Nicht immer gelingt der Jury der Leipziger Buchmesse eine überzeugende Auswahl für den Sachbuchpreis. Mal ist es das eine oder andere Buch, das in der intellektuellen Qualität gegenüber den anderen abfällt. Mal ist es die bunte Auswahl an Allerlei, der Verzicht auf eine Botschaft durch die Auswahl der Bücher. Dabei ist der Sachbuchpreis der Leipziger Buchmesse eine der schönsten und besten Gelegenheiten, eine Schneise der Vernunft durch die Unvernunft der Zeiten zu schlagen. Hier können die Bücher nominiert werden, denen dies gelingt.
Dieses Jahr gilt es jedoch ein großes Lob an die Jury auszusprechen. Jedes der von ihr nominierten Bücher, jeder der nominierten Autoren hätte es verdient, am 15. März als Sieger ausgezeichnet zu werden. Das eine oder andere Buch wurde bereits mit Preisen ausgezeichnet, zwei erscheinen in exklusiven historiographischen Reihen. Die Qualität der Werke lässt sich alleine an den begeisterten Buchbesprechungen ablesen. Die Zusammenstellung der Bücher tut ihr übriges. Von Umbrüchen und Umbruchszeiten handeln die ausgewählten Bücher. Umbrüche, Veränderungen, Umbruchszeiten gehören zur menschlichen Leben dazu. Veränderungen geschehen, aber nicht nur, sie werden gemacht, gemacht von Menschen, durch bewusste Entscheidungen zu Veränderungen, durch alltägliche Praxis des Neuen und Anderen.
Umbrüche und Veränderungen sind immer Menschengemacht, selbst wenn wir uns individuell als Opfer von Veränderungen verstehen, wir haben unseren Teil dazu beigetragen. Sie beginnen ganz langsam, sie greifen langsam Raum, ihre Konsequenzen sind aber auch Jahrhunderte später wirkmächtig. Davon handelt Der Morgen der Welt – Geschichte der Renaissance von Bernd Roeck. Sie finden Ausdruck in einer Person, die diese Umbrüche in sich verkörpert und dadurch neue Veränderungen anstößt. Diese Geschichte erzählt Martin Geck in der Biographie über Beethoven – Der Schöpfer und sein Universum. Über die menschliche Hybris und ihre Erbschaften handeln die beiden Bücher, die den Beginn des 20. Jahrhunderts, dem »Zeitalter der Extreme«, zum Thema haben: die Russische Revolution 1917. Gerd Koenen führt in Die Farbe Rot zu den Ursprüngen und zur Geschichte des Kommunismus, Karl Schlögel zeigt in Das sowjetische Jahrhundert die Spuren und Hinterlassenschaften einer untergegangenen Welt auf. Andreas Reckwitz schließlich liefert mit Die Gesellschaft der Singularitäten eine Analyse, warum unsere Gesellschaft so ratlos gegenüber den Veränderungen, die etliche strahlende Sieger, aber ebenso Ungleichheiten, Paradoxien und viele Verlierer hervorgebracht hat. Die Jury hat mit diesen fünf Bücher eine brillante Antwort auf die heutigen Umbruchssituationen gegeben.
Zwei eher lästige Vorbemerkungen, die die glänzende Auswahl jedoch nicht trüben sollen: Alle nominierten Bücher stammen aus dem Jahr 2017. Dies ist insofern bemerkenswert, weil Verlage und Jury meist gern Bücher aus der aktuellen Kollektion präsentieren. Dies mag vielleicht daran liegen, dass die Bücher, die zu den relevanten Daten dieses Jahres – Ende des Ersten Weltkrieges vor hundert Jahren am 9. November; die Studentenunruhen, die zu den 68er-Bewegung werde, im Frühjahr und Sommer vor 50 Jahren – noch nicht erschienen sind. Vermutlich werden sie Thema im nächsten Jahr. Dieses Jahr ist zum anderen keine einzige Frau nominiert. Vielleicht ist diese Lücke umso offensichtlicher, als 2017 zum zweiten Mal eine Frau mit dem Sachbuchpreis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurde: Barbara Stollberg-Rilinger mit ihrer Biographie zu Maria Theresia – Die Kaiserin in ihrer Zeit. Die erste Preisträgerin war übrigens 2008 Irina Liebmann mit ihrer Familiengeschichte Wäre es schön? Es wäre schön! Mein Vater Rudolf Herrnstadt.
