Gesellschaft, Sachbuch

Debug oder: Die soziologische Entzauberung der Black Box

© Thomas Hummitzsch

Armin Nassehi ist der homo ludens der Soziologie. Rasend intelligent, aufs Blut provokativ, rhetorisch ein Genuss. Berechenbar ist er nur in seiner Unberechenbarkeit. Mit »Muster« hat er nun das Buch geschrieben, dass uns nicht nur die digitalisierte Moderne, sondern auch die Wirkung der immer wechselnden Gadgets erklärt.

Wenn die gesammelte Academia die Gründe eines gesellschaftlichen Problems analysiert und benennt, so muss man nicht lange darauf warten, dass Nassehi seine entgegengesetzte Meinung kundtut. Selten weiß man, ob er nun seine Meinung kundtut oder dem Publikum vorführt, welche Möglichkeiten des Denkens ihm eigentlich offenstehen. Zurück bleiben die Fragen: Was meint Nassehi ernst? Und: Wie ernst meint Nassehi es?

Nassehi ist nicht nur public intellectual, sondern auch ein soziologisches Schwergewicht. Einer, den die Deutsche Gesellschaft für Soziologie erst vor zwei Jahren für seine »herausragende Leistungen auf dem Gebiet der öffentlichen Wirksamkeit der Soziologie« auszeichnete. Seit 1998 hat er einen Lehrstuhl für Soziologie an der Universität München inne, wo er sich mit Problemen der Kultur- und Religionssoziologie, Wissens- und Wissenschaftssoziologie und der Politischen Soziologie beschäftigt. Seine Art, Soziologie zu betreiben, schließt an die Systemtheorie von Niklas Luhmann an, was sich auch in seinem jüngsten Buch »Muster« niederschlägt.

»Muster« war für mich der Topfavorit für den Sachbuchpreis der Leipziger Buchmesse. Dass es diesen Preis nicht erhielt, lag an dem ebenso guten Werk »Krebs fühlen. Eine Emotionsgeschichte des 20. Jahrhunderts« von Bettina Hitzer, das in der Zeit einer um sich greifenden Corona-Krise wohl das aktuellere war. Mit »Muster« verarbeitete Nassehi – und der Untertitel »Theorie der digitalen Gesellschaft« verrät es – ein zeitloses wie aktuelles Thema: die Digitalisierung.

Armin Nassehi: Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft. Verlag C.H. Beck 2019. 352 Seiten. 26,- Euro. Hier bestellen

Warum war die Digitalisierung so erfolgreich? Warum haben wir Menschen uns so schnell auf diese Technologie eingelassen? Warum konnte sich Digitalisierung so gut, so tief und so selbstverständlich in unser Alltagsleben integrieren? Das sind die einfachen Ausgangsfragen des Münchner Soziologen. Oder mit seinen Worten: »Für welches Problem ist die Digitalisierung eine Lösung?« Nassehis Antwort lautet, dass die Digitalisierung nicht als Fremdkörper eindrang oder sich von außen an die Moderne heranpirschte. Im Gegenteil, Digitalisierung gehörte vielmehr schon immer zum Wesen moderner Gesellschaften. Nassehi bricht mit dieser Erklärung – und das ist die Stärke seines Buches – den Mythos, die Digitalisierung habe eine in sich geordnete und bestens funktionierende analoge Welt zerstört. Fremd- und Selbstbeobachtung, Selftracking und Selbstoptimierung sind inhärente Bestandteile moderner Gesellschaften, lediglich die Gadgets haben sich verändert.

Nach »Muster« war die gesellschaftliche Moderne immer schon digital, weil »Digitaltechnik letztlich nur die logische Konsequenz einer in ihrer Grundstruktur digital gebauten Gesellschaft ist«. Zwei Merkmale stellen das Wesen der Moderne dar: ihre Digitalität und ihre Komplexität. Sie sind konstitutiv für und strukturell in die Moderne eingewoben. Auf diese Komplexität bezieht sich Digitalisierung, die Regelmäßigkeit der Gesellschaft selbst ist ihr Bezugsproblem. Die Moderne war und ist stets auf der Suche nach Ordnung durch Kennzahlen, Quantitäten, Mustern. Nassehi widerspricht der Vorstellung, dass Modernisierung den Verlust von Ordnung darstellt, im Gegenteil, Modernisierung weist auf Ordnung/Ordnungen hin, sie bildet Ordnung/Ordnungen.

Die Digitale Revolution als gesellschaftliches Phänomen der Moderne ist somit eine Revolution der gesellschaftlichen Komplexität selbst. So sei die vormoderne Gesellschaft in Hierarchien – oben, unten – geschichtet. Moderne Gesellschaften sind geordnet nach – wie Nassehi es im systemtheoretischen Sprech nennt – sachorientierten Funktionen wie Politik, Ökonomie, Recht, Wissenschaft, Medien, Medizin, Erziehung/Bildung und anderen. Die Moderne ist also, so Nassehi, nicht das Ende einer Ordnung. Digitalität ermöglicht nun, diese Ordnungen erstmalig und neu zu entdecken und zu erkennen.

