Judith N. Shklar war neben Hannah Arendt eine der einflussreichsten politischen Denkerinnen des 20. Jahrhunderts. Sie plädierte für einen Liberalismus mit sozialem Antlitz. Überlegungen, warum das Denken von Judith N. Shklar in unsere Zeit passt.
Der Liberalismus hat in seiner mehr als dreieinhalb Jahrhunderte währender Geschichte schon bessere Zeiten erlebt – sowohl in seiner theoretischen Ausgestaltung wie in seiner parteipolitischen Materialisierung. Es scheint, dass die Zeit des Liberalismus zu Ende geht oder bereits zu Ende gegangen ist. In Deutschland zumindest ist der Liberalismus auf dem intellektuellen Niveau einer »vulgären Freiheit von Verboten als Schnitzel- und Auspuffliberalismus« angekommen. Diesen Niedergang, wie Gustav Seibt ihn in Worte gefasst hat, hat eine politische Philosophie nicht verdient, die persönliche Freiheit und Selbstverantwortung als relevante Aspekte moderner Gesellschaften betont.
Und so bemühen sich etliche Intellektuelle, liberales Denken politisch wieder fruchtbar zu machen, jüngst etwa Andreas Reckwitz, Jan-Werner Müller und Christoph Möllers. Alle drei möchten das politische Projekt Liberalismus in unterschiedlichen Formen wiederbeleben, das spätestens im Jahr 2008 in eine Krise geriet. Damals verschränkten sich gleich mehrere Formen von Liberalismuskritik ineinander, nämlich – wie Jan-Werner Müller es ausdrückt – »eine populistische Kritik an den heuchlerischen ‚liberalen Eliten‘ und eine sehr viel grundlegendere an der ‚liberalen Moderne‘ als solcher, bei der Liberalismus und Neoliberalismus als in der Tat untrennbar dargestellt wurden.«
Bei seinem Versuch, den Liberalismus aus diesem Gestrüpp berechtigter Kritik zu befreien und ihn als politische Philosophie wiederzubeleben, reaktiviert der Professor aus Princeton eine Denkerin, die in den USA bereits als Klassikerin gilt, die es in Deutschland erst noch zu entdecken gilt: Judith Shklar. Wer ist diese Frau?
Geboren 1928 als Judita Nisse wuchs sie mit ihren beiden Schwestern in einer gutbürgerlichen, jüdisch-atheistischen-agnostischen Familie in Riga auf. Ihr Vater Aron war Unternehmer, ihre Mutter Agnes Kinderärztin. Nach dem deutschen Überfall auf Polen 1939 floh die Familie aus Furcht vor einer drohenden Okkupation Lettlands nach Stockholm. Mit falschen Pässen ging es für die Nisses über Schweden durch die Sowjetunion nach Japan und von dort weiter an die Westküste der USA, wo sie zunächst als illegale Einwanderer in Internierungshaft gerieten, sich jedoch anschließend in Kanada niederlassen konnten. Judith, wie sie sich nun nannte, begann 16-jährig zunächst Politikwissenschaften an der McGill University in Montreal zu studieren, wechselte 1951 an die Harvard University, wo sie das Studium 1955 mit dem Ph.D. abschloss. Sie konnte dort ein Jahr später ihre wissenschaftliche Karriere unter den damals üblichen frauenskeptischen bis -feindlichen Umständen fortsetzen und ihre ersten Bücher schreiben. 1971 erhielt Judith Shklar als erste Frau eine Festanstellung im Government Department der Harvard University, zunächst als lecturer, 1980 schließlich als Professor of Government. 1992 verstarb Judith Shklar, gerade einmal mit 63 Jahren, an einem Herzinfarkt und hinterließ ihren Mann Gerald Shklar wie ihre drei Kinder.
Dita Shklar muss eine brillante Intellektuelle gewesen sein, ihr Freund und Kollege Stanley Hoffmann sagte über sie, »she was by far the biggest star of the department«. An anderer Stelle nannte der Politikwissenschaftler sie »the most devastatingly intelligent person I ever knew here«. Hoffmann ist auch derjenige, der Shklars wohl einflussreichsten Essay posthum veröffentlichte, »Liberalism of Fear«.
Es ist Hannes Bajohr zu verdanken, dass dieser Essay seit einigen Jahren in deutscher Übersetzung zugänglich ist. Der Medienwissenschaftler an der Universität Basel gibt seit einigen Jahren Schriften Shklars für den Verlag Matthes & Seitz heraus, unter anderem »Liberalismus der Rechte« und »Liberalismus der Furcht«, auf die sich die folgenden Überlegungen stützen. Es sind überschaubare, aber dichte Eindrücke in das Denken von Judith Shklar.