Zurück zu den nominierten Büchern und Autoren des Jahres 2018, zu den Umbrüchen und Umbruchszeiten. Die kluge Auswahl der Jury besteht auch darin, das Buch von Bernd Roeck, Professor für Allgemeine und Schweizer Geschichte der Neuzeit an der Universität Zürich, an den Beginn zu stellen. Die Renaissance legt die Grundlage einiger Revolutionen, deren Zusammenspiel wir die Moderne nennen, oder, wie der Autor einschränkt, ihre westliche, weit wirkende Variante. Die Revolutionen sind die Mechanisierung der Welt, die im 13. Jahrhundert beginnt; die Verschränkung von Diskursrevolution als Ausfächerung weltlicher Themen und Medienrevolution durch die Erfindung Gutenbergs. Die Reformation als religiöse Revolte sowie eine Revolution der Naturwissenschaften. Diese zunächst lose nebeneinanderstehenden Revolutionen verbanden, verkoppelten, verschränkten, beeinflussten und verstärkten sich, sie veränderten die Welt. Die Renaissance in Europa steht am Anfang der westlichen Moderne. Es ist ein spezifisch europäisches Projekt, das auf sieben Säulen steht: Auf den geographischen und klimatischen Bedingungen; zweitens der staatlichen Vielfalt, die sich in politischer wie kultureller Konkurrenz manifestiert; des Weiteren die städtischen Mittelschichten, die die stark hierarchisierten Gesellschaften des Mittelalters durchbrachen; der Eindämmung der Religion: nicht der Himmel erwacht, sondern weltliches Denken, darauf verweist auch der Titel des Buches; der kritischen Diskurs mit der antiken und arabischen Philosophie und Wissenschaft: die Renaissance ist eine Revolution der Wissenschaft; sechstens auf der bereits erwähnten Medienrevolution, die die europäischen Denker zum bis dahin größten intellektuellen Kollektiv der Welt zusammenbrachte; und schließlich den Zeiträumen, die die Tiefenstrukturen des Historischen vermessen. »In den Umbrüchen, die am Anfang der Moderne stehen, gipfeln sich überlagernde Entwicklungen, die sehr unterschiedliche Ausgangspunkte hatten: Stränge von Ursachen und Wirkungen, die ihrerseits in Beziehungen zueinander gerieten und sich wechselseitig beeinflussten.«
Mit Roeck lernen wir, dass die Grundlage des Projekts der westlichen Moderne, deren aktuellen Zustand Andreas Reckwitz so vortrefflich analysieren wird, die Neuentdeckung intellektuellen Verarbeitens der Welt, die Renaissance antiken Wissens, der kritischen Austausch mit heidnischen und moslemischen Denkern und die Emanzipation gegenüber religiösem Denken als »Eindämmung der Religion« war. Die Renaissance war in erster Linie eine Befreiung von den Fesseln einer lediglich durch die Brille der mittelalterlichen Theologie wahrgenommenen Welt. Weil Roeck aus guten Gründen jeder monokausalen Erklärung misstraut, weitet sich sein Blick über die engen Grenzen Europas hinaus. Die Faszination des Buches macht der Vergleich Europas der Renaissance mit den Kulturen in anderen Regionen und Kontinenten der Welt. Roecks globale Perspektive führt uns in die muslimische Welt, nach China, Indien und Afrika. Die kulturellen Räume der Welt in den Jahrhunderten zwischen 1300 und 1700 standen im Austausch, sie waren nie in der Weise hermetisch abgeschlossen, wie es uns selbsternannte Bewahrer des Abendlandes vorgaukeln möchten. Die Offenheit der Welt, die Auseinandersetzung mit dem anderen ist ein Signum des westlichen Projekts.
