Für manche sind sie Kinderkram, für andere große Kunst. Die Rede ist von Animationsfilmen. Die Berlinale hat einige im Programm. Die Spannbreite reicht von moderner Mythologie bis hin zur politischen Dystopie.
Vor 21 Jahren hatte das animierte Kino seinen großen Berlinale-Moment. Damals erhielt Hayao Miyazaki den Goldenen Bären für sein anspielungsreiches japanisches Märchen »Chihiros Reise ins Zauberland«. Seither sorgen Animationsfilme immer wieder für Aufsehen, Ari Folmans »Waltz with Bashir« etwa war 2008 für die Goldene Palme in Cannes sowie 2009 für einen Oscar nominiert. In Berlin waren in den vergangenen Jahren – abgesehen von so manchem Disney-Kitsch – mit Wes Andersons »Isle of Dogs«, Liu Jians Gesellschaftssatire »Have A Nice Day« oder Michel Ocelots »Les Contes de la nuit« einige sehenswerte Animationsfilme im Wettbewerb vertreten.
In diesem Jahr konkurrieren mit Makoto Shinkais »Suzume« und Liu Jians »Art College 1994« gleich zwei Animés um den Goldenen Bären. Aber auch in den Sektionen Encounters und Panorama sind zwei eindrucksvolle Animationsfilme zu sehen.
Im Nebenwettbewerb Encounters läuft die fesselnde Dystopie »Műanyag égbolt« des ungarischen Duos Tibor Bánóczki und Sarolta Szabó. Sie erzählt von einer Welt, in der auf der Erde kein natürliches Leben mehr existiert. Stattdessen gibt es einige Metropolen, die die menschliche Existenz unter Kuppeln erlauben.
Abseits aller natürlichen Kreisläufe wird ein neuer Lebenszirkel geschlossen, denn im Alter von 50 Jahren wird jedem ein Samen implantiert, der aufgeht und das menschliche Leben in ein pflanzliches verwandelt, damit Sauerstoff und Nahrung produziert werden können. Stefans Frau Nóra hat sich diesen Samen 15 Jahre vor Ablauf ihrer Zeit implantieren lassen, sie hat den Tod ihres gemeinsamen Kindes nicht verwunden. Aber Stefan will das nicht akzeptieren und bricht mit allen Regeln dieser Zivilisation.
Den beiden ungarischen Macher:innen hinter diesem sehenswerten Film verbinden hier Ideen des chinesischen SciFi-Papstes Cixin Liu mit dem Konzept der Überwachungsgesellschaft, wie man es von George Orwell oder Aldous Huxley kennt. Wissenschaftlich fundiert haben sie eine Öko-Dystopie erfunden, die die schlimmsten Prophezeiungen hinsichtlich Klimawandel und Artensterben mit den Hoffnungen der Rettung der menschlichen Existenz durch Innovation und Geoengeneering verbindet. Ein Film, der die Sicht auf unsere Gegenwart radikal verändert.
Keinen neuen, aber einen anderen Blick auf den Krieg zwischen dem Irak und dem Iran in den 80er Jahren wirft der Film »La Sirène« von Sepideh Farsi. In grellen Rot- und Orangetönen erzählt der Film von der Belagerung der iranischen Ölmetropole Abadan im Jahr 1980 durch das irakische Militär. Der 14-jährige Omid bleibt mit seinem Großvater in der Stadt zurück, während sein älterer Bruder gegen den Irak in den Krieg zieht und die restliche Familie flieht. In Abadan wird er zu einem Aktivisten, der die Gebliebenen versorgt und am Ende in die Fußstapfen seiner Ahnen tritt und als Kapitän Verantwortung übernimmt.
Die Erzählung wechselt zwischen der albtraumhaften Wirklichkeit, Erinnerungen und tatsächlichen Albträumen, in denen sich die Wege der unter Beschuss stehenden Stadt zu Escher’schen Irrwegen auftürmen, die nie ans Ziel führen. Die Figuren, die die im Iran geborene und in Paris lebende Regisseurin auftreten lässt, bilden alle politischen Fraktionen ab – vom begeisterten Soldaten bis hin zum fluchenden Oppositionellen, von den brüllenden Mullahs bis hin zu emanzipierten Frauen ohne Kopftuch.
Abadan hatte als Stadt des Öls eine große Raffinerie, die von den irakischen Truppen bis zur vollkommenen Zerstörung unaufhörlich bombardiert wurde. Hier zieht man unweigerlich Parallelen zu ukrainischen Städten wie Mariupol oder Bachmuth, die von den Russen dem Erdboden gleichgemacht werden. Vor diesem Hintergrund bekommt Sepideh Farsis in Scherenschnitt-ähnlichen Computeranimationen erzählter Film eine beklemmende Aktualität.
Konkurrenz bekommt der Chinese von dem Japaner