Angela Schanelec präsentiert mit »Music« im Wettbewerb der Berlinale ihre persönliche Variante des Ödipus-Mythos. Gesprochen wird dabei wenig, dafür spielt der Gesang eine wichtige Rolle. Einfacher zugänglich macht das den Film nicht.
Dieser Film beginnt mit einem Donner. Es folgt die Geburt der Hauptfigur, sein Sturz in den Abgrund und seine Rettung in der Musik. So könnte man die Ödipus-Variante von Bärengewinnerin Angela Schanelec zusammenfassen, ohne dabei allzu viel der erzählten Handlung zu unterschlagen. In »Music« geht es aber weniger um das Erzählte, als vielmehr um das Gezeigte, denn der dritte deutsche Wettbewerbsbeitrag setzt auf das Visuelle und Akustische. Dabei spielen die Auslassungen eine wichtige Rolle, die rätseln lassen, in welcher Zeit und in welchem Teil des Ödipus-Dramas wir uns befinden.
Dem antiken Mythos zufolge bringt Ödipus seinen Vater Laios um und befreit Theben von der Sphinx. Zur Belohnung erhält er die zurückgebliebene Witwe Iokaste zur Frau, die zugleich seine Mutter ist. Als das auffliegt, bringt sich Iokaste um. Ödipus sticht sich die Augen aus und geht ins Exil.
In Schanelecs moderner Adaption trägt die Ödipus-Figur den Namen Jon (Aliocha Schneider). Kaum ist er geboren, sehen wir, wie er mit Freunden an die griechische Küste fährt, wo es zu einem dramatischen Wendepunkt in seinem Leben kommt. Bei einem Unfall kommt Lucian ums Leben, Jon muss ins Gefängnis, wo er die hübsche Wärterin Iro (Agathe Bonitzer) kennenlernt, mit der er eine Familie gründen wird. Als sie mit ihrer Tochter Phoebe (Frida Tarana) seine Eltern (Marisha Triantafyllidou, Argyris Xafis) besuchen, kommt es erneut zu einem Unglück und Jon geht mit Phoebe (Ninel Skrzypczyk) nach Berlin, wo der Film endet.
Wenngleich Gesang eine große Rolle spielt , wird in dem fast zweistündigen Film nicht viel gesungen. Es sind Choräle von Monteverdi, Bach und Pergolesi, die die Figuren selbst interpretieren. So erhält der Film neben der dominanten visuellen Sprache eine weitere Ebene, die gewissermaßen kommuniziert. »Meine Stimme hat sich geändert, aber mein Herz ist immer noch das gleiche. Das Herz eines Liebhabers und eines Mörders«, heißt es da etwa anspielungsreich.
Gesprochen wird dagegen sehr wenig, die meiste Zeit bewegen sich die Figuren lautlos durch Zeit und Raum. In langen Einstellungen beobachtet die Kamera die Figuren. Manchmal vermitteln die Bilder den Eindruck, man hätte es mit in Zeitlupe bewegten Fotografien zu tun. Diese meditative Ruhe der Bilder lässt einen in den eindrucksvollen Panoramen der schroffen griechischen Landschaft versinken und macht zugleich Raum für die fein gearbeitete Tonspur dieses Films, auf der uns der pfeifende Wind, das rauschende Meer oder das zitternde Gras ihre eigene Geschichte zuflüstern.
Die weitgehende Sprachlosigkeit in diesem Film bewahrt das dunkle Geheimnis, das die Figuren miteinander verbindet und für (mindestens) einen weiteren Tod sorgt. So bleibt dieser bis zum Schluss rätselhaft und bewahrt das Leben von Schanelecs Ödipus. Der wird von dem Franzosen Aliocha Schneider gespielt, der selbst die Ausstrahlung eines jungen griechischen Gottes hat, aber nicht nur deshalb eine gute Besetzung ist. Das vibrierende Miteinander von Agathe Bonitzer und Aliocha Schneider trägt diesen Film. Beide sind Fremde in dieser Welt, die suchend durch Raum und Zeit reisen.
Und doch wird nach der seichten Verfilmung von Daniela Kriens Roman »Irgendwann werden wir uns alles erzählen« von Emily Atef und Margarethe von Trottas eindimensionalem Blick auf die Beziehung von Ingeborg Bachmann und Max Frisch auch der dritte deutsche Wettbewerbsbeitrag keine Jubelstürme hervorrufen. Denn Schanelecs Kino polarisiert. Ihre avantgardistische Filmkunst kennt nur große Begeisterung oder maximale Ablehnung. Man muss sich auf diese ungewöhnliche Ästhetik einlassen, um ihr etwas abgewinnen zu können.
Wie schon ihr mit dem Silbernen Bären ausgezeichneter Film »Ich war zuhause, aber…« ist auch »Music« vieles zugleich. Schwer zugänglich und universell, sperrig und zart, widerborstig und verletzlich. Vor allem aber ist es in jedem Sinn anspruchsvoll. Man sollte das Wissen um den Ödipus-Mythos schon im Gepäck und Lust auf gegenwartsbezogene Dekonstruktion haben, um der gleichermaßen anspielungsreichen wie verrätselten Handlung folgen zu können.
Kann man bei all den Verlusten und Vergehen, die das Leben bereithält, überhaupt heilen? Wenn, dann in der Musik, scheint Angela Schanelec uns hier zu sagen. Der Tod folgt dem Leben so sicher wie der Donner dem Blitz. Und doch schützt uns das nicht vor seiner Unmittelbarkeit. Wir wissen zwar, dass er kommt, schrecken aber dennoch immer wieder zusammen, wenn er über uns hereinbricht. »Music« erzählt von einem Dasein jenseits von Leben und Tod. Die Sprache, auf die Schanelec dabei setzt, ist aber vielleicht auch schon jenseits des Kinos. Entsprechend scheiden sich an diesem Film die Geister.
[…] Mit dem Silbernen Bären für das Beste Drehbuch wurde Angela Schanelec für ihre Vorlage zu »Music« ausgezeichnet. Schanelec gewann bereits 2019 für Ihren Film »Ich war zuhause, aber …« den Silbernen Bären für die Beste Regie. Ihr Film ist eine moderne und freie Adaption des Ödipus-Mythos. […]
[…] zu fallen. Nach Emily Atefs »Irgendwann werden wir uns alles erzählen«, Margarethe von Trottas »Ingeborg Bachmann – Reise in die Wüste« und Angela Schanelecs »Music« lässt der vierte deutsche Wettbewerbsbeitrag endlich erahnen, was […]