Der fast zweistündige Film über eine Anlaufstelle für geistig kranke Menschen des Franzosen Nicolas Philibert gewinnt den Goldenen Bären der 73. Berlinale. Christian Petzold und Angela Schanelec sammeln weitere Bären ein, ein faszinierendes Kind wird für die Beste schauspielerische Leistung in einer Hauptrolle ausgezeichnet.
Der Goldene Bär für den Besten Film der 73. Berlinale geht an den Franzosen Nicolas Philibert und seinen Film »Sur l’Adamant«. Die Jury zeichnete den Film, der von den Besucher:innen einer Pariser Anlaufstelle für psychisch kranke Menschen handelt, wegen seiner humanistischen Ebene aus. Er sei der kinematografische Beweis für die Notwendigkeit, sich ausdrücken zu können. »Are you crazy, or what?«, reagierte der französische Dokumentarfilmer lakonisch auf die Auszeichnung.
Jurypräsidentin Kristen Stewart hatte zu Beginn der Berlinale gesagt, dass sie raue und kantige Filme möge. Genauso ein Film ist »Sur l’Adamant«, der eintauchen lässt in die Schicksale der psychisch kranken Menschen, die er in den Blick nimmt, ihre Perspektiven spiegelt und so Zugang zu ihrer Welt schafft. Das passt zum politischen Anspruch der Berlinale. Mehr als ein Nischendasein in den Programmkinos wird man dem Film, sollte er hier in die Kinos kommen, trotz Goldenem Bären nicht prophezeien können. Ähnlich ging es auch schon Adina Pintilies »Touch Me Not« – ein halbdokumentarischer Film, der 2018 den Goldenen Bären bewann – und Gianfranco Rosis Dokumentarfilm »Seefeuer«, der 2016 als Bester Film ausgezeichnet wurde.
Der Große Preis der Jury geht an Christian Petzolds »Roter Himmel«, der zweite Teil seiner Liebes-Trilogie, die er 2020 mit »Undine« begann. Paula Beer gewann damals de Silbernen Bären für die Beste Schauspielerische Leistung in einer Hauptrolle. Petzold erhielt schon 2012 für »Barbara« den Silbernen Bären für die Beste Regie. Sein neuer Film, der mit Abstand stärkste der fünf deutschen Beiträge, erzählt vom Miteinander von vier jungen Menschen an der Ostsee, während im Hinterland die Wälder brennen. Ein hochaktueller wie unterhaltsamer Film.
Der Silberne Bär Preis der Jury geht an João Canijo für sein magisches Werk »Mal Viver«. Darin erkundet der Portugiese in betörenden Bildern die verletzten Seelen von fünf Frauen, die ein Familienhotel betreiben. Im Encouters-Wettbewerb lief parallel das Spiegelstück »Viver Mal«, ein Film, der die Hotelgäste in den Blick nimmt und dieses Doppelprojekt zu einem Meisterwerk des zeitgenössischen Kinos macht. Großartig, das die Jury dafür einen Blick hatte und den Film auszeichnet.
Der Silberne Bär für die Beste Regie ging an Philippe Garrel für seinen Film »Le Grand Chariot«, ein ebenso bewegter wie bewegender Film über eine Puppenspielerfamilie, die um die Tradition der Familie erkundet. Es geht um Liebe, Familie, Freundschaft, Vaterschaft und natürlich um die Kunst. Garrel widmete den Bären dem großen Meister Jean-Luc Godard, der in Berlin in den 60ern für »Alphaville« ausgezeichnet wurde.
Sofía Otero hat nicht nur in den Augen der Jury den Silbernen Bären für die Beste Schauspielerische Leistung in einer Hauptrolle verdient. Die Achtjährige spielt in dem Film »20.000 especies de abejas« der baskischen Regisseurin Estibaliz Urresola Solaguren in beeindruckender Selbstverständlichkeit einen achtjährigen Jungen, der sich und seine Identität sucht. Damit ist ein Silberner Bär erstmals an ein Kind gegangen. Selten sehe man so viele Emotionen und zugleich erschütternde Einsamkeit, sagte Jurymitglied Francine Maisler und traf damit den Nagel auf den Kopf. Eine Auszeichnung, die richtig, aber auch mutig ist.