Der 64-Jährige beschreibt die Renaissance aber nicht nur als Veränderungen in geistigen Sphären. Die Veränderungen materialisieren sich, sie finden Ausdruck in Buch, Brille, Fernrohr, Mikroskop und Tinte. Sie sind die Materialien moderner Wissenschaft, von Staatlichkeit und Bürokratie. Schließlich verändert sich dadurch auch das soziale Miteinander. Es verändert sich die Differenz von Vertikale und Horizontale. Vor allem in den Städten entwickelt sich ein neues Bewusstsein, der von einer Nähe, einem Zusammenhalt von Menschen, die sich auf derselben sozialen Ebene befinden und zu einer politischen Kraft werden. Diese Horizontale, wie Roeck sie nennt, steht in Konkurrenz zum vertikalen politischen Entwurf, bei dem vornehme und/oder reiche Akteure von oben nach unten politische und ökonomische Abhängigkeiten, Gefolgschaften oder Gruppierungen bilden, von deren Spitze aus sie kontrollieren und lenken. Es ist der Bürgerstolz, der sich gegen die Kultur des Ritterwesens durchsetzt. Er bildet die Grundlage einer gesellschaftlichen Ordnung, in der wir uns nach wie vor bewegen.
Die Entwicklungen, die die Renaissance anstößt, findet ihre Verkörperung ein paar Jahrhunderte später in Ludwig van Beethoven. Die Begriffe »Schöpfer«, »Universum«, »Titan der Musik«, die sich auf dem Einband finden, verweisen darauf. Dieser oberflächlichen Deutung widerspricht Martin Geck, ehemaliger Professor für Musikwissenschaft an der Universität Dortmund, entschieden. Ihm geht es nicht darum, Beethoven zu heroisieren, sondern ihn in seinen Bezügen zu anderen zu verstehen. Die Bezüge zum Leben wie zum Werk findet Geck nicht nur in Beethovens Gegenwart, sondern auch in dessen Vergangenheit und Zukunft. Diese anderen sind nicht nur Komponisten von Johann Sebastian Bach über Richard Wagner zu Igor Strawinsky, es sind auch Literaten wie Aldous Huxley, William Shakespeare oder Jean Paul, Maler wie Tintoretto oder Caspar David Friedrich, Philosophen wie Jean-Jacques Rousseau, Theodor W. Adorno oder Gilles Deleuze, Dirigenten wie Hans von Bülow, Wilhelm Furtwängler oder Leonard Bernstein sowie den Politiker zu Beethovens Zeiten: Napoleon Bonaparte.
Gecks Zugriff auf das Buch ist originell. Er schreibt keine chronologische Abhandlung zur Biographie und Kompositionen, sondern verfasst 36 Miniaturen, die in beliebiger Reihenfolge gelesen werden können. Geck kreist Beethoven ein: historisch, musikalisch, literarisch, philosophisch. Wie man ihn einkreisen möchte, liegt an der Lust und Laune der Leserinnen und Leser. Herauskommt keine klassische Erzählung eines großen, weißen Mannes, herauskommt aber auch nicht eine enge, auf die Musikwissenschaften bezogene Abhandlung über die Musik Beethovens. Geck verfasst keine musikalische Analyse des Notentextes des Komponisten. Beethoven und sein Universum verweist viel eher auf das intellektuelle Universum des Autors. Dieses Buch könnte auch heißen »Martin Geck und sein Universum. Dargestellt am Leben und Werk von Ludwig van Beethoven«. Geck ist ein Universalgelehrter alter Schule. Eines der schönsten Komplimente, die man einem Wissenschaftler machen kann, der in diesen Tagen 82 Jahre alt wird.
