Nach fünf Jahren ist die 74. Berlinale auch die letzte von Mariëtte Rissenbeek und Carlo Chatrian. Einst trat das Duo mit dem Auftrag an, das von Dieter Kosslik heillos überfrachtete Festival künstlerisch und organisatorisch zu reformieren. Am Ende waren es vor allem die Sparmaßnahmen, die zur Verschlankung des Programms geführt haben, dem auch nach fünf Jahren eine klare Handschrift fehlt.
Insgesamt zwanzig Filme aus 30 Ländern konkurrieren im Wettbewerb der diesjährigen Berlinale um den Goldenen und die Silbernen Bären. Darunter auch zwei deutsche und eine deutsch-österreichische Produktion. Matthias Glasner bietet in seinem Familiendrama »Sterben« mit Lars Eidinger, Corinna Harfouch, Saskia Rosendahl, Ronald Zehrfeld und Lilith Stangenberg das größte Staraufgebot des deutschen Films auf. Andreas Dresen erzählt in »In Liebe, Eure Hilde« die Geschichte der deutschen Widerstandskämpfer Hilde und Hans Koppi, die Hauptrolle spielt »Babylon Berlin«-Star Liv Lisa Fries. Außerdem stellen das österreichische Duo Veronika Franz und Severin Fiala ihren neuen Film »Des Teufels Bad« vor.
Die größten internationalen Namen im Wettbewerb sind der Franzose Olivier Assayas, der seine Covid-Comedy »Hors du Temps« vorstellt, sein Landsmann Bruno Dumont mit seiner »Star Wars«-Persiflage »L’Empire« sowie der mehrfache Bärengewinner, der Südkoreaner Hong Sangsoo, der seinen neuen Film »A Traveler’s Needs« mit Isabelle Huppert in der Hauptrolle vorstellt.
Auch das iranische Duo Maryam Moghaddam und Behtash Sanaeeha konkurriert nach 2021 (»Ballade von der weißen Kuh«) mit seinem neuen Film »My Favourite Cake« erneut um die Berlinale-Bären in einem bunten, aber auf den ersten Blick wenig spektakulären Wettbewerb, in dem 18 Spielfilme, darunter zwei Debüts, und zwei Dokumentationen gezeigt werden.
Eröffnet wird der Berlinale-Wettbewerb am 15. Februar von Serienmacher Tim Mielants (»Peaky Blinders«) und seiner Literaturverfilmung »Small Things Like These«, die auf Basis des gleichnamigen Romans von Claire Keegan (in der Übersetzung von Hans-Christian Oeser bei Steidl erschienen) in die irische Geschichte eintaucht. Neben »Oppenheimer«-Star Cillian Murphy spielen Eileen Walsh, Michelle Fairley und Emily Watson in dem Drama mit.
Gespannt darf man zudem auf die Filme vom afrikanischen Kontinent sein. Mit »Black Tea« von Abderrahmane Sissako (Elfenbeinküste), »Dahomey« von Mati Diop (Senegal/Benin) und »Who I Do Belong To« von Meryam Joobeur (Tunesien) sind gleich drei im Wettbewerb, in dem erstmals seit Jahren kein Animationsfilm gezeigt wird. Über die Bären entscheidet die Jury um Oscar-Preisträgerin Lupita Nyong’o.
Große und bekannte Namen sind eher in den Nebenreihen zu finden. In der Sektion Gala sind Filme wie Rose Glass »Love Lies Bleeding« mit Kristen Stewart, Atom Egoyans »Seven Veils« mit Amanda Seyfried, Johan Rencks »Spaceman« mit Adam Sandler und Isabella Rossellini und Julia von Heinz »Treasure« mit Lena Dunham und Stephen Fry zu sehen.
Der Gewinner des Goldenen Bären 2023, der Franzose Nicolas Philibert, ist mit seinem neuen Film »Averroès & Rosa Parks« ebenso im Spezial zu sehen wie die italienischen Brüder Damiano und Fabio D’Innocenzo, die 2020 mit ihrem düsteren Sommermärchen »Bad Tales« den Silbernen Bären für das Beste Drehbuch erhalten haben und nun ihren neuen Film »Dostoevskij« zeigen. Auch in den Nebensektionen zu sehen sind der Amerikaner Abel Ferrara oder der deutsche Regisseur Edgar Reitz, der in diesem Jahr die Berlinale Kamera erhält. Der Goldene Ehrenbär geht an Martin Scorcese, einige seiner Filme werden ebenfalls auf der Berlinale zu sehen sein.