Für die Beste Schauspielerische Leistung in einer Nebenrolle wurde Thea Ehre für ihre Performanz in Christoph Hochhäuslers Film »Bis ans Ende der Nacht« mit dem Silbernen Bären ausgezeichnet. Die Authentizität, Reinheit und Schönheit habe die Jury »umgehauen«, sagte Jurypräsidentin Kristen Stewart. Ehre spielt eine Trans*Frau, die den verdeckten Ermittler Robert (Timocin Ziegler) zu einem Kriminellen führen soll. Es war die erste große Hauptrolle für die Österreicherin überhaupt, aber eine, die man als Zuschauer nicht so schnell vergisst.
Mit dem Silbernen Bären für das Beste Drehbuch wurde Angela Schanelec für ihre Vorlage zu »Music« ausgezeichnet. Ihr Film ist eine moderne und freie Adaption des Ödipus-Mythos, die in ihrer anspielungsreichen Lückenhaftigkeit keine Leichte Kost ist. Schanelec gewann bereits 2019 für ihren sperrigen Film »Ich war zuhause, aber …« mit Maren Eggert in der Hauptrolle den Silbernen Bären für die Beste Regie.
Der Silberne Bär für eine Herausragende Künstlerische Leistung ging an die Kamerafrau Hélène Louvart für ihre Arbeit in Giacomo Abbruzzeses Fremdenlegionärsporträt »Disco Boy« mit Franz Rogowski in der Hauptrolle. Wie sie mit Licht und Einstellungen im Nigerdelta oder den Pariser Nachtclubs spielt, ist tatsächlich beeindruckend.
Zur Internationalen Jury gehörten die amerikanische Schauspielerin Kristen Stewart, die mit 32 Jahren die jüngste Jurypräsidentin in 73 Jahren Berlinale war, die iranisch-französische Schauspielerin Golshifteh Farahani, die deutsche Regisseurin Valeska Grisebach, der rumänische Regisseur und Silberner-Bär-Gewinner von 2015 Radu Jude, die amerikanische Casting-Expertin Francine Maisler, die Regisseurin des im Vorjahr mit dem Goldenen Bären ausgezeichneten Filmes »Alcarràs« Carla Simón sowie der chinesische Regisseur und Produzent Johnnie To.
Im Nebenwettbewerb Encounters, geschaffen für »ästhetisch und strukturell wagemutige Arbeiten von unabhängigen, innovativen Filmschaffenden«, konkurrierten in diesem Jahr 16 Filme um die drei goldene Bären-Plaketten, die als Preis für die Beste Regie, Preis für den Besten Film und Spezialpreis der Jury vergeben werden.
Der Film »Here« des belgischen Regisseurs Bas Devos wurde mit dem Preis für den Besten Film ausgezeichnet. Der Film, der in langsamen 3:4-Tableaus der Situation von Arbeitsmigranten in Belgien nachgeht, besticht in seiner leisen Poesie. Für die Beste Regie in dem mexikanischen Film »El Eco« erhielt Tatiana Huezo die Bären-Plakette. Der Film zeichnet das Leben von Greisen, Erwachsenen und Kindern in einem entlegenen Dorf im Norden Mexikos nach, feiert Natur, Liebe und Leben, verschweigt aber auch nicht Krankheit, Gewalt und Tod.
Der Spezialpreis der Jury ging an zwei Filme. Zum einen wurde »Orlando, ma biographie politique« von Paul B. Preciado ausgezeichnet. Der Film zeigt, dass einhundert Jahre nach Erscheinen Virginia Woolfs Figur Vorbild für alle trans- und nicht-binären Menschen ist. Ebenso ausgezeichnet wurde Lois Patiños Film »Samsara«. Der spanische Film geht dem Leben in buddhistischen Klostern und den Sinnesreisen ihrer Bewohner:innen nach und fordert die Zuschauenden visuell und mit Blackscreen auf, miutenlang die Augen zu schließen.
Der mit 40.000 Euro dotierte Berlinale Dokumentarfilmpreis, den das Festival in Kooperation mit dem rbb vergibt, geht an den mexikanischen Film »The Echo« von Tatiana Huezo. Insgesamt 29 Dokumentationen aus den Sektionen Wettbewerb, Berlinale Special, Encounters, Panorama, Forum, Generation und Perspektive Deutsches Kino waren in diesem Jahr dafür nominiert.