Mit seinem Beethoven-Buch verfolgt der Autor ein Anliegen. Er führt die zwei methodischen Ansätze – den hermeneutischen wie den analytischen Ansatz –, die aktuell in der Musikwissenschaft gegeneinanderstehen, zusammen. Weder geht es Geck alleine darum, einem plumpen Biographismus zu frönen, der die Werke mit den Gefühlen und biographischen Ereignissen des Komponisten deutet, noch in einer selbstverliebten Deutung von Noten und Komposition nach unterliegenden Botschaften zu suchen. Beethoven eignet sich für Geck auch deshalb so gut, weil er sich diesem aus zwei Perspektiven bereits angenähert hatte. In einer klassischen biographisch-musikalischen Monographie sowie in einer Abhandlung zu den neun Symphonien.
Für Geck ist Beethoven ein Mann der Moderne, der an dieser Moderne bereits leidet. »Das Versprechen der Moderne, dass alles besser wird, wenn jeder das Seine dazutut, hat er weder nur entlarvt wie Wagner oder Verdi noch nur beiseitegeschoben wie Debussy oder Strawinsky. Vielmehr hat er es in seinem Werk durchlitten. Die in seiner Zeit propagierte Selbstermächtigung des Menschen erlebt er nicht nur als wachsende Verfügungsgewalt des Komponisten über sein Material; vielmehr spiegeln seine Werke zum Ende hin zunehmend den Prozess der Fragmentierung alles Gesellschaftlichen und das Sich-fremd-Werden des Einzelnen.« Fragmentierung und Entfremdung bereits Anfang des 19. Jahrhunderts. Die bewusste intellektuelle Ermächtigung des Menschen über die Welt, die mit der Renaissance startete, erfährt hier bereits ihre ersten Risse. Vielleicht verweisen die letzten Sätze des Buches auf die Modernität Beethovens und auf das Kommende: »Doch das alles geschieht ohne Resignation: Leidenschaftlich und kämpferisch steht Beethovens Musik für ein Glück ein, das es noch zu erringen gilt.«
Man wünschte sich, der Bolschewismus wäre nur eine Musikrichtung der Klassischen Musik gewesen, Lenin oder Stalin nur Komponisten. Zu welcher Hybris der moderne Mensch möglich ist, beweist das 20. Jahrhundert. Dieses wird eingeläutet durch die bolschewistische Revolution im Oktober 1917. An diesem Umsturz auf politischer, ökonomischer, ideologischer, moralischer und normativer Ebene arbeitete sich das gesamte 20. Jahrhundert ab, bis schließlich 1989/90 das sowjetische Imperium leise implodierte. Eine Erklärung dafür zu finden, wie es zu dieser Revolution kommen konnte, ist zur Lebensaufgabe von Gerd Koenen geworden.
