Das politischste aller Filmfestivals macht sich auch in diesem Jahr auf die Suche nach der Realität im internationalen Filmgeschäft. Die Berlinale erkundet das »Recht auf Glück«, beobachtet die weltweiten Flüchtlingsströme und schaut auf das Kino im Nahen Osten. In zwei Mammutvorführungen wird das Sitzfleisch des Publikums besonders auf die Probe gestellt.
Ein Schmunzeln ist garantiert, wenn Festivaldirektor Dieter Kosslick zur alljährlichen Pressekonferenz lädt, um die letzten Geheimnisse der anstehenden Filmtage im selbstironischen Dandy-Slang zu verkünden. In diesem Jahr waren es die gesponserten Hybrid-Kutschen – im Kosslick-Sprech als »Heibridd« an den Mann und die Frau gebracht – die Anlass zum unvermeidlichen Amüsement boten. Außerdem erfuhren die anwesenden Vertreter von Presse und Filmverleihen, dass Meryl Streep, die in dieser Woche als Emmeline Pankhurst in Suffragette in die deutschen Kinos kommt, wohl deshalb den Juryvorsitz angenommen hat, weil ihr der warme Applaus bei der Verleihung des Goldenen Ehrenbären 2014 noch in guter Erinnerung geblieben ist. An ihrer Seite wird mit Lars Eidinger einer der besten deutschen Schauspieler über die Vergabe der Berlinale-Bären entscheiden. Außerdem werden die polnische Regisseurin Małgorzata Szumowska (Teddy-Award 2012 für Im Namen des…, Silberner Bär für die Beste Regie 2015 für Body), die italienische Schauspielerin Alba Rohrwacher, der amerikanische Schauspieler Clive Owen, die französische Fotografin Brigitte Lacombe und der britische Filmkritiker Nick James in der internationalen Jury sitzen.
Eröffnet wird das Festival mit Hail, Caesar! (außer Konkurrenz), der 50er-Jahre-Hollywood-Komödie der Coen-Brüder. Im letzten Jahr wurde Isabel Coixets Polardrama Nobody Wants the Night gezeigt, ein eher unterkühlter Auftakt. Das Staraufgebot der Coen-Brüder – unter anderem spielen Josh Brolin, George Clooney, Ralph Fiennes, Scarlett Johansson und Tilda Swinton in ihrem Film mit … erinnert eher an die spektakulär-bunten Berlinale-Eröffnungen der Vorjahre, in denen Wes Andersons Grand Budapest Hotel (2014) oder Wong Kar Wais The Grandmaster (2013) gezeigt wurden. Auch Spike Lees Musical-Drama Chi-Raq wird außer Konkurrenz gezeigt.
Zu den Topstars, die nach Berlin reisen, gehören in diesem Jahr George Clooney, Josh Brolin, Daniel Brühl, Isabelle Huppert, Ralph Fiennes, Scarlett Johansson, Gérard Depardieu, Julia Jentsch, Jude Law, Tilda Swinton, Emma Thompson und Vincent Lacoste. Der Goldene Ehrenbär geht in diesem Jahr an den deutschen Kameramann Michael Ballhaus, die Berlinale-Kameras an den US-Produzenten Ben Barenholtz, den amerikanischen Schauspieler Tim Robbins sowie die Münchener Kinobetreiberin Marlies Kirchner. Mit Sondervorführungen werden außerdem David Bowie, Alan Rickman und Ettore Scola geehrt.
Neben dem Befriedigen der hauptstädtischen Sehnsucht nach Stars und Sternchen kommen Kosslick und sein Team in jedem Jahr auch dem Wunsch nach einem Motto nach. In diesem Jahr stehe die Berlinale unter dem Schlagwort »Recht auf Glück«. Und da dieses Motto ebenso pauschal wie willkürlich klingt, passt auch allerhand hinein – womit es dann schon wieder seinen Zweck erfüllt. Denn natürlich haben die vielen Flüchtlinge, die nach Europa kommen, auch ein Recht auf Glück, für viele wird die Abwesenheit dieses Glücks auch ein Grund sein, warum sie sich auf den beschwerlichen Weg machen und ihre bisherige Existenz über Bord werfen. Da dieses Recht aber kein hinreichender Grund ist, der einen Aufenthaltstitel nach sich zöge, geht es im Diskurs unter. Man muss also schon fast froh sein, dass die Berlinale dieses Recht in den Vordergrund stellt, wenngleich es als Orientierung auf einem Festival etwas zu pauschal scheint. Aber gut, man darf davon ausgehen, dass in vielen Kritiken von der An- und Abwesenheit, dem Suchen, dem Dürsten nach und dem Finden von Glück die Rede sein wird. Beginnen wird das mit dem Auftaktfilm im Panorama-Programm, Jan Gassmanns deprimierende Studie eines müden Kontinents Europe, She Loves. Gezeigt werden vier zerrüttete Paare, die an den Grenzen der Europäischen Union leben und die auf verschiedene Art und Weise ihre Sehnsucht nach Glück betäuben oder befeuern.
