Nach seiner literarischen »Ohrfeige« gegen das deutsche Asylsystem kehrt Abbas Khider mit seinem großen Roman »Palast der Miserablen« literarisch in den Irak zurück. Ein Gespräch über die Universalität des Elends, die zerrissene irakische Identität und die Kraft der Literatur.
Abbas Khider, Ihr letzter Roman »Ohrfeige« beschreibt die Odyssee eines irregulär eingewanderten Flüchtlings durch die deutsche Asylmaschine und zeigt damit eine eher dunkle Seite der Demokratie. Jetzt kehren Sie mit Ihren Protagonisten zurück in den Irak. Wie kam es dazu, noch einmal einen Irak-Roman zu schreiben?
Ich wollte schon lange einen Roman über das Leben in einer armen Gegend schreiben, auch weil ich selbst aus einem armen Viertel in Bagdad komme. Außerdem habe ich auf meinen Reisen durch Argentinien, Mexiko, Libyen, Ägypten, Indien, Sri Lanka und Bangladesch viele bitterarme Gegenden gesehen, wo Menschen am Rande der Stadt und gewissermaßen auch am Rande der Welt leben. Diese chaotischen Viertel haben mich immer an mein Viertel im Irak erinnert. Die Umstände, in denen die Menschen da leben, und ihre Herausforderungen gleichen sich im Grunde. Darüber wollte ich schreiben, das »Blechviertel« in meinem Roman steht exemplarisch für diese abgehängten Quartiere. Denn die Umstände, die ich beschreibe, sind universell und wiederholen sich ständig.
Ein Roman über das Leben in einem Elendsviertel hätte auch in Dhaka, Mumbai oder Rio de Janeiro spielen können. Die Tatsache, dass er in Bagdad spielt, wird dazu führen, dass viele darin einen autobiografischen Roman vermuten werden.
Es ist richtig, ich hätte das auch woanders verorten können. Aber ich hatte noch ein zweites Anliegen. Es gibt eine Phase in der irakischen Geschichte, die bis heute literarisch kaum verarbeitet ist. Es sind die Jahre des Embargos zwischen dem ersten und dem zweiten Irakkrieg, die wie eine verlorene Zeit in der Geschichte des Iraks wirken. Wenn man sich die heutigen Verhältnisse im Irak jedoch anschaut, dann ist es diese Zeit, die der Gegenwart den Stempel aufgedrückt hat. Über diese Phase wollte ich schreiben. Mein Ansatz bestand darin, sie authentisch zu umreißen und zugleich die Lebensverhältnisse im »Blechviertel« so zu beschreiben, dass sie auch von jemandem in Dhaka, Kairo oder Mumbai wiedererkannt werden.
Aus diesem »Blechviertel« berichtet der junge Shams Hussein, der nach der Kuwait-Krise mit seinen Eltern und seiner Schwester Qamer aus dem Südirak nach Bagdad zieht. Wie wichtig war die naiv-kindliche Perspektive für die Erzählung?
Sie war ganz wesentlich für die Art und Weise, wie ich irakische Geschichte darstelle. Denn ein Kind erlebt die Welt anders als ein Intellektueller oder eine Hausfrau. Es gab für dieses Buch viele Ereignisse zu berücksichtigen, im Grunde hätte jedes einen eigenen Roman verdient. Hätte ich das aus der Perspektive eines Erwachsenen erzählen wollen, hätte ich stärker in die Tiefe gehen müssen. Das wäre jedoch zu komplex geworden. Nur der kindliche Blick hat es mir ermöglicht, viele historische und gesellschaftspolitische Details in den Roman fließen lassen, ohne dass dieser zu langatmig wird. Denn der junge Erzähler staunt über Dinge, die eigentlich selbstverständlich sind, oder verbindet politische Ereignisse mit eher komischen Anekdoten. Ich konnte die irakische Geschichte durch Shams neu kennenlernen. Deshalb mag ich auch die kindliche Perspektive, wenn ich historische Ereignisse beschreibe.