Auch wenn Shklar vor allem mit der Begrifflichkeit »Liberalismus der Furcht« rezipiert wird, so ordnet sie ihn in ein größeres Setting ein. In ihrem Essay »Rechte in der liberalen Tradition« aus dem Jahr 1992 nennt sie vier Arten des Liberalismus: Erstens den Liberalismus der individuellen Selbstentwicklung, zweitens den Liberalismus der Rechtssicherheit, den sie mit der Herrschaft des Gesetzes in eins setzt, drittens den Liberalismus der Furcht sowie viertens den Liberalismus der Rechte. Diese vier Arten verweben sich ineinander und beziehen sich immer wieder auf jeweils andere Arten. In diesem Essay schildert Shklar ihr Kurzprogramm des Liberalismus der Furcht, nämlich: »Dem Liberalismus der Furcht bedeutet Freiheit nicht einfach, keinen Beschränkungen zu unterliegen, sondern frei von der Zufügung psychologischer und körperlicher Furcht zu sein.« Und sie führt weiter aus: »Jegliche Konzentration gesellschaftlicher Macht, die Menschen der Furcht aussetzt, ihrer Anstellung, Gesundheit und Bildung beraubt zu werden, ist abzulehnen. In seiner elementarsten Form fürchtet dieser Liberalismus die Furcht selbst.«
Was Shklar so schillernd macht, ist ihre Vielschichtigkeit. Ein Denken in Schwarz-Weiß-Kontrasten lässt sie nicht zu, sie sieht die Farbpalette dazwischen und so erkennt sie den Staat stets in seiner Doppelrolle, nämlich als Garant wie als Gefährder von Freiheit und Sicherheit. Und wo ihr Denken rasch an die aktuelle Situation andocken kann, ist die soziale Dimension ihres Liberalismus. Shklars Liberalismusvorstellungen sind ein Schlag ins Gesicht eines kalten, individualistischen und unsozialen Neoliberalismus. Mit den Worten der Philosophin: »Den Liberalismus der Furcht mit einem demokratischen Ethos zu verbinden, verlangt den Abbau sozialer Ungleichheiten.«
Wenden wir uns dem Essay »Der Liberalismus der Furcht« genauer zu. Den Ausgangspunkt ihres Liberalismus findet Shklar in einem einzigen übergeordneten Ziel, nämlich diejenigen »politischen Bedingungen zu sichern, die für die Ausübung persönlicher Freiheit notwendig sind«. Für jede liberale Ordnung sollte es die Norm sein, dass erwachsene Menschen in der Lage sind, ohne Furcht Entscheidungen über das eigene Lebens zu treffen, wenn sie nicht die Freiheit anderer Menschen betreffen. Diese Überzeugung machte den Kern der Überlegungen für Judith Shklar aus, ist sie doch »die ursprüngliche und allein zu rechtfertigende Bedeutung von Liberalismus«.
Sie verortet den Beginn dieses Liberalismus der Furcht im Europa der Nachreformationszeit, als Furcht die individuelle (Glaubens-)Freiheit verunmöglichte – durch hoheitliche oder staatliche Strukturen. Die Konfessionskriege im 16. und 17. Jahrhundert lösten deshalb so schreckliche Spannung innerhalb des Christentums aus, weil die Gläubigen zwischen den Ansprüchen des rechten Glaubens und den Forderungen der Nächstenliebe – zwischen Glaube und Moral – zerrissen waren. Glaubensfreiheit als die wichtigste Angelegenheit im Leben der Menschen des konfessionellen Zeitalters bedeutete einen gewaltigen Schritt in Richtung Liberalismus. »Die elementarste Grundlage des Liberalismus von Anfang zu vorhanden: Es ist die aus tiefstem Schrecken geborene Überzeugung der frühesten Verfechter der Tolerierung, dass Grausamkeit ein absolut Böses ist, ein Vergehen gegen Gott oder gegen die Menschheit. Aus dieser Tradition ging der politische Liberalismus der Furcht hervor.«
Hier unter anderem unterscheidet sich Shklars Denken von dem einer Hannah Arendt etwa, der sie – vielleicht von ihrer Verehrung der griechischen Denkschule – eine heldenhafte Auffassung des Individuums unterstellt. Während Arendt in ihrer Totalitarismus- und Massentheorie davon ausgeht, dass die politisch manipulierbare Mehrheit ein Mob ist, ist Shklar der Ansicht, dass diese Mehrheit vor allem aus den de-privilegierten, ungeschützten Individuen am unteren Ende der gesellschaftlichen Fahnenstange besteht.
