Klassiker, Literatur

Sofort ein Meisterwerk

»Tage in Burma« von George Orwell | Foto: Thomas Hummitzsch

Siebzig Jahre nach George Orwells Tod erscheinen mehr als ein Dutzend Neuübersetzungen seiner Romane. Manfred Allié hat das Debüt des britischen Dystopisten, den Kolonialroman »Tage in Burma« übersetzt. Hier gibt er Auskunft, warum es sich lohnt, nicht nur zu den Klassikern des Briten zu greifen.

Manfred Allié, warum lohnt sich die Lektüre von George Orwells Romanen heute noch? Was macht sein Debüt so besonders?
Die Dinge, über die Orwell schreibt, in den frühen wie in den späten Büchern, sind so aktuell wie eh und je. Das wäre die eine Antwort: Die Lektüre lohnt sich, weil er etwas zu sagen hat. Daß er es auf originelle und packende Weise macht, wäre der zweite Grund. Und außerdem lohnt sich natürlich die Lektüre jedes historischen Buches um des Historischen willen.
Das Besondere am Debüt war, daß Orwell als Schriftsteller schon sozusagen fertig auf die Welt kam: Hier findet man keine tastenden Versuche, sondern er hat auf Anhieb ein Meisterwerk geschrieben. Auch die Art, wie die Handlung von weltanschaulichen Vorstellungen getrieben wird, ist hier schon voll entwickelt. Und wir haben das, wodurch er immer wieder so unmittelbar wirkt: seinen Idealismus.
Viele werden das autobiographische Element interessant finden – Flory ist zwar nicht Orwell, aber er verarbeitet viele eigene Erfahrungen, schreibt sich seine eigene Zeit in Burma von der Seele. Alles an diesem Buch ist, trotz der Überspitzung, authentisch.

Wie unterscheidet sich der Roman stilistisch von den bekannten Klassikern »1984« und »Farm der Tiere«?
Stilistisch unterscheidet es sich von den späteren Werken nicht so sehr wie oft behauptet wird. Was die poetischen Beschreibungen und die Metaphorik angeht, war Orwell später »klassischer«, aber zum Beispiel den Hang zur Melodramatik hat er nie abgelegt, auch die Art nicht, sie pädagogisch zu nutzen. Was den Einsatz des Grotesken und Absurden als Verfremdungseffekt angeht, war er nie besser als hier.

In seinem Debütroman verarbeitete George Orwell seine Dienstzeit als Polizeibeamter in Burma und zeichnete ein verheerendes Bild der britischen Kolonialherrschaft, durchdrungen von Korruption, Bigotterie und imperialem Hochmut. Im Mittelpunkt steht der britische Teakholzhändler John Flory, der sich im Gegensatz zu den im Roman auftretenden Imperialbeamten für die burmesische Kultur und Lebensweise interessiert. Er würde zwischen Kulturen vermitteln, doch wo er auch auftaucht, wartet schon das gefühllos dumme Herrenmenschentum der britischen Kolonialisten. Die drückende Hitze und der undurchdringliche Dschungel vermitteln motivisch die vermeintliche Gefahr des Fremden. »Tage in Burma« (Aus dem Englischen von Manfred Allié. Dörlemann Verlag 2021. 464 Seiten. 20,99 Euro) zeigt mit wenigen Figuren die ganze Bigotterie des Kolonialismus auf.

Was war Ihnen bei der Neuübersetzung des Romans besonders wichtig?
Mir war natürlich wichtig, den ideologischen Gehalt gut herauszuarbeiten. Ansonsten bin ich an das Buch mit derselben Absicht herangegangen wie an alle meine Übersetzungen: Die Wirkungsmechanismen des Originals so getreu wir möglich nachzuahmen, so daß das Leseerlebnis für heutige deutschsprachige Leser dem der Originalleser so ähnlich wie nur möglich ist. Das heißt nicht, daß die Übersetzung in allem wörtlich sein muß – oft muß man sich sogar Freiheiten nehmen, um einen Effekt getreu nachbilden zu können.
Wichtig war es mir, nichts Unkonventionelles zu glätten; die bisweilen surrealen Bilder sind im Deutschen genauso, wie sie im Original sind, die Perspektivik ist genau nachgebildet. Keinerlei Zugeständnisse werden an politisch korrekten Zeitgeschmack gemacht: ein orwellscher Nigger ist auch in der Übersetzung ein Nigger.

Bei »1984« und »Farm der Tiere« liegt es auf der Hand, warum diese Romane bis heute nichts an Aktualität verloren haben. Wie ist das mit seinem Debüt? Was können wir heute noch aus dieser Darstellung der britischen Kolonialherrschaft in Burma lernen?
Wenn Sie Burma gelesen haben, wissen Sie, daß diese Frage eine rhetorische ist. Die Parallelen zu unserer Zeit liegen auf der Hand. Wir leben ja in einer Zeit, die man paradoxerweise als globalen Imperialismus bezeichnen könnte, und imperialistisch-kolonialistische Verhaltensweisen und Einstellungen bestimmen die Gesellschaften weltweit bis in den Alltag hinein. An der Psychologie, die Orwell hier so scharfsichtig schildert, hat sich ebensowenig geändert wie an den Machtverhältnissen.

Welche Passage hat Sie beim Übersetzen besonders bewegt? Und warum?
Ich empfehle den Lesern sämtliche Passagen des Buches – es ist vom ersten bis zum letzten Satz ein Meisterwerk. Bewegend ist das Leiden des Helden – es ist ja neben vielem anderem auch ein Entwicklungsroman. Die Schilderung der Qualen eines aufgeschlossenen, freundlichen, wohlwollenden Menschen in einer Welt der Bigotterie.
Mir persönlich haben am besten die Stellen gefallen, in denen die Kulturen aufeinanderprallen und Orwell dieses Zusammentreffen mit grimmigem Humor schildert. Die groteskesten Passagen sind die besten – wenn ich wählen müßte, wäre meine Lieblingsszene der Besuch von Flory und Elizabeth beim Pwe.

1 Kommentare

  1. […] den Einsatz des Grotesken und Absurden als Verfremdungseffekt angeht, war er nie besser als hier«, sagt Übersetzer Manfred Allié über den Roman. »Wichtig war es mir, nichts Unkonventionelles zu glätten.« Zugeständnisse an den politisch […]

Kommentare sind geschlossen.