Shams wächst im Laufe des Romans zu einem jungen Mann heran. Seine Sexualität erwacht und er nimmt zunehmend auch die ihn umgebenden sozialen und gesellschaftlichen Probleme wahr. Inwiefern verändern sich die Anforderungen an einen Bildungsroman unter den Bedingungen einer Diktatur?
Tatsächlich wirken sich die Umstände einer Diktatur auf literarische Gattungen aus. Der Bildungsroman etwa folgt anderen Regeln als in einer demokratischen Gesellschaft. Die Entwicklung der Figuren verläuft anders. Einerseits müssen sie schneller erwachsen werden, weil sie es mit viel existenzielleren Herausforderungen zu tun haben, andererseits dürfen sie in einigen Teilbereichen des Lebens aber auch nicht erwachsen werden, weil sie die Wirklichkeit sonst nicht ertragen würden. Die Wirklichkeit in Bagdad ist einfach eine völlig andere als etwa hier in Berlin. Entsprechend anders verläuft die Entwicklung der Figuren. Die Möglichkeiten, verliebt zu sein oder die Sexualität zu entdecken, sind beispielsweise eingeschränkter, wenn man die ganze Zeit arbeiten oder moralische Regeln einhalten muss. Deshalb fand ich dieses Projekt so spannend, weil ich eigentlich etwas erzähle, das man kennt. Aber zugleich wird dieses Bekannte permanent infrage gestellt. Deshalb unterscheiden sich Romane aus Diktaturen von Romanen aus demokratischen Gesellschaften. Während es in letztgenannten viel um Gefühle und den Willen der Figuren geht, geht es in den erstgenannten nicht wirklich um die Menschen. Das Schicksal spielt in autokratischen Umständen eine viel größere Rolle. Nicht die Menschen sind es, die die Handlung vorantreiben, sondern die Lebensverhältnisse, die sie umgeben. Das Schicksal wird zur treibenden Kraft. Das gilt auch für meinen Roman…
…in dem die Kraft des Schicksals an Shams selbstbewusster Schwester Qamer auch exemplarisch vorgeführt wird. Aber auch die Erfahrung der Kriege scheint schicksalhaft. Inwiefern prägt diese ständige Bedrohung von außen die nationale Identität im Irak?
Die Identitätsbildung im Irak ist historisch schon immer gestört. Der erste irakische König wurde von den Briten eingesetzt, er war kein Iraker, er kam aus der Dynastie der Haschimiten. Dieses Königreich wurde 1958 von General Abdul Karim Qasim gestürzt, der einzige irakische Patriot in der Geschichte. Er regierte aber in der Zeit des arabischen Nationalismus, wie er dem ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser vorschwebte. Deshalb wurde Qasim schnell beseitigt. Dann kamen die Nationalisten und später Saddam Hussein an die Macht, es folgten die Kriege gegen Israel, später gegen den Iran, gegen Kuwait sowie innere Konflikte. Dabei mussten die irakischen Schiiten gegen ihre iranischen Glaubensbrüder in den Krieg ziehen, die irakischen Sunniten gegen die Sunniten im Kuwait. Die Kurden haben sich von dem Ganzen gelöst, dennoch flammt bis heute immer wieder der Konflikt zwischen Arabern und Kurden auf. Da konnte keine nationale Identität entstehen. 2003 kamen dann die Amerikaner als »Befreier« und betonten die unterschiedlichen ethnisch-religiösen Strömungen. Seither reden wir nur noch von Schiiten, Sunniten und Kurden, aber nie von Irakern. Das hat natürlich Auswirkungen darauf, wie eine Gesellschaft sich selbst sieht. Die irakische Gesellschaft hat noch nie selbst entschieden, wer sie sein will. Das kam immer von außen, von den jeweiligen politischen Playern. Dieses gestörte Verhältnis zur eigenen Nation habe ich versucht, in meinen Roman einfließen zu lassen.