Die Trennung zwischen den Sphären des Öffentlichen und des Privaten ist essenziell für den Liberalismus, diejenigen politischen Doktrinen, die diese Trennung aufheben (wollen), gilt es abzulehnen. Der Sprung von Religionskriegen in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts ist daher ein kurzer. Der 30-jährige Bürgerkrieg zwischen 1914 und 1945 ist Lehre und Mahnung dafür, die Freiheit von Machtmissbrauch und der Einschüchterung Wehrloser stets gesichert werden muss. Staatliche Stellen und öffentliche Macht sind mit Skepsis und Vorsicht zu begegnen, Shklar hat die Exzesse staatlicher und regierungsamtlicher Funktionsträger auf verschiedensten Ebenen erleben können und müssen.
Die Politikwissenschaftlerin nimmt daher einen Perspektivenwechsel und mahnt den Vergleich der Geschichte der Armen mit der Geschichte der jeweiligen Eliten an. Es sind die Armen und Schwachen, die vor Grausamkeit zu schützen sind. »Der Liberalismus muss die Übel der Grausamkeit und Furcht zum grundlegenden Maßstab seiner politischen Praktiken und Vorschriften machen können. Die einzige Ausnahme von dieser Vermeidungsregel ist die Verhinderung noch größerer Grausamkeit.«
Es ist die Aufgabe von Politik – vor allem von liberaler Politik –, Vorschläge zu erarbeiten und zu implementieren, wie Machtmissbrauch verhindert werden kann. Nur wenn Menschen frei von Furcht und Vorurteil sind, können sie ihr Leben nach ihren eigenen Überzeugungen und Neigungen führen. Menschen als empfindungsfähige Wesen, deren körperliche – und, nimmt man sie ernst, auch psychische – Unversehrtheit garantiert werden muss – das ist das essenzielle Plädoyer des Liberalismus der Furcht. Gerade dieser Aspekt von Shklars Denken ist Jan-Werner Müller bei der Formulierung eines »anderen Liberalismus« wesentlich. Es gilt den an den Konflikten Beteiligten, und vor allem denen, die sich als benachteiligt betrachten, genau zuzuhören. »Diese Forderung – so simpel wie überzeugend wie auch dringend – stand im Mittelpunkt von Shklars Liberalismus der Furcht.«
Wer sind nun diese, die genau zuhören? Es sind wir! Wir, die gut informierten, wachsamen und selbstbestimmten Erwachsenen. Nur die staatliche Form der Demokratie bringt diese Art von Bürgerinnen und Bürger hervor. Denn: Demokratien verteilen Macht. Nur sie weisen Institutionen mit einer pluralistischen Ordnung, mit multiplen Machzentren und institutionalisierten Rechten auf. »Ohne die Institutionen der repräsentativen Demokratie, eine für alle zugängliche, faire, unabhängige und Berufungen zulassende Judikative und eine Vielzahl politisch aktiver Gruppen ist der Liberalismus in Gefahr. Der ganze Zweck des Liberalismus der Furcht ist, dies zu verhindern. Man kann deshalb mit Recht sagen, dass er monogam, treu und dauerhaft mit der Demokratie verheiratet ist – jedoch in einer Zweckehe.«
Auch hier noch einmal die Absage Shklars an einen reduktionistischen Neoliberalismus, der auch gut ohne demokratische Strukturen leben könnte, können diese doch in das übergeordnete Prinzip sich selbst regulierender Märkte eingreifen. Das Zentrum von Shklars Überlegungen sind historische Erfahrungen des Menschen, nicht utopische Prinzipien und Ideale. Ihr Liberalismus bleibt stets »vollkommen nicht-utopisch«. Er ist aber am Ende eben auch ein Liberalismus – ein Liberalismus mit sozialem Antlitz und allenfalls »eine amerikanische Version der Sozialdemokratie« (Michael Walzer), aber bestimmt keine europäische sozialdemokratische Variante. Shklar fußt auf amerikanischen Konzeptionen individueller Freiheit und Skepsis gegenüber dem Staat. Die Renaissance staatlichen Handelns, die sich – zurecht – in Corona-Zeiten zeigt, würde sie vielleicht begrüßen. Es gilt schließlich, Menschen durch eine Krise frei von Furcht zu bringen. Zugleich würde sie darauf verweisen, dass die Ausweitung von Staatsmacht zugleich die Bedrohung impliziert, Freiheit einzuschränken. Den Neo-Etatismus, der sich bei fast allen deutschen Parteien aktuell zeigt, sähe sie skeptisch. Der Fehler eines (zu) schwachen Staates der letzten vier Dekaden wird durch den neuen Fehler eines (zu) starken Staates nicht wettgemacht.