Ruth Beckermann, die 2002 mit »Mutzenbacher« im Encounters-Wettbewerb für den besten Film ausgezeichnet wurde, stellt in der Nebenreihe ihre neue Dokumentation »Favoriten« vor, für den sie über drei Jahre eine Grundschulklasse begleitet hat. Vergleiche zu Maria Speths Dokumentation »Herr Bachmann und seine Klasse« sind absehbar. Für Aufsehen wird sicherlich die italienische Miniserie »Supersex« sorgen. Die Netflix-Produktion von Francesca Manieri, Matteo Rovere, Francesco Carrozzini und Francesca Mazzoleni taucht in das Leben von Porno-Star Rocco Sifredi ein.
Im Panorama stellen unter anderem Josef Hader (»Andrea lässt sich scheiden«), Asli Özge (»Faruk«), André Téchiné (»Les gens d’à côté«), Nora Fingscheidt (»The Outrun«), Thomas Arslan (»Verbrannte Erde«), Bruce LaBruce (»The Visitor«) sowie Pulitzerpreisträgerin Annie Baker (»Janet Planet«) ihre neuen Filme vor. Außerdem werden in der Sektion Teile der Serie »Zeit Verbrechen« gezeigt, an der u.a. Helene Hegemann und Faraz Shariat als Regisseur:innen und Lars Eidinger sowie Sandra Hüller als Schauspieler:innen mitgewirkt haben.
Insgesamt werden auf der Berlinale 233 Filme gezeigt, ein Aufgebot wie in Cannes oder Venedig gelingt dem Festival auch nach fünf Jahren Reformation nicht. Dies liegt sicherlich auch an den schwierigen Herausforderungen, die die Festivalleitung zu bewältigen hatte (Pandemie, Lockdowns, Ukrainekrieg, Inflation, Autor:innenstreik in den USA). Vor dem Hintergrund gab es eigentlich nie eine wirkliche Chance, das Festival inhaltlich neu aufzustellen und zu profilieren. So ist es nie wirklich gelungen, das künstlich aufgeblasene Festival sinnvoll zu entschlacken und ihm eine neue Handschrift zu geben. Die Frage, wofür die Berlinale steht iúnd was für Filme den Wettbewerb prägen, kennt keine einhellige Antwort. Stattdessen wurde mit dem Nebenwettbewerb Encounters eine unnötige Konkurrenz zu einem zuletzt immer durchschnittlicheren Wettbewerb geschaffen. Das anspruchsvoll unterhaltende Indie-Kino hat derweil in Sundance eine neue Heimat gefunden. Das amerikanische Festival macht der Berlinale qualitativ längst ernsthaft Konkurrenz. Die neue Leitung Tricia Tuttle wird da schnell handeln müssen.
Die sichtlich ermatteten Berlinale-Macher Mariëtte Rissenbeek und Carlo Chatrian, die nach dem 25. Februar ihren Hut nehmen, betonten noch einmal, dass die Berlinale ein Ort des Austauschs und des Dialogs ist. Hintergrund sind die Absagen von zwei Filmemacher:innen, die ihre ins Forum Expanded eingeladenen Filme im Zuge der internationalen »Strike Germany«-Bewegung zurückgezogen haben.
»Auch und gerade in schmerzhaften Zeiten« wolle man das Miteinander und die Empathie fördern, heißt es im Programm, dass dann diesbezüglich aber doch recht dünn ausfällt. Amos Gitais Kammerspiel »Shikun« ist einer der wenigen Beiträge, der die Situation im Nahen Osten aufgreift, zudem bieten die Sozialpädagog:innen Shai Hoffmann und Jouanna Hassoun in einem Tiny House die Möglichkeit, sich zum Krieg in Gaza auszutauschen. Auch Filme aus der Ukraine sind im Vergleich zum Vorjahr rar gesät. Ein Panel zum Thema »Filmmaking in Times of Conflict – Future Perspectives« soll hier wohl Abhilfe schaffen. Es gab Zeiten, da wurden auf der Berlinale die Konflikte der Welt auf der Leinwand diskutiert.