Im Roman beschreiben Sie die Folgen des Embargos, die existenziellen Nöte der Menschen, die Klassenunterschiede, ethnische Konfliktlinien und das korrupte Agieren der Mitglieder des Clans um Diktator Saddam Hussein. Sehen Sie sich als eine Art Botschafter für die irakische Geschichte?
Das ist nicht mein Anliegen. Mir geht es um diese Zeit und darum, wie die Menschen unter den Bedingungen des Embargos lebten. Deshalb habe ich das »Blechviertel« erfunden, weil man dort viel veranschaulichen kann, indem man einfach nur das Leben in diesem Viertel beschreibt. Es dient exemplarisch zur Veranschaulichung der Geschichte. Das gilt übrigens auch für die Dörfer im Südirak, die ich beschreibe. »Herzliche Hölle« gibt es nicht, vereint aber zugleich alles, was die Dörfer im Irak prägt. Da gibt es Überbleibsel aus der osmanischen Zeit, Spuren der Briten und so weiter. So versuche ich, die irakische Geschichte einerseits zu verdichten und andererseits aber auch subtil in die Erzählung einfließen zu lassen, ohne den Roman damit zu überfrachten. Das war mein Weg, um zur Phase des Embargos vorzudringen und zu beschreiben, was das eigentlich bedeutet, ein Embargo.
Warum ist ihnen das so wichtig? Was ist an der Zeit des Embargos so besonders?
Immer noch werden Embargos als politisches Druckmittel eingesetzt, ohne das wir wissen, was das für die Menschen heißt, die es betrifft. Literatur kann das ändern. Dank ihr können wir sehen, was es heißt, wenn es nicht einmal mehr Mehl zum Backen von Brot gibt. Sie veranschaulicht, was es mit einer Gesellschaft macht, wenn die Not so weit führt, dass man bereit ist, seine eigenen Kinder zu verkaufen. Literatur zeigt, was in einer unter einem Embargo oder einer Diktatur leidenden Gesellschaft vom Menschen bleibt, indem sie anhand von Einzelschicksalen veranschaulicht, was es heißt, am Leben zu sein. Die Verhältnisse, die ich im Irak nach dem Krieg und unter dem Embargo beschreibe, gab es auch hier schon. Der Zweite Weltkrieg mit all seinen Folgen ist nicht so lange her. Dinge wiederholen sich, das ist das Erstaunliche. Aber das wird meist verdrängt. Literatur hilft uns, das vor Augen zu führen. Literatur ist das feinste Mittel gegen das Vergessen.
Wie gehen Sie denn selbst mit der Erinnerung und dem Vergessen um? Sie wurden in Gefangenschaft misshandelt und gefoltert, solche Erlebnisse will man sicher lieber vergessen.
Ich habe einige Löcher in meiner Erinnerung und öffne auch nur die Türen, die ich aufmachen will. Manchmal muss ich aufpassen, bestimmte Türen in meinem Kopf geschlossen zu halten, um mich selbst zu schützen. Wenn ich über den Irak schreibe, romantisiere ich aber natürlich auch. Die Orte, die ich beschreibe, gibt es so nicht mehr. Wenn ich in Bagdad bin, ist das nicht mehr die Stadt, die ich einst kannte. Aber Orte sind mir ohnehin nicht das Wichtigste. Mir geht es eher um die Gefühle der Menschen, die dort leben, um Details aus der Zeit, über die ich schreibe, um die Kleinigkeiten der Geschichte. Etwa Getränke, die in meinem Roman ja auch eine Rolle spielen. Junge Iraker wissen nicht mehr, was Crush-Cola ist oder welche Rolle Sinalco in den Neunzigern gespielt hat. Diese Kleinigkeiten sind mir wichtig, da spielt Erinnerung und Gedächtnis natürlich eine große Rolle.