Zum Schluss stellt sich die Frage, warum Judith Shklars »Liberalismus der Furcht« erst in den letzten Jahren rezipiert wurde. Mir erscheint es, dass 1989 die falsche Stimmung für einen so zurückzugezogenen, bescheidenen und so wenig triumphalen Liberalismus herrschte. Während die Scorpions vom »Wind of Change« sangen und Francis Fukuyama das »Ende der Geschichte« verkündete, wärmte Shklar die Erfahrungen aus der Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wieder auf – unzeitgemäß irgendwie. Zwar hat Jan-Werner Müller in »Furcht und Freiheit« darauf aufmerksam gemacht, dass das Ende des Zeitalters der Ideologien auch als Krise empfunden wurde, und zwar gerade als intellektuell-politische Identitätskrise. Schließlich hatten sich, so Müller, Liberale während des Kalten Krieges in der Auseinandersetzung mit dem real existierenden Sozialismus immer wieder ihrer eigenen Überzeugungen versichern müssen.
Der Fall der Berliner Mauer und das Verschwinden des Eisernen Vorhangs waren dennoch Signale für eine optimistischere Zukunft – trotz der Kriege am Golf und in Ex-Jugoslawien. Ökonomisch startete der Neoliberalismus durch und ordnete die Volkswirtschaften gesamt Osteuropas. Erst die ökonomische und finanzielle Krise der Jahre nach 2008 konnten zu einer Neuformulierung liberalen Denkens führen. Die Furcht vor Ereignissen, die man nicht beeinflussen kann, war zurück. Der politische (Neo-)Liberalismus war damals erst einmal gescheitert. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass Hannes Bajohr den Essayband »Liberalismus der Furcht« gerade in dem Jahr veröffentlichte, als die deutschen Bürgerinnen und Bürger die FDP nicht mehr den Bundestag wählten.
Shklar hätte einem Sozialstaat als Almosenstaat, der soziale Gerechtigkeit im Sinne einer trickle down theory versteht, widersprochen. Einem Staat, der das Soziale als fürsorgliche Belagerung verstanden hätte, hätte sie wohl ebenso widersprochen. Die Balance von Fordern und Fördern, von Unterstützung und Ermächtigung ist aktuell nicht gefunden. Sie zu finden, ist eine dringende Anforderung an alle Parteien, die in einer liberalen Tradition stehen. Shklar legt die Bedingungen fest, diese Anforderungen zu definieren. Gerade deshalb ist ihr Denken heute so aktuell wie vor mehr als 30 Jahren.
Ein letztes Aber: Judith Shklar ist Tochter ihrer Zeit. Ihre Überlegungen und ihre Erfahrungen wurzeln tief im 20. Jahrhundert. Wie steht es nun mit den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts? Mit dem Aufstieg einer Weltmacht, die Leninismus und Neoliberalismus, Kommunismus und Kapitalismus miteinander verbindet? Wie steht es mit den Herausforderungen des Klimawandels? Mit der großen Beschleunigung des Anthropozäns? Rettet sich der Liberalismus wirklich, wenn wir die Verfehlungen des Neoliberalismus ad acta legen und dafür Shklars defensiven Liberalismus wiederbeleben? Sind sie und ihr Denken wirklich für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts kompatibel? Vielleicht ist es zu kurz gegriffen, den Liberalismus als politische Philosophie lediglich neu formulieren zu wollen, es erscheint mir gegenüber der Dringlichkeit und der Größe der kommenden Probleme als inadäquat. Aber ein Liberalismus, wie ihn Shklar versteht, bietet uns Elemente, um eine neue politische Philosophie, die die individuelle Freiheit als zentral versteht, zu bauen. Dies ist nach der Lektüre von »Liberalismus der Furcht« offensichtlich.
[…] Liberalismus und Demokratie führen eine Zweckehe […]
[…] Liberalismus und Demokratie führen eine Zweckehe […]
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