Insgesamt 19 Debütfilme aus den Sektionen Wettbewerb, Encounters, Panorama, Forum, Generation und der Perspektive Deutsches Kino konkurrierten um den mit 50.000 Euro dotieren Preis Bester Erstlingsfilm der Gesellschaft zur Wahrnehmung von Film- und Fernsehrechten (GWFF). Der Preis ging an den eindrucksvollen Dokumentarfilm »Adentro mío estoy bailando« von dem österreichischen Regisseur Leandro Koch und der argentinischen Musikerin Paloma Schachmann. Der Film zeige eine verschwundene Welt und die Grenzen der Identität auf.
Die Internationale Kurzfilmjury zeichnete den Film »Les Chenilles« von Michelle Keserwany mit dem Goldenen Bären für den Besten Kurzfilm aus. Der Film ist damit berechtigt, am Wettbewerb um die Kurzfilm-Oscars 2024 teilzunehmen. Zudem wird der Film als Berlin Short Film Candidate ins Rennen um den European Short Film Award geschickt. Matthew Thorne und Derik Lynch erhielten für die australische Aborigine-Erzählung »Marungka tjalatjunu« den Silbernen Bären Preis der Kurzfilmjury.
Preise unabhängiger Jurys
Die internationale Vereinigung von Filmkritikern und Filmjournalisten FIPRESCI zeichnete in den vier Sektionen Wettbewerb, Encounters, Panorama und Forum jeweils den besten Film aus. Aus Sicht der Fachpresse hat Rolf de Heer im Wettbewerb mit seiner radikalen Dystopie »The Survival of Kindness« den besten Film vorgestellt. Bas Devos’ poetische Studie von Arbeitsmigrant:innen in Brüssel »Here« ragt für die Filmkritiker:innen im Encounters-Wettbewerb heraus. In der Sektion Panorama überzeugte Marlene Chois »The Quiet Migration« die Fachjury, im Forum Vlad Petris Dokumentation »Between Revolutions«.
Die Jury des Gilde Filmpreis der Kinobetreiber*innen und Mitglieder der AG Kino – Gilde e.V. hat den beeindruckenden Debütfilm »20.000 Species of Bees« der baskischen Regisseurin Estibaliz Urresola Solaguren ausgezeichnet. Der Film, der im Wettbewerb gezeigt wurde, erzählt die berührende Geschichte eines Kindes, das mit seiner geschlechtlichen Identität hadert.
Der Teddy-Award als bedeutendste Auszeichnung für Filme, die queere Themen auf einer breiten gesellschaftlichen Ebene kommunizieren, wird jeweils an den besten Spielfilm, den besten Kurzfilm, den besten Dokumentar- bzw. Essayfilm und als Spezialpreis der Jury vergeben. Als bester Spielfilm wurde das nigerianische Drama »All the Colours of the World Are Between Black and White« von Babatunde Apalowo ausgezeichnet, der Teddy für die beste Doku ging an den französischen Film »Orlando, ma biographie politique« von Paul B. Preciado, als bester Kurzfilm wurde die australische Aborigine-Erzählung »Marungka tjalatjunu« von Matthew Thorne und Derik Lynch ausgezeichnet. Der Preis der Jury ging an Vicky Knight für ihre Performance in dem wunderbaren Sozialdrama »Silver Haze« von Sacha Polak.
Steffi Niederzolls bedrückende Dokumentation »Sieben Winter in Teheran«, die die Geschichte der 2014 gehängten iranischen Studentin Reyhaneh Jabbari erzählt, wurde bereits am Freitag mit dem Kompass-Perspektive-Preis und dem Friedensfilmpreis des Festivals ausgezeichnet.
Die beiden Panorama-Publikumspreise gingen an das Familiendrama »Sira« von der burkinischen Regisseurin Apolline Traoré und an die autobiografische Dokumentation über die amerikanische Transgender-Musiker:in D. Smith »Kokomo City«.
Der Goldene Ehrenbär ging in diesem Jahr an den Amerikaner Steven Spielberg, der auf der Berlinale seinen neuen Film »The Fabelmans« vorstellte. Einige seiner wichtigsten Filme wie sein umwerfendes Debüt »Duell« oder Blockbuster wie »Der weiße Hai«, »Jurassic Park« oder »Schindlers Liste« wurden als Hommage gezeigt.
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