Es gibt zwischen den einzelnen Kapiteln über das Leben in Bagdad sehr kurze Einschübe, die aus der Gefangenschaft berichten. Darin werden neben Verhörsituationen auch Folterszenen und die Isolation in Gefangenschaft beschrieben. Wenn Sie nur bestimmte Türen zu Ihrer Erinnerung öffnen, wie schwierig war es, diese Teile der Geschichte aufzuschreiben?
Das war alles andere als einfach. Diese Kapitel haben mich am meisten gefordert, psychologisch und literarisch. Denn ich wollte neue Aspekte einbringen, nicht das, was man ohnehin erwartet. In meinem zweiten Roman »Die Orangen des Präsidenten« hatte ich das Thema der Haft ja bereits verarbeitet. Hier wollte ich vor allem auf Alltägliches in der Haft eingehen. Also was passiert mit dem Körper in einer Gefängniszelle? Wie geht man mit Krankheiten um? Was macht die Isolation mit der Seele? An diesen Aspekten habe ich sehr viel gearbeitet. Dazu kam die Folter, die ich auch beschreibe. Das war sehr hart, weil ich es genauso realistisch beschreiben wollte, wie ich es erlebt hatte. Dabei hatte ich das Gefühl, dass die Sprache manchmal unfähig ist, solche Dinge auszudrücken.
Sprache ist ein gutes Stichwort. Shams beginnt sich mit zunehmenden Alter für Literatur zu interessieren. Inwiefern ist der Roman auch eine Hommage an die Kraft der Sprache und den Wert der Meinungsfreiheit?
In allererster Linie ging es mir darum, zu zeigen, wie sich das Embargo auch auf die Literatur auswirkt. An Shams Schwester Qamer zeige ich, wie sich das Embargo wirtschaftlich auswirken kann, bei ihm geht es um die Literatur. Wie kommt man an Literatur in einer Gesellschaft, in der es keine Neuerscheinungen, ja gar keine freie Schrift gibt? Was passiert mit der Literatur in einer Umwelt, in der Sprache zensiert wird? Unter solchen Bedingungen ist Literatur eine Gefahr. In einer demokratischen Gesellschaft trägt das Wort Verantwortung, aber in einer Diktatur geht die Verantwortung von Literatur und Poesie noch viel weiter. Schließlich kann da jedes Wort das Leben kosten. Zugleich ermöglicht Literatur, dass man die Dinge anders sehen kann. Deshalb ist sie so spannend für Shams, der in ihr eine Art Zuflucht vor der Realität findet. Kunst und Literatur sind in Diktaturen bei aller Gefahr eben auch Rettung. Lesen und Schreiben wird dann zu einer revolutionären Tat. Das reizt mich als Autor natürlich.
Shams wird Teil eines Literaturzirkels mit dem sprechenden Titel »Palast der Miserablen«, der auch dem Roman den Titel gibt. Dieser Literaturzirkel spielt im Roman aber gar keine so große Rolle. Warum haben Sie sich für diesen Titel entschieden?
Eigentlich ist der ganze Ort, den ich beschreibe, also Irak, Bagdad, das »Blechviertel«, ein Palast der Miserablen. Für diejenigen, die da leben, ist es durch die Freundschaften und den Zusammenhalt in der Familie ein Palast. Aber es ist ein Palast der Miserablen, der Elenden, aufgrund die Umstände, unter denen sie leben. Der Titel ist aber auch ein theologisches Spiel. Der Himmel wird oft als Palast bezeichnet. Shams, der Name des Erzählers, steht für den Sonnengott, ich wollte den Sonnengott in die dunkelste Ecke der Welt stecken.
Der Roman ist klug konstruiert, denn durch die kurzen Szenen aus der Gefangenschaft weiß man, wohin Shams Schicksal führt. Was man jedoch nicht weiß, ist, wie es dazu kommt. Warum haben Sie das so komponiert?
