewünschten Netto-Null-Kurs wächst der Strombedarf sogar auf 60.000 Terawattstunden pro Jahr an. Diese Rechnungen, so Keese, stimmen allerdings nur unter der Bedingung, dass die Effizienz der Energienutzung dramatisch anwachsen muss. Ohne gesteigerte Effizienz würde der Energiebedarf noch viel höher ausfallen. Wie diese Energielücke gigantischen Ausmaßes geschlossen werden kann, treibt viele um und macht Energie zu einem der heißesten Investitionsfelder. Im letzten Jahr gaben Investoren Wagniskapital 47 Milliarden Dollar für den Energiesektor aus. »Energie ist die strukturgebende Kraft des Universums und des Lebens. Alles andere, was wir noch erreichen wollen, hängt von ihr ab. Technologie kennt daher kein größeres Ziel, als unsere Energieprobleme zu lösen.«
Die letzten beiden Jahre haben die Bedeutung von Gesundheit betont. Ohne Gesundheit ist die Menschheit, wie wir in den Corona-Lockdowns erlebt haben, zum Stillstand gezwungen. Gesundheit ist deshalb derjenige Wirtschaftsbereich, der an Stelle der Automobilindustrie als die wesentliche Zukunftsbranche Deutschlands treten kann. Dabei ist Pharma in Zukunft mehr, als lediglich Pillen zu drehen. Biotechnologie ist eine holistische Gesamtwissenschaft, bei der jeder Fortschritt einer Einzeldisziplin die Wahrscheinlichkeit von Fortschritten in anderen Disziplinen erhöht.
Wie kein anderes deutsches Unternehmen steht BioNTech für diese Vermählung aller Wissenschaften zu einer. Keese preist diese Firma als pures Know-how und als Inbegriff der Wissensgesellschaft. Anhand von BioNTech verweist der Autor erneut auf die Bedingung einer freien Gesellschaft. Die kritische empirische Methode bildete die Grundlage für den Erfolg des Unternehmens. Keine Gewissheit, sondern Neugier, keine Meinungen, nur Hypothesen, Disput bestimmt den Austausch, Erkenntnisse halten nur so lange, bis sie widerlegt werden. »Aus diesen Tatsachen folgt in der Konsequenz, dass Rettung vor Krankheit und Tod höchstwahrscheinlich aus Firmen und Gesellschaften kommt, die lebendig und offen diskutieren, in denen es erlaubt ist, seine Meinung zu ändern, wenn neue Fakten vorliegen, und in denen wissenschaftliche Beweise akzeptiert werden.« Menschen wie Ugur Sahin und Özlem Türeci wachsen vor allem in freien Gesellschaften auf.
CRISPR, mRNA, Zell- und Gentechnologie revolutionieren aktuell die Medizin, wie wir sie kennen und wie sie bislang vor allem in Deutschland produziert wird. Die medizinischen Innovationen lässt Lifesciences entstehen, die Anlass zu bedeutenden Hoffnungen geben kann. Deutschland ist dabei nicht vorne dran, sondern in einer Pharmazie steckengeblieben, die auf die zweite Welle der Industrialisierung mit den Innovationen in Chemie, Maschinenbau und Automobil zurückgeht. Die relevante Forschung zu Zell- und Gentherapie wurde in den letzten beiden Dekaden zu 90 Prozent von den USA und China geleistet, von den verbleibenden 10 Prozent trägt Deutschland zumindest die Hälfte bei. Biotechnologie und Lifesciences sind nun in der Lage, den Code des Lebens schnell und preiswert auszulesen, individualisierte Medikamente zu produzieren und damit die Krankheit eines einzelnen Menschen passgenau entgegenzuwirken sowie vermeidbare, ansteckende Krankheiten in armen Ländern zu bekämpfen. Es bedarf politischer und gesellschaftlicher Herausforderungen, den künftigen Fortschritt von Medizin, Biotech und Lifesciences in produktive Bahnen zu lenken. Zum individuellen Wohl aller sowie – im Sinne von Mariana Mazzucato – als ökonomische Mission einer ganzen Branche in Deutschland.
Der zukünftige wirtschaftliche Wohlstand in Deutschland wird davon abhängen, ob wir – Öffentliche Hand, private Unternehmen sowie Bürger:innen Deutschlands – in die Zukunft Deutschlands investieren. Die modernste Volkswirtschaft der Welt im Jahr 2040 – so das Wunschbild des Autors – wird es nicht zum Nulltarif geben. Keeses Buch ist ein Aufruf dafür, mehr Geld in den technologischen Aufbruch unserer Landsleute zu investieren, als wir das bislang tun. Heute bereits werden in Deutschland die Technologien für die Zukunft entwickelt, von Menschen in diesem Land, an Institutionen in den verschiedensten Bundesländern, die von Steuerzahler:innen der BRD finanziert werden. Oft suchen gerade diese Innovatoren händeringend nach Geld. Weil es ihnen hier in einem der reichsten Länder der Welt nicht in ausreichender Höhe gegeben wird, wandern sie entweder aus oder verkaufen ihre Firmen an Investoren aus den USA oder China. »Jede Million, die ein junges deutsches oder europäisches Life-Changer-Unternehmen nicht von hier, sondern aus dem Ausland bekommt, kann in der Zukunft Milliardenverluste für den Standort bedeuten. Geiz kann teuer sein.«
Dabei lohnt sich ein Blick in die Geschichte Deutschlands. Der hiesige wirtschaftliche Erfolg in den 1970er Jahren war das Resultat massiver Investitionen in den 1950er und 1960er Jahren. Etwa vier Prozent des Bruttoinlandsprodukts wurden in diesen beiden Jahrzehnten für Wachstumsfinanzierung ausgegeben. Es war vor allem privates Geld in Form von Bankkrediten, das in Innovationen und Erfindungsreichtum gepumpt wurde. Während Mitte des 20. Jahrhunderts vier Prozent des Bruttoinlandsprodukts in Innovationen floss, ist diese Quote im Jahr 2019 auf magere 1,1 Prozent gefallen. Aktuell investiert Frankreich – gemessen an seiner Wirtschaftskraft – 1,5-mal mehr Wagniskapital in Zukunftstechnologien als Deutschland, Großbritannien 2,7-mal mehr, China 4,1-mal mehr und die USA 5,2-mal mehr. Ohne mutige und zukunftsorientierte Finanzierungen wird Deutschland den Titel als Exportweltmeister in Zukunft nicht verteidigen können.
Deutschland weist eine einzigartige Kombination aus technischem Geschick und finanziellem Reichtum auf, eine Kombination, für die es von vielen anderen Ländern beneidet wird. Eine in den letzten Jahren und Jahrzehnten unambitionierte und denkfaule Politik, ein dysfunktionaler Bankensektor und ein Wohlstand, der eher auf Vergangenheit als auf Zukunft ruht, haben diesem Land viel Substanz gekostet. Das Fett an der deutschen Wirtschaft wird für etliche noch einige Jahre reichen. Die Zukunft wird so aber nicht gewonnen. Diese Erkenntnisse machen »Life Changer« von Christoph Keese so lesenswert.
[…] Innovation gibt es nicht umsonst […]
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