Gerd Koenen, Jahrgang 1944, war selbst einmal von der Idee des Kommunismus begeistert. Nicht nur ideell, sondern auch politisch aktiv. So trat er 1973 dem neu gegründeten Kommunistischen Bund Westdeutschland bei. Der KBW war eine straff organisierte, maoistischen K-Gruppe. Statt zu Ende zu promovieren, widmete er sich ab 1974 der »revolutionären Betriebsarbeit« zu widmen, ab 1976 redigierte er die Kommunistische Volkszeitung des KBW. Koenens Desillusionierung begann Anfang der 80er Jahre, als er begann, sich mit der polnischen Widerstandsbewegung Solidarność zu beschäftigen. Er veröffentlichte mehrere Bücher, in denen er der Geschichte der kommunistischen Idee und ihre Rezeption in Deutschland nachspürte. Utopie der Säuberung: Was war der Kommunismus? aus dem Jahr 1998 und Das rote Jahrzehnt – Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967-1977 von 2001 zeugen von der intellektuellen und persönlichen Aufarbeitung des Glaubens an die kommunistische Idee. In der von Daniel Cohn-Bendit damals herausgegebenen Zeitschrift Pflasterstrand hatte Koenen 2001 unter der Überschrift »Der Kindertraum vom Kommunismus« folgendes geschrieben: »Denn die Errichtung kommunistischer Gesellschaften war immer und unweigerlich mit einer drastischen Senkung des längst erreichten Grades an Differenziertheit und Komplexität verbunden. Die Voraussetzung jeder Planbarkeit menschlicher Bedürfnisse ist eben ihre Reduktion – und damit zugleich die Beschneidung aller vitalen, unberechenbaren, anarchischen Triebe und Bestrebungen der Menschen. Das reicht in der Konsequenz bis in die Planung und Erzeugung des menschlichen Lebens selbst hinein.« Statt Befreiung, Emanzipation, Revolte, Diskurs die Senkung der Differenziertheit und Komplexität sowie die Planbarkeit menschlicher Bedürfnisse. Der Kommunismus, so scheint es auf den ersten Blick, beinhaltet die entgegengesetzte Entwicklung, die die Renaissance eingeleitet hat. Und dennoch war diese Ideologie eine höchst erfolgreiche, wie Koenen auf mehr als 1.000 Seiten nachvollzieht.
Koenen wagt, und hier reiht er sich in die intellektuelle Phalanx von Roeck, Geck, Schlögel und Reckwitz ein, den großen Wurf. Einen Wurf, der weit zurückgreift, der die ideologischen Wurzeln der kommunistischen Idee bis in die Zeiten der Sesshaftwerdung des Menschen verfolgt. Der die antiken und mittelalterlichen Schichten freilegt. »Kommunismus als Weltgeschichte«, so ist der Autor auch das erste von vier Büchern in Die Farbe Rot überschrieben. Die Attraktivität speiste sich aus den menschlich und kulturell tief verwurzelten Sehnsüchten, die sich eben auch in den großen und wichtigen religiösen, spirituellen wie philosophische Erzählungen wiederfinden. Eine Idee, die auf einen solchen historischen Fundus an Begründung zurückgreifen kann, kann eine solche Idee falsch sein? Kann eine solche Idee scheitern? Ja! Sie ist gescheitert, auch Koenen ist mit seiner eigenen politischen Vision, seinen Hoffnungen gescheitert. Koenen muss, und das ist sehr angenehm an seinem Buch, den Kommunismus nicht zum x-ten Mal besiegen. Allein die Gewichtung macht dies deutlich: 800 Seiten werden den Ursprüngen gewidmet, die im Tod Lenins, ihr Ende finden, das 20. Jahrhundert und der Ausblick auf das 21. Jahrhundert werden auf 200 Seiten abgehandelt. Und vergessen wir nicht: Die kommende politische Supermacht bezeichnet sich nach wie vor als kommunistisch. Ganz an sein Ende ist der Kommunismus noch nicht gekommen.
Das materialreiche Erbe von fast siebzig Jahren realer kommunistischer Herrschaft in der Sowjetunion untersuchte Karl Schlögel. Das sowjetische Jahrhundert hat er als »Archäologie einer untergegangenen Welt« verarbeitet. Wer Karl Schlögel einmal persönlich begegnet ist, wird seine beinahe schüchterne Zurückhaltung, seine stets reflektierende Art, sein in sich zurückgezogenes, sein leises Denken bemerkt haben. Ihn zeichnet eine wundervolle Intellektualität aus, die ihre Kraft aus ihrer Bescheidenheit des Argumentativen zieht, nicht aus der grellen Behauptung. Kaum vorstellbar, dass diese Person alleine durch Russland trampt, dass er sein Wissen vor Ort erfährt, dass er das Land kreuz und quer durchwandert und erforscht, dass ihn die sinnliche Dimension des Historischen umtreibt. Aus dieser Haltung entstand dieses jüngste Werk. Schlögl ist weniger an den historischen, politischen Entscheidungen, Ereignissen und Prozessen interessiert, als vielmehr daran, was und wir die Sowjetunion war und noch viel mehr, wie sie sich angefühlt, wie sie geschmeckt, gerochen hat, wie in ihr gelebt wurde und wie sich dieses Leben materialisierte. Materialisierte in Städte, in Industrie, in Parfums, in Wohnanlagen, in Klaviere, in Gefangenenlager, in Kochbücher. Kein Gegenstand ist Schlögl zu unwichtig, zu banal, um nicht behandelt zu werden, als materialisiertes Erbe der Sowjetunion. Schlögel betreibt Archäologie, er legt Schicht um Schicht des Ideologischen und Politischen frei und eröffnet neue Blicke auf alltägliche Gegenstände.