Diese neue Gesellschaft entdeckt – und hier ist ein Verweis auf die Soziologie als wissenschaftliche Wegbereiterin zur Entdeckung enthalten – sich in drei Phasen. Im 18. und 19. Jahrhundert rund um die Französische Revolution erkennt sie, dass Zukunft nicht die Fortschreibung der Gegenwart ist, sondern ein gesellschaftlicher Auftrag, das Neue zu schaffen. Sie generiert neuartige Ordnungen mit neuen Rechten und arrangiert neue Institutionen für den neuen Nationalstaat mit einem neuen Volk. Vor lauter Wunschdenken, das Neue zu gestalten, gab es aber damals auch die Erfahrung von struktureller Trägheit. Residuen des Gestern bleiben, sie weichen dem Neuen nicht.

Diese Erfahrung gilt auch für die nächste Phase im 20. Jahrhundert, die die sozialen Liberalisierungen und gesellschaftlichen Pluralisierungen entdeckt. Gesellschaftliche Inklusion und soziale Mobilität, plurale Lebensformen und Demokratisierung der Öffentlichkeit haben die Welt neu kombiniert, haben der Welt neue Muster gegeben. Bei allen Reformen und Veränderungen gilt auch für das 20. Jahrhundert die Feststellung, dass gesellschaftliche Strukturen nicht so leicht zu verändern waren, wie man es erwartet hatte. Nun aber steht mit der digitalen Entdeckung die dritte – und »vielleicht sogar endgültige« – Entdeckung der Gesellschaft bevor. Für alle Entdeckungen der Gesellschaft gilt die Beobachtungen, dass sie veränderlich wie veränderungsresistent sind. Leider geht Nassehi nicht darauf ein, inwieweit digitale Gesellschaften träge sind und Residuen des Gestern weitertragen.

Klar geworden sein muss, dass es für Nassehi bei den Entdeckungen moderner Gesellschaften eine enge Verschränkung mit der Soziologie beziehungsweise ihren protowissenschaftlichen Vorläuferinnen gibt. Schaffung, Planung und Steuerung von Gesellschaften bedürfen grundlegender Daten und ihrer Interpretation. »Die Zentralisierung von Herrschaft in Nationalstaaten, die Stadtplanung und der Betrieb von Städten, der Bedarf für die schnelle Bereitstellung von Waren für eine abstrakte Anzahl von Betrieben, Verbrauchern und Städten/Regionen hat die Datenverarbeitung hervorgebracht.«

Daten – analoge wie digitale – und die Fähigkeiten, sie zu verarbeiten sind die Bausteine dessen, was Nassehi mit Verdoppelungen bezeichnet. So legt er den Beginn der Digitalisierung der Gesellschaft auf die Frühzeit der Moderne, just zu dem Moment, als der Buchdruck eine neue, mechanisierte, vervielfältigbare Form der Schriftlichkeit und damit die Voraussetzung schafft, sich wie ein Netz über die gesellschaftlichen Praktiken zu legt und damit eine zweite Realität zu erzeugen, die in einem Wechselspiel ineinander eingreifen. Realität verdoppelt sich. Verdoppelungen werden damit selbst zum Teil der Gesellschaft. Der Geist der Kybernetik entsteht dann, als Schriftlichkeit sich wie ein zweiter Layer über die Welt legt als »Kosmos einer geschriebenen Welt«. Im Gegensatz zu einer frühmodernen Konfiguration befinden sich in unserer modernen und funktional differenzierten Gesellschaft unterschiedliche Verdoppelungen nebeneinander: Verdoppelungen für die Ökonomie, die Politik, die Kultur, das Recht, die Wissenschaft oder die Religion. Klar ist: »Daten verdoppeln die Welt, enthalten sie aber nicht.«

Seit dem Beginn der frühmodernen Medienrevolution wird die Welt in Datenform übersetzt, seit dem 19. Jahrhundert wird unter diesen Datenpunkten nach Mustern gesucht, um Unsichtbares sichtbar zu machen. Moderne Digitaltechnik ist sogar in der Lage, nicht nur angenommenes Unsichtbares sichtbar zu machen, sondern gar unknown unknowns zu destillieren und an die Öffentlichkeit zu bringen.