Aus verschiedenen Gründen. Shams selbst ist im Vergleich zu seiner wilden Schwester keine aufregende Figur, sein Leben ist von einfachen Dingen geprägt. Die gewissermaßen etwas unspektakuläre Erzählung seiner Beobachtungen wird durch die Einschübe aus dem Gefängnis immer wieder gebrochen. So entsteht eine Art Berg-und-Talfahrt, die eine gewisse Spannung erzeugt. Zudem war mir wichtig, dass sich die beiden Teile sprachlich unterscheiden. Shams Erzählung ist bildreich und voller Metaphern, die Schilderungen aus dem Gefängnis sind in einer harten und realistisch gehalten. Dadurch entstanden zwei verschiedene Ebenen, die auch eine gewisse Spannung erzeugen.
Vor allem zeigen die Gefängnispassagen, dass es autoritären Regimen um die Zerstörung des Menschen in all seiner Würde geht. Er wird in die absolute Hoffnungslosigkeit getreten. Inwiefern sind Ihnen bei Gesprächen mit Geflüchteten ähnliche Geschichten begegnet?
Solche Geschichten sind und bleiben leider universell. Wann immer sich Menschen anderen überlegen fühlen, werden sie diese schlecht behandeln. Es geht dabei nie darum, etwas zu erreichen, sondern Überlegenheit zu demonstrieren. Würde man an Informationen kommen wollen, gäbe es bessere Methoden als Folter und Misshandlung. Aber hier geht es nur um Macht. Menschen werden dann nicht mehr als Menschen betrachtet, darüber hat Hannah Arendt ausführlich geschrieben. Es sind die Denkstrukturen in einem solchen System, die dazu führen, dass die Menschlichkeit verloren geht. Ich erinnere mich, wie mich mein Verhörbeamter mit Elektroschocks gefoltert hat. Dann hat plötzlich sein Telefon geklingelt und er säuselte in den Hörer »Meine Kleine, wie geht es Dir« und so weiter. Offenbar war seine Tochter am Apparat und er war plötzlich Vater. Kaum hatte er aufgelegt, legte er diese Rolle ab und setzte seine Folter fort. Es sind genau die Denkstrukturen, die Hannah Arendt auch beschrieben hat. Wenn ich ihre Schriften lese und auf die Verhältnisse heute schaue, dann stelle ich fest, dass sich im Grunde nichts geändert hat. Das ist wirklich traurig.
Ist »Palast der Miserablen« ein politischer Roman?
Ich will da niemanden auf eine Lesart festgelegen. Ich habe nichts dagegen, wenn man »Palast der Miserablen« als politischen Roman betrachtet. Man kann es aber auch als Jugendroman, Bildungsroman, Gesellschaftsroman oder aktuellen historischen Roman betrachten. Das soll jeder machen, wie er will. Nicht so toll fände ich, wenn dem Roman unterstellt würde, er wäre aktuell, weil zurzeit die armen Menschen im Irak, in Libanon, Algerien oder Sudan auf die Straße gehen und rebellieren. Dieses Betonen der Aktualität halte ich für unnötig, weil jeder Roman aktuell ist, solange Leser sich oder ihr Leben und bestimmte Umstände darin wiedererkennen.
Sie selbst wurden mehrmals als Regimegegner inhaftiert und in Haft gefoltert, bevor Ihnen die Flucht gelungen ist. Ich hatte es schon angedeutet, aber die Frage, wie autobiografisch dieser Roman ist, rollt unweigerlich auf Sie zu. Nervt Sie diese Frage?