Finden, beschreiben und erklären, das ist die Welt von Karl Schlögel. Und damit eröffnet er uns neue Welten. Auch untergegangene Welten. Er bedient sich auch in diesem Buch einer unkonventionellen Methode, ein Markenzeichen dieses Historikers. In seiner letzten großen Studie Terror und Traum über Moskau des Jahres 1937 wählt er die Perspektive, mit der Michail Bulgakow seinen Roman Meister und Margarita enden ließ. Schlögel erhob sich und seine Leserinnen und Leser in die Lüfte, um den Schauplatz Moskau als ganzen zu übersehen. Nun bedient sich Schlögel dem Konzept des »musée imaginaire« von André Malraux. Für ihn enden die Sammlungen von Objekten fast zwangsläufig in einem Museum, »wo Menschen – Einheimische wie Fremde – sich einfinden, weil sie sich die sowjetische Welt vergegenwärtigen – und vermittelt über die Exponate – ins Zwiegespräch kommen wollen mit Generationen, die nicht mehr sind und die selber nicht mehr sprechen können. Die Idee eines musée imaginaire – so André Malraux – oder eines »Palastes der Erinnerungen« – so Matteo Rici – für die sowjetische Zivilisation hat sich ergeben als die schlüssige Form, in der die vorliegende Untersuchungen eingemündet sind«. Ähnlich wie Geck vertraut auch Schlögel den mündigen Leserinnen und Lesern, die selbständig und dabei vielleicht labyrinthisch durch das Buch wandern. Sie sind auch fähig, eigene Schlüsse aus den Objekten der Geschichte, den Schicksalen, den Orten und der Zeit zu ziehen.
Auch dieses Buch verweist auf die Renaissance, denn es war diese Epoche, die, so Malraux 1947, das Museum hervorgebracht hat. Und mit ihm ein neues Verhältnis zur Kunst und zu Kunstwerken. Die Kunstwerke erfahren eine Metamorphose. Sie werden von ihrer Funktion befreit und stehen nur noch für sich. Museen sind damit Institutionen, die in diesen Dimensionen einen ausgesprochen europäischen Charakter aufweisen. Karl Schlögel möchte seine Sammlungen von Objekten aber nicht nur in der Imagination, im Virtuellen vorweisen können. Er möchte sie verorten, zusammentragen in einem realen Museum. Für ihn gibt es keinen besseren Ort eines solchen Museums als die Lubjanka, den Sitz der Geheimdienste. Welch Botschaft: Das Symbol des Terrors als ein Forum der offenen Gesellschaft. Ein Ort, an dem die Geschicke von Millionen Menschen zusammengelaufen sind, ein Ort, der groß genug ist für eine solche große Idee. Und schließlich mit einem Blick über Moskau, »die Hauptstadt eines Landes, das um die Abgründe der Geschichte weiß und daraus Kraft schöpft für die Zukunft«.
Karl Schlögel, gerade 70 Jahre alt geworden, erhielt 2009 für sein Werk Terror und Traum den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung. Archäologie einer untergegangenen Welt, die auch mit einer sprachlichen, stilistischen Schönheit glänzt, hätte ebenfalls einen Preis verdient. Nicht zuletzt, weil sein Werk ein Versöhnungsangebot und einen Arbeitsauftrag für gegenwärtige und zukünftige Generationen enthält.
