Film

Wieso weißt Du, wer du bist?

Die spanische Regisseurin Estibaliz Urresola Solaguren ist die zweite Debütantin im Wettbewerb. Ihr Film »20.000 especies de abejas« ist ein weiterer Beweis für das feine Händchen von Festivaldirektor Carlo Chatrian. Er erzählt die berührende Geschichte eines Kindes, das mit seiner geschlechtlichen Identität hadert.

Verhalten bis skeptisch waren die Reaktionen, auch hier auf diesen Seiten, als Carlo Chatrian Ende Januar das Programm der 73. Berlinale vorstellte. Es fehlten große Namen im Wettbewerb, der vor allem mit neuen Perspektiven überzeugen sollte. Zur Halbzeit der Berliner Filmfestspiele muss man festhalten, dass dieser Wettbewerb bislang mehr hielt, als er zu versprechen schien. Abgesehen von den eher enttäuschenden Beiträgen deutscher Filmschaffender findet das Rennen um den Goldenen Bären auf Augenhöhe statt. Die Filme, die bis zum Montagnachmittag gezeigt wurden, begeisterten mit tollen Geschichten, eindrucksvollen Bildern und überzeugenden ästhetischen Konzepten.

Dem steht nach Celine Songs »Past Lives« und Giacomo Abbruzzeses »Disco Boy« auch das dritte Debüt im Wettbewerb in Nichts nach. »20.000 especies de abejas« erzählt die Geschichte eines achtjährigen Kindes, das nicht weiß, ob es im richtigen Körper steckt. Seinen Geburtsnamen Aitor mag es nicht, sein Spitzname Cocó (Sofía Otero) klingt da offener, so richtig wohl fühlt sich dieser kleine Mensch damit aber auch nicht. Gemeinsam mit seiner Mutter Ane (Patricia López Arnaiz) und seinen zwei Geschwistern besucht Cocó seine Großmutter in Spanien, wo das Unbehagen des Kindes für Befremden sorgt; etwa wenn es mit traurigem Trotz reagiert, wenn es Aitor genannt wird oder lieber Kleider als Hosen tragen möchte.

Die Verwandlung, die Solaguren einem Interview mit Screen zufolge am meisten interessierte, war die von Cocós Beziehung im Kontext der Familie, in der andere Mitglieder eine wichtige Rolle spielen. »Ich habe mich schon immer für das Thema Identität, Selbstbild und den Blick der anderen interessiert. Wenn das eigene Geschlecht und die eigene Rolle nicht mit den Erwartungen der Welt übereinstimmen, kann dies zu einem feindlichen Ort werden.«

Sofia Otero in »20.000 especies de abejas« von Estibaliz Urresola Solaguren | © Gariza Films, Inicia Films

Und so erzählt es auch der Film. Die strenge Großmutter meint, dem Kind würden nicht genug Grenzen gesetzt, die Großtante rät, das gar nicht weiter ernst zu nehmen. Ane aber spürt, dass Cocós Spiel mit den Geschlechtergrenzen kein Spleen ist, sondern dass sich dahinter ein wirkliches Gefühl verbirgt. Ihr fällt es allerdings schwer, das anzuerkennen und offen auf ihr Kind zuzugehen. Auch weil sie selbst in einem Transformationsprozess steckt und mit den eigenen Grenzen – in ihrer Ehe und in ihrer Berufung als Künstlerin – konfrontiert ist. Patricia López Arnaiz und Sofía Otero spielen dieses ebenso liebevolle wie angespannte Mutter-Kind-Verhältnis in einer intuitiven Vertrautheit, die man so nicht oft sieht.

Neben dieser Geschichte eines nach seiner Identität suchenden Kindes erzählt Solaguren die Geschichte einer Künstler:innenfamilie über mehrere Generationen, wenngleich die Männer weitgehend abwesend sind. Anes Vater ist vor Jahren gestorben, ihre eigene Ehe befindet sich in einer Krise. Ihre Schwester will aber die Taufe ihres Sohnes feiern und fordert die Aufmerksamkeit der ganzen Familie.

Sofia Otero und Ane Gabarain in »20.000 especies de abejas« von Estibaliz Urresola Solaguren | © Gariza Films, Inicia Films

Zudem sucht Ane als bildende Künstlerin nach einer neuen Perspektive und muss so an die eigenen Wurzeln ihres Schaffens heran. Dies ist mit einer Serie von Skulpturen ihres Vaters sowie einer frühen eigenen Arbeit verbunden, die den symbolträchtigen Titel »Scham« trägt. Denn um Scham – die von Cocó im falschen Körper und die seines Umfelds im Umgang damit – geht es auch in diesem Film.

Langsam, aber unaufhaltsam nähert sich »20.000 especies de abejas« dieser Scham, an der alle zu tragen haben. Cocó, der sich im Laufe des Films den Namen Lucia gibt, wird vorsichtig Fragen stellen, die andere mit ihrer Zerrissenheit konfrontieren: »Wusstest du immer, dass du ein Junge bist?« »Wieso weißt du, wer du bist und ich nicht?« »Kann ich sterben und als Mädchen zur Welt kommen?« Großtante Lourdes (Ane Gabarain) wird viel Zeit mit Cocó verbringen, das Kind in die Geheimnisse des Bienenzüchtens einführen und dabei erfahren, dass es sich längst für die Rolle der Bienenkönigin entschieden hat.

Sofia Otero in »20.000 especies de abejas« von Estibaliz Urresola Solaguren | © Gariza Films, Inicia Films

Und diese Königin sorgt mit ihrer eigenen Unsicherheit über ihre Identität dafür, dass das gesamte Bienenvolk in Aufruhr gerät. Wie es der 39-jährigen Spanierin gelingt, das hochaktuelle Thema von (Bio)Diversität und ihrer Bedeutung in eine ebenso kluge wie warmherzige Geschichte zu übersetzen, die weder den Schmerz des Abschieds ausschlachtet noch den Zauber des Neubeginns romantisiert, ist beeindruckend. »Nachts träume ich, dass morgen die Welt eine Bessere ist«, heißt es am Ende in einem Lied. Den Lucias dieser Welt ist zu wünschen, dass dieser Traum eines Tages Wirklichkeit ist, wenn sie aufwachen.

3 Kommentare

  1. […] Im Wettbewerb brillierte Patricia López Arnais als um ihr Kind kämpfende Mutter in Estibaliz Urresola Solagurens Filmdebüt »20.000 especies de abejas«, Mwajemi Hussein beeindruckte als dem Rassismus dieser Welt die Stirn bietende BlackWoman in Rolf de Heers »The Survival of Kindness«. Paula Beer überzeugte als geheimnisvolle Femme Fatal im zweiten Teil von Christian Petzolds Liebestrilogie und Greta Lee schulterte als Vermittlerin zwischen den Kulturen Celine Songs »Past Lives«. Und auch Newcomerin Thea Ehre hinterließ als Trans*Frau in »Bis zum Ende der Nacht« einen bleibenden Eindruck. Dazu kommen die beiden weiblichen Kinderdarstellerinnen in Lila Avilés Familiendrama »Tótem« und dem baskischen Film »20.000 especies de abejas«. […]

  2. […] der Internationalen Filmpresse (Prix Fipresci) ausgezeichnet, setzte sich dabei unter anderem gegen das hochgelobte Debüt »20.000 Especies De Abejas« der baskischen Regisseurin Estibaliz Urresola S… durch, dessen Kinderdarstellerin Sofia Otero bei der diesjährigen Berlinale den Silbernen Bären […]

Kommentare sind geschlossen.