Sie nervt mich nicht mehr (lacht). In meinem dritten Roman »Brief in die Auberginenrepublik« kommen insgesamt acht Figuren zum Zug, sie alle haben eine eigene Geschichte. Und dennoch wurde der Roman als autobiografisch beschrieben. Das fand ich schon seltsam. Mit etwas Abstand aber stört mich diese Einordnung nicht mehr, weil ich ja tatsächlich beim Schreiben aus meinem Leben schöpfe und eigene Erfahrungen verarbeite. Ich fiktionalisiere das natürlich immer, es ist niemals eine Eins-zu-Eins-Übernahme. Das »Blechviertel« gibt es wie gesagt gar nicht. Aber es gibt abgehängte Viertel und ich komme aus einem solchen. Oder nehmen Sie die Figuren: Shams ist ein langweiliger Typ, Qamer ist hingegen eine starke Persönlichkeit, Hisham ist ein Dichter und so weiter. Sie sind ganz verschieden. Aber in jeder meiner Figuren steckt etwas von mir. Wenn man schreibt, zerbricht man in viele Einzelteile. Und am Ende findet man sich über das Buch zerstreut wieder. Wirklichkeit und Fantasie gehen ineinander über, so dass ich selbst nicht einmal mehr sagen kann, wo die Realität aufhört und die Fiktion beginnt.
Wie ist es, in Berlin als Schriftsteller zu leben und zu schreiben?
Berlin als Ort selbst ist mir nicht so sehr wichtig geworden, ich kann überall leben und arbeiten, wenn ich eine gesunde Umgebung habe. Hier habe ich diese Umgebung. Ich habe meine Familie, Freunde, einen Alltag. Das gibt mir eine innere Ruhe, die ist für mich als Autor absolut wichtig. Wenn die fehlt, kann ich nicht schreiben und fühle mich dann verloren.
Sprechen Sie während des Schreibens über den Fortgang der Arbeit?
Nein, gar nicht. Wenn ich anfange, zu erzählen, kann ich nicht weiterschreiben. Deshalb warte ich immer, bis ich eine erste Fassung habe und fange erst dann an, mit anderen darüber zu reden. Von diesem Buch gab es acht Fassungen. Die erste umfasste etwa 120 Seiten, die zweite 600 Seiten und wie man jetzt sieht, bin ich am Ende etwa in der Mitte gelandet. Erst ab der vierten Fassung habe ich mit anderen darüber gesprochen.
Inwiefern beschäftigt Sie die gesellschaftspolitische Situation hier?
Ich versuche mich, möglichst wenig mit aktuellen Geschehnissen zu beschäftigen. Einmal in der Woche widme ich mich den Nachrichten, den deutschen und den internationalen. Im Grunde lebe ich zweigeteilt, mit der einen Hälfte hier in Deutschland, mit der anderen in der arabischen Welt. Bei dem, was im Irak, in Libanon oder im Sudan passiert, bin ich meist mittendrin. Das lässt mich manchmal die Situation in Deutschland vergessen. Aber natürlich kann ich nicht ignorieren, was hier passiert. Es verändert sich politisch wie gesellschaftlich viel. Das macht mir manchmal Angst. Auch ich frage mich, wohin das führt. Und was man dagegen tun kann. Aber das ist eben nur ein Teil meiner Wirklichkeit. Und manchmal bin ich wirklich überfordert, diese beiden Welten, die hier und die arabische, zusammenzubringen.
Zuletzt haben Sie mit Ihrem sensationell witzigen Sprachreformbuch »Deutsch für Alle« eine Vereinfachung der deutschen Sprache gefordert. Müssen Sie als deutschsprachiger Schriftsteller nicht den Wert der deutschen Sprache hochhalten?
Ich liebe diese Sprache, niemand kann sich vorstellen wie sehr. Denn sie hat mir ermöglicht, Literatur zu schreiben. Ich brauchte die deutsche Sprache, um mich ausdrücken zu können.
Das heißt, Sie können auf arabisch gar nicht literarisch schreiben?
Das ist eine sehr harte Geschichte. Ich habe 2007 während des irakischen Bürgerkriegs meine Schwester und ihre drei Kinder verloren, sie sind bei einem Bombenanschlag ermordet worden. Ich wollte, nein, ich konnte danach lange Zeit kein Arabisch mehr hören oder sprechen. Ich bin damals im wahrsten Sinne des Wortes verstummt. Erst durch meine Eroberung der deutschen Sprache habe ich überhaupt wieder zur Sprache gefunden. Sie hat mir die nötige Distanz gegeben, um zu schreiben. Deutsch ist für mich Befreiung.