Wegen seiner stilistischen und sprachlichen Fähigkeit hätte Reckwitz den Sachbuchpreis der Leipziger Buchmesse bestimmt nicht verdient. Er hat das sprachlich sperrigste Werk vorgelegt. Von der intellektuellen Wucht, von der intellektuellen Tiefenbohrung, von analytischen Kraft gebührt ihm der Leipziger Sachbuchpreis allemal. Mit Die Gesellschaft der Singularitäten sieht man neu und anders auf unsere Gesellschaft. Auch anders und neu auf sich. Man entdeckt sich als Opfer, Treiber, Ermöglicher, Ausbeuter und Ausgebeuteter. Wir halten ein System am Laufen, dessen Grenzen wir erkennen, dessen Überforderung wir beklagen, dessen Profit wir einstecken.
Für Reckwitz, dem mit seinen in Kürze 48 Jahren Jüngsten in der Runde, geht es um die alte soziologische Frage des Verhältnisses von Individualisierung Vergesellschaftung. Er stellt eine zunehmende Singularisierung, im weitesten Sinne eine weitere Drehung im Prozess der Individualisierung, fest. Das eigene Leben folgt nicht dem Allgemeinen, sondern dem Besonderen. Das eigene Leben ist besonders. Und diese Besonderheiten werden öffentlich gemacht, sie werden ausgestellt. Wir beginnen unser Leben nicht mehr nur zu führen, sondern es zu kuratieren. Wir setzen es ins rechte Licht, an den richtigen Ort, reihen uns zwischen denen ein, die unser eigenes Leben wertvoll machen und uns strahlen lassen.
Welche Strukturen liegen diesem Prozess zugrunde? Zunächst einmal die Bildungsexplosion, die in den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhundert startete. Von damals 5 Prozent eines Jahrgangs, die auf die Universität gingen, stieg die Zahl auf 30 Prozent an. Aktuell liegt Studienanfängerquote bei 58,3 Prozent. Gestiegene Bildung steigert auch die Erwartungen. Vor allem an das Berufsleben. Out sind die 9-to-5-Jobs, die unkreativen Abarbeiterstellen. Heute muss alles innovativ und kreativ sein. So sind es die Kreativen, denen das besondere Augenmerk Reckwitz gilt. Aus dem »Arbeitsplatz als Kampfplatz für den Frieden« wird der kulturelle Kampfplatz für die eigene Profilierung. Kulturkapitalismus ist die Kategorie, mit der Reckwitz die Veränderungen im Ökonomischen beschreibt. Er meint damit der Prozess, nach dem bestimmte Dienstleistungen oder Waren, Erfahrungen oder Räume kulturalisiert werden: Die bestimmte Wohngegend mit spezifischen Charakter, die Restaurants mit den richtigen Gästen, die speziellen Sneaker, ganz bestimmte Kleidungsstücke. Auch im Kulturkapitalismus materialisieren sich die Ideen in Form von Gebrauchsgegenständen, deren wichtigste Eigenschaft ihre Einzigartigkeit sein müssen. Einzigartigkeit als Ausdruck des Besonderen. In Zeiten der technischen Reproduzierbarkeit, von denen Walter Benjamin schon 1935 geschrieben hat, ein schwieriges Unterfangen, und so müssen Gegenstände mit Bedeutung angereichert werden, damit sie dem harten Attraktivitätsdiskurs standhalten.