Eine wesentliche Rolle für diese Entdeckungen spielt die Einfachheit digitaler Daten. Für den Autoren ist diese Einfachheit der Daten der Schlüssel für ihre Wirksamkeit. Es ist vor allem ihre binäre Codierung, die eine unglaubliche Anzahl von operativen Möglichkeiten schafft. Die radikale Reduktion auf eine Zeichenfolge lässt diese Potenz(ierungen) zu. Oder in den Worten Nassehis: »Daten sind zugleich grenzenlos in ihren Möglichkeiten, aber radikal begrenzt auf sich selbst. Ihre Offenheit ist eine Funktion ihrer Geschlossenheit. Sie kennen nicht die Welt, sondern nur sich selbst, und verdoppeln die Welt doch mit dem, was sie tun.«

Was noch geleistet werden muss, ist die Übersetzung der Daten in Fragen und Antworten. Hier greift das Werk der Computertechnologie, die die Komplexität der gesellschaftlichen Moderne sichtbar macht. Eine Technologie – dies sei in Klammern, aber in Fortführung der Antwort auf die Frage, warum Digitalisierung so erfolgreich werden konnte –, die als Black Box, als Wundermaschine ihre Arbeit macht. Dass Technik funktioniert, ist ihr unschätzbarer Vorteil, darauf verweist Nassehi immer wieder. Technische und gesellschaftliche Zweifel am Digitalen, so die Beobachtung von Nassehi, lösen sich immer dann auf, wenn sich die Digitaltechnik als Technik auch praktisch bewährt. Und das tut sie. »Gerade weil sie sich geradezu nahtlos in die gesellschaftliche Funktionsweise einfügt, erscheint sie spätestens dann, wenn sie in ihren konkreten Anwendungsgebieten funktioniert, nicht mehr als fremd, sondern kommt der Praxis der Gesellschaft selbst entgegen.«

Diese Digitaltechnik ist in der Lage, die Welt in Daten zu repräsentieren, um Muster und Strukturen zu erkennen, die mit bloßem Auge und den Wahrnehmungs- und Rechenkapazitäten des natürlichen Bewusstseins nicht erfasst werden können.

Laut Nassehi haben die qualitativen Veränderungen gesellschaftlicher Komplexitätslagen erhöhte Berechnungen bedurft. Die Vermessung der Gesellschaft ist keine quantitative Aufgabe, sondern eine qualitative. Dies ist die Geburtsstunde der Soziologie. Somit ist auch die die Digitalisierung weniger ein soziales als vielmehr ein soziologisches Phänomen. »Eine Soziologie der Digitalisierung ist genau genommen eine Soziologie der Soziologie, denn die Fragen, die sich als digitale Fragen stellen, sind soziologischen Fragen unmittelbar verwandt.« Und so ist das abschließende Kapitel – vom Münchner Soziologen im Digitalisierungssprech »Debug« genannt – mit »Die Wiedergeburt der Soziologie aus dem Geist der Digitalisierung« überschrieben.

Neben der Entwicklung und Verdeutlichung seiner Thesen streut Armin Nassehi noch die eine oder andere Trouvaille in seine Studie. Seine Ein- und Auslassung über Privatheit – Privatheit 1.0 vs. Privatheit 2.0 – lassen die Beobachtungsgabe und den feinen Humor des Soziologen immer wieder durchscheinen: »Oft wird der Verlust von etwas beklagt oder etwas zu retten versucht, das es so nie gab.« Hier sind sie dann doch zu finden, die Residuen des Gestrigen.

Wie Nassehi den französischen Ethnologen und Strukturalisten Claude Lévi-Strauss in seine Deutungen einarbeitet, um die Dysfunktionalitäten einiger User auf dem politischen rechten Rand zu erklären, ist brillant. Lévi-Strauss hatte einst kalte und heiße Gesellschaften voneinander unterschieden. Die erste verwendet ihre Energie darauf, den Status quo zu erhalten. Die zweite hingegen ist wachstumsorientiert, strebt nach dem Neuen und gibt sich mit dem Status quo nicht zufrieden. Den Unterschied zwischen heißen und überhitzten Gesellschaften verdeutlicht Nassehi folgendermaßen: »Heiße Gesellschaften lernen systematisch, überhitzte Gesellschaften lernen nicht, sondern kollabieren an der eigenen Dynamik.«

Trotz der schlichten und gerade deswegen intellektuell so beeindruckenden Ausgangsfrage und trotz der Brillanz, wie Nassehi sie beantwortet, bleiben ein, zwei Kritikpunkte am Ende stehen. Da erinnert mich Armin Nassehi an die Art, wie Carl Schmitt schriebt. Jeder Satz für sich ist klar. Aneinander gereiht verunklaren sie. Dies mag der soziologischen Herkunft Nassehis von der Systemtheorie geschuldet sein, die eine eigene Sprache und dadurch einen hermetischen Zugang geschaffen hat. Systemtheorie hat mir immer wieder neue, andere Blicke auf die Gesellschaft mit großem Erkenntnisgewinn ermöglicht. Dass sie für mich, der leider kein Experte für Systemtheorie ist, immer allzu mechanistisch, wenig menschlich operiert, sei nur kurz erwähnt.

Aber auch für Nicht-Systemtheoretiker liegt die wahre Stärke Nassehis darin, dass er uns vor zu viel Naivität schützt. Wie er im Stile von Helmuth Plessner unsere kleingeistigen Hoffnungen auf klare, einfache Gesellschaften, die Hoffnung, eine Gesellschaft zusammenzuführen, beiseite streift und auf die Grenzen der Gemeinschaft verweist, das ist großer intellektueller Sport. Dafür hat sich die Lektüre allemal gelohnt.

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