Wie kam es dann zu dem Buch?
»Deutsch für alle« ist aus einer Laune heraus entstanden, während ich »Palast der Miserablen« geschrieben habe. Ich lege meine Fassungen immer für ein paar Wochen zur Seite, um etwas Abstand zu gewinnen, bevor ich weiter daran arbeite. Ich brauche in diesen Phasen allerdings immer etwas, um mich abzulenken. Also dachte ich, warum nicht ein paar Gedanken über mein Verhältnis zur deutschen Sprache aufschreiben, ich werde das auf Lesungen und so ja ohnehin immer wieder gefragt. Sieben Wochen lang habe ich dann über die deutsche Sprache geschrieben, am Ende stand das Buch. Und tatsächlich hatte ich nie so viel Spaß beim Schreiben wie bei »Deutsch für alle«. Ich habe viel gelacht, auch über mich selbst.
»Palast der Miserablen« ist jetzt ihr vierter Irak-Roman. Wie hängen diese vier Geschichten zusammen, was verbindet diese Bücher?
Der erste Roman »Der falsche Inder« erzählt von der Flucht, »Die Orangen des Präsidenten« ist ein Gefängnisroman, das dritte Buch »Brief an die Auberginenrepublik« erzählt mithilfe mehrerer Figuren vom Leben im Exil, »Ohrfeige« handelt vom Schicksal eines Flüchtlings in Deutschland und jetzt geht es um das Leben im Irak während des Embargos. Man kann da einen losen Zusammenhang sehen, die Romane stehen aber auch für sich. Es gibt aber auch einen engeren Zusammenhang zwischen den »Orangen des Präsidenten« und dem »Palast der Miserablen«. Während der erstgenannte Roman die Ereignisse der irakischen Geschichte in den Jahren 1979 bis 1991 abdeckt, befasst sich das neue Buch mit dem Irak in den Jahren 1991 bis 2003, schreibt die Geschichte also gewissermaßen fort.
Und werden Sie an dieser Irak-Geschichte weiterschreiben?
Das kann ich so genau noch nicht beantworten. Ich habe zum Glück viele Ideen. In meinem neuen Projekt, von dem ich noch nicht allzu viel erzählen will, geht es um Aufstand und Feminismus in der arabischen Welt zur Zeit des Arabischen Frühlings. Mal sehen, was daraus wird.
Abschließend möchte ich eine Frage aus Ihrem Roman an Sie weiterreichen. Da heißt es: »Wieso sollte unsere Geschichte irgendwen jucken, der gerade gemütlich im warmen Kaffeehaus in Wien oder Zürich sitzt und seine fette Torte mit einem Kaffee runterspült? Der schlägt die Zeitung zu und hat uns vergessen.« Nun sagen Sie mir, warum sollte diese Geschichte oder Literatur generell überhaupt irgendwen jucken? Warum schreiben Sie?
Die Literatur versucht einfach immer das Unmögliche (lacht). Nein, Spaß beiseite. Europa war immer mehr als ein Kontinent, Europa war immer auch eine Idee. Wenn ich mit Menschen aus der arabischen Welt spreche, sprechen die immer von einem Europa als Beschützer der Werte. Diese Erwartung ist ein Gefühl und genau darüber schreibe ich. Ich schreibe darüber, was Menschen denken und empfinden. Und wer liest, kann sich darin einfühlen. Genau das schafft Literatur. Sie braucht kein Visum, um Grenzen zu überschreiten, sondern sie schafft es, über das Teilen von Geschichten Empathie und Verständnis auszulösen. Wir sind alle miteinander verbunden, Literatur macht das spürbar.
Abbas Khider, vielen Dank für dieses Gespräch.
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