Kulturalisierung und Expansion des Bildungswesens schaffen neue Klassen. Keine Klassen, die es vor den Zeiten der nivellierten Mittelstandsgesellschaft, wie Schelsky die bundesrepublikanische Gesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg bezeichnet hatte, sondern neue Klassen. Die relevanteste unter ihnen ist die neue obere Mittelklasse. Sie zeichnet sich weniger durch harte Kategorien wie Wohlstand und Einkommen aus, als vielmehr durch ihre Werte, Ideale und Ansichten, die die Diskurse unserer Gesellschaften prägen. Die Kampfbegriffe von rechts – »links-grün-versifft«, »Mainstream-Presse«, »Systemparteien« – finden hier ihr politisches und kulturelles Gegenüber. Geschmacksherrschaft, Deutungshoheit und Möglichkeiten der Einflussnahme entwerten diejenigen, die offensichtlich nicht dazugehören: Die Verlierer der Bildungsexpansion, die Abgehängten auf dem flachen Lande, die Globalisierungsskeptiker, die alte nichtakademische Mittelschicht, die zunehmend an Boden verliert. Dies mit fatalen politischen Konsequenzen, die wir aktuell so sehr spüren: Die soziale Logik des Besonderen, deren Kern die permanente Bewertung von Eigenschaften und Gegenständen als das Besondere ist, schafft eine Gesellschaft ohne Gemeinsamkeit, ohne Gemeinsinn. Ohne Gemeinsinn, ohne Gemeinsamkeiten ist eine demokratische Ordnung jedoch nicht denkbar. Die Analyse von Reckwitz ist hart, aber treffend: »Die soziale Krise der Anerkennung, die kulturelle Krise der Selbstverwirklichung und die politische Krise von Öffentlichkeit und Staat lassen sich allesamt als Ausformungen einer Krise des Allgemeinen interpretieren, in die eine Gesellschaft gerät, die sich radikal an Besonderen ausrichtet.«
Wir befinden uns in dramatischen Zeiten, deren Dramatik wir an Abstimmungen über den Brexit, an Wahlen wie die Donald Trumps zum US-Präsidenten und an Entscheidungen, die Begrenzung der Amtszeit des chinesischen Staatspräsidenten aufzuheben. Die eigentlichen dramatischen Entwicklungen spielen sich auf Ebenen ab, auf denen wir alle tagtäglich spielen. Die Folgen dieser alltäglichen Plebiszite werden uns erst in ein, zwei Dekaden gewahr. Vielleicht wird 2068 ein Buch bei der Leipziger Büchermesse ausgezeichnet, welches die westlichen Demokratien als temporäre Erscheinung nach 1945 beschreibt, untergegangen in den politischen, ökonomischen, kulturellen und sozialen Wirren zwischen 2008 und 2025.
Der Pessimist erscheint immer klüger als der Optimist, dessen Naivität man in der Tat nie trauen sollte. Was die fünf Bücher, die für den Sachbuchpreis der Leipziger Buchmesse nominiert wurden, uns aber lehren, ist mit Veränderungen zu leben, sie zu gestalten und immer zu wissen, dass den Gewinnen immer auch ein Verlust gegenübersteht. Die Renaissance hat enorme Veränderungen angestoßen, deren Produkte wir nun sind. Wir sind die Menschen, die Reckwitz beschreibt. Keiner wird sich wünschen, 50, 100, 200 oder gar 500 Jahre früher gelebt zu haben. Wir sollten uns fürchten vor der Hybris der Menschen, die Kosten sind enorm. Wir sollten uns darum sorgen, ein gemeinsames Miteinander zu gestalten. Dazu bedarf es Institutionen, die zusammenführen. Dazu bedarf es Institutionen, die Schneisen der Vernunft in die Unvernunft der Welt schlagen. Dies hat dieses Jahr die Jury der Leipziger Buchmesse in einer grandiosen Weise geschaffen. Wer auch immer von den fünf nominierten Autoren am Ende ausgezeichnet wird, es wird der richtige sein.
[…] sich etliche Intellektuelle, liberales Denken politisch wieder fruchtbar zu machen, jüngst etwa Andreas Reckwitz, Jan-Werner Müller und Christoph Möllers. Alle drei möchten das politische Projekt Liberalismus […]