Der Franose Benoît Delépine und der Belgier Gustave Kervern wissen mit ihrer konsumkritischen Internet-Komödie »Effacer L’historique« zu begeistern.
Das Internet kann einen schon manchmal verrückt machen. Da hat man einmal auf eine Anzeige für einen Baumarkt geklickt, schon bekommt man ständig neues Equipment für den Heimwerker angezeigt. Und hat man einmal etwas online gebucht, wird man regelmäßig daran erinnert, mit Sternen den Service zu bewerten. Und wer einmal versucht hat, etwas unwiderruflich zu löschen, was schon einmal online war, der weiß, dass das unmöglich ist.
Marie, Bertrand und Christine machen in der wunderbaren Komödie »Effacer L’historique« all diese Erfahrungen auf ihre ganz eigene Art. Alle drei leben Tür an Tür in einer Reihenhaussiedlung in einem anonymen französischen Städtchen. Kennengelernt haben sie sich bei den Gelbwestenprotesten, den Protest tragen sie immer noch in ihrem Herzen. Aber die Welt dreht sich weiter, und sie versuchen, Schritt zu halten. Man könnte sie auch als echte Onlineproleten bezeichnen, ein Leben ohne Handy können sie sich nicht vorstellen. Allerdings geraten sie dabei zwischen die Mühlräder der schönen neuen Social-Media-Welt.
Christine (Corinne Masiero) ist die Robusteste von allen dreien, allerdings leidet sie unter akuter Serienabhängigkeit. Um ihr Binch-Watcher-Dasein zu finanzieren, vermietet sie ihr Wohnzimmer schon mal an betende Muslime. Da das aber nicht reicht, um über die Runden zu kommen, fährt sie für Uber Kunden von A nach B, erhält allerdings nur schlechte Bewertungen. Ihre Existenz steht auf dem Spiel.
Bertrand (Denis Podalydès) bewohnt mit seiner Tochter ein Haus und nutzt sein Handy vorwiegend dafür, mit Damen jeglicher Art in Kontakt zu treten. Von denen lässt sich der Tagträumer so ziemlich alles aufschwatzen, gegen Kredit natürlich, so dass er zunehmend unter einem Schuldenberg verschwindet. Zudem wird seine Tochter in der Schule gemobbt, ein entsprechendes Video kursiert unter den Schülern.
Die Dritte im Bunde ist Marie, wunderbar gespielt von Blanche Gardin. Die Hausfrau lebt von den Unterhaltszahlungen ihres Mannes, der gemeinsam mit ihrem Sohn vor ein paar Wochen ausgezogen ist. Ohne Mann und ohne Job geht ihr bald das Geld aus, weshalb sie ihren Hausstand Stück für Stück online zum Verkauf anbietet. Ihre Depression ertränkt sie im Alkohol, was allerdings dazu führt, dass sie eines Morgens ein junger Mann mit einem Sextape erpresst. Nun muss sie verhindern, dass ihr Sohn das zu sehen bekommt.
Die drei bilden eine Schicksalsgemeinschaft und beschließen, sich gegen die Macht der Internetkonzerne zu wehren. Dass sie dafür zur Hilfe eines Hackers greifen müssen, der sich keinen geringeren Namen als Gott gewählt hat, gehört zu den vielen ironischen Winkelzügen, zu denen Benoît Delépine und Gustave Kervern in ihrer Komödie greifen. Das Duo war bereits mit dem Roadmovie »Mammuth« und der Straßenarbeiterkomödie »Saint Amour« im Wettbewerb vertreten und beweist einmal mehr, dass es ernste Themen federleicht zu verpacken weiß, ohne ihnen die Tiefe zu nehmen.
Alles in diesem Film ist im besten Sinne überstrapaziert und überzogen, jedes denkbare Internetphänomen wird hier von seiner absurden Seite betrachtet – was durchaus seine Berechtigung hat, um die grundsätzliche Absurdität eines von unsichtbaren Daten und informationsgesättigten Clouds gesteuerten Lebens, wie es heute ein Großteil aller Menschen führt, sichtbar zu machen. Und dennoch geht niemals der ernste Hintergrund des Ganzen verloren.
Die drei Held:innen ernten trotz aller Naivität sämtliche Sympathien, sie repräsentieren die von der künstlichen Intelligenz der Maschinen Abgehängten, sprich: die Menschen mitsamt ihrer lasterhaften Menschlichkeit. Ihnen zuzusehen ist so herzerwärmend komisch und zugleich so befreiend, dem bislang bierernsten Wettbewerb der 70. Berlinale tut das gut.
Und wenn Marie kurz vor dem Ende des Films in der Google-Zentrale steht und brüllt, »I want my pussy back«, dann ist das nicht nur ein kleiner Triumph des Drehbuchs, sondern auch einer, der über den Film und seine Handlung hinausweist, indem er das Hauptproblem des Internetzeitalters auf den Punkt bringt. Denn das Netz bestimmt nicht mehr nur über unseren Geist, sondern längst auch über unsere Körper – in indirekter oder direkter Weise.
[…] Silberne Bär – 70. Berlinale geht an die herzerwärmende französisch-belgische Kömodie »Effacer L’Historique« von Benoît Delépine und…, die die perversen Auswirkungen von Internet und Mobiltelefon in kluger Weise verarbeitet. Ein […]