Viel spannender scheint da ein inhaltlicher Schwerpunkt, den die diesjährige Berlinale setzt. Mit dem Kino im Nahen Osten rückt das Festival eine Region ins Blickfeld, aus der aktuell nicht nur die meisten Flüchtlinge kommen, sondern in der die politischen Themen Krieg, Elend, Verfolgung, Demokratie, Menschenrechte, Meinungsfreiheit oder Minderheitenschutz auf der Straße liegen. Dennoch ist es schwer, in Ländern wie dem Iran, Saudi Arabien oder Ägypten Filme zu machen, erst recht, wenn sie kontrovers sein sollen. Dass das Kino im Nahen Ostnein Nischendasein fristet, zeigt auch unser Titelbild, ein Kino in der nordsyrischen Stadt Aleppo im Oktober 2010, wenige Monate vor Ausbruch des Bürgerkrieges.
Die Berlinale greift diese komplexe Situation auf und trägt so direkt und indirekt zur Stärkung des Kinos im Nahen Osten bei. Im Wettbewerb laufen der iranische Film A Dragon Arrives von Mani Haghighi sowie der französisch-tunesische Beitrag Inhebbek Hedi. Im Panorama laufen die israelischen Filme Junction 48, Sufat Chol und Who’s is gonna love me now neben La Route d’Istanbul aus Algerien und dem iranischen Film Lantouri, im Forum werden In the last Days of the City aus Ägypten, A Magical Substance Flows into me aus den Palästinensischen Gebieten, A Maid for Each aus dem Libanon, Between Fences und Inertia, beide aus Israel, sowie Houses without doors, eine syrisch-libanesische Produktion, gezeigt. Außergewöhnlich ist hier ferner die Projektion von Barakah Meets Barakah, einem Film aus Saudi-Arabien, wo es offiziell weder ein Kino noch eine Filmszene gibt. Vertieft wird diese Beobachtung des nahöstlichen Kinos in der Sektion Forum Expanded, wo weitere Filme aus Ägypten, Israel, dem Libanon, Syrien, und den Palästinensischen Gebieten gezeigt werden. In der Jury des Kurzfilm-Programms, den Berlinale Shorts, werden neben der Griechin Katerina Gregos der israelische Filmemacher Avi Mograbi und Sheikha Hoor Al-Qasami aus den Vereinigten Arabischen Emiraten sitzen – auch das ein spannendes Experiment.
Im diesjährigen Wettbewerb finden sich einige alte Bekannte wieder. Der Kanadier Denis Coté, 2013 für Vic+Flo ont vu un ours mit dem Silbernen Bären für neue Perspektiven ausgezeichnet, präsentiert seinen neuen Film Boris sans Béatrice, Danis Tanovic, der 2013 mit seinem Sozialdrama An Episode in the Life of an Iron Picker viele Diskussionen auslöste und dessen Hauptdarsteller mit dem Silbernen Bären ausgezeichnet wurde, ist mit Death in Sarajevo vertreten. Der iranisch-britische Filmemacher Rafi Pitts wird nach Shekarchi (2010) und It’s Winter (2006) mit Soy Nero zum dritten Mal im Wettbewerb vertreten sein. Der Begründer der Dogma-95-Bewegung, der Däne Thomas Vinterberg, wird mit The Commune zum zweiten Mal am Wettbewerb der Berlinale teilnehmen wie auch der französische Filmemacher André Téchiné. Der Gewinner des Großen Preises der Jury von 2012 Bence Fliegauf (Just the Wind) wird übrigens in der Forum-Sektion seinen neuen Film Lily Lane vorstellen.
Der Wettbewerbsbeitrag, der am meisten von seinen Zuschauern abverlangt, steht schon fest. Es wird der achtstündige Schwarz-Weiß-Film A Lullaby to the Sorrowful Mystery des philippinischen Regisseurs Lav Diaz sein, der am vorletzten Tag des Wettbewerbs sowie noch einmal am darauffolgenden Tag gezeigt wird. Getoppt wird diese cineastische Herausforderung an Körper und Geist nur von Ulrike Ottingers Weltreisefilm Chamissos Schatten, der in einer zwölfstündigen Mammutvorführung das diesjährige Forum eröffnet.
Zwei der insgesamt 18 um die Bären konkurrierenden Filme sind Dokumentarfilme, zum Einen Alex Gibneys Cybercrime-Doku Zero Days, zum Anderen Gianfranco Rosis Lampedusa-Film Fuocoammare. Mit Anne Zohra Berracheds 24 Wochen und Vincent Perez’ Alone in Berlin gehen zwei Beiträge mit deutscher Beteiligung in den Wettbewerb. Drei Filme im Wettbewerb sowie zwei weitere Beiträgen, die außer Konkurrenz laufen – Frankreich ist auf dieser Berlinale stark vertreten. »Wir haben das Gefühl, dass Frankreich seine Filme am Puls der Zeit macht«, kommentierte Kosslick.
Und wie in jedem Jahr werden auf der Berlinale zahlreiche andere Künste und Künstler aufgegriffen. Im Panorama werden zwei sehenswerte Dokumentarfilme über das Werk renommierter Fotografen gezeigt. Don’t Blink Robert Frank fokussiert vor allem die experimentelle Arbeitsweise des Amerikaners, Mapplethorpe: Look at the Pictures zeigt die Genese des gleichermaßen provokanten wie genialen Werks von Robert Mapplethorpe in eindrucksvollen und unmissverständlichen Bildern. In beiden Dokumentarfilmen kommen zahlreiche Wegbegleiter zu Wort, für Fans der Fotografie sind beide Filme ein Muss.
Hans Steinbichlers gelungene Verfilmung Das Tagebuch der Anne Frank wird auf der Berlinale Weltpremiere feiern, bevor es noch während der Festspiele in die deutschen Kinos kommt. Nach dem amüsanten Filmmärchen L’enlèvement de Michel Houellebecq von Guillaume Nicloux kehrt Frankreichs schreibendes enfant terrible zurück. In Saint Amour von Benoît Delépine und Gustave Kervern wird er neben Gérard Depardieu und Vincent Lacoste zu sehen sein. Der Jury-Präsident von 2014, James Schamus, ist mit seinem Debütfilm auf der Berlinale, einer mutigen und stilechten Verfilmung des Romans Empörung von Philip Roth. Mit Spike Lees Chi-Raw wird eine moderne Lysistrata-Erzählung gezeigt, in der die Gang-Gewalt in Chicagos Stadtteil Englewood verarbeitet wird. Michael Moore wird auf der Berlinale seinen neuen Dokumentarfilm Where to Invade Next vorstellen, der Dokumentarfilm The Music of Strangers: Yo-Yo Ma and the Silk Road Ensemble präsentiert ein außergewöhnliches Musikprojekt und mit Better Caul Saul Season 2 wird wie schon im letzten Jahr eine der besten Serien, die es derzeit gibt, auf der Berlinale gezeigt.
Die Retrospektive blickt in diesem Jahr unter dem Motto Deutschland 1966 auf Filmische Perspektiven in Ost und West. Gezeigt werden unter anderem Alexander Kluges Abschied von gestern, Ulrich Schamonis Es, Volker Schlöndorffs Der junge Törless, Ralf Kirstens Der verlorene Engel. Ein Tag im Leben Ernst Barlachs sowie eine unzensierte Reproduktion von Hermann Zschoches Bildungsdrama Karla, das aufgrund seiner kritischen Betrachtung des Bildungssystems der DDR erst von der Stasi zensiert und dann verboten wurde. Der reich bebilderte Katalog zur Retrospektive erscheint im Verlag Bertz + Fischer.
[…] die Coen-Brüder über weite Teile von Hail Caesar! eine ganze Menge, so dass man zu Beginn dieser 66. Berlinale, die sich dem Glück gewidmet hat, nach diesem Auftakt schon ziemlich happy den Kinosaal […]
[…] diesem Jahr wird die Kunst der Fotografie mit Brigitte Lacombe nicht nur eine renommierte Vertretung in der internationalen Jury haben, sondern mit Laura Israels Don’t Blink – Robert Frank sowie Fenton Baileys und Randy […]
[…] Kervern in ihrer Komödie greifen. Das Duo war bereits mit dem Roadmovie »Mammuth« und der Straßenarbeiterkomödie »Saint Amour« im Wettbewerb vertreten und beweist einmal mehr, dass es ernste Themen federleicht zu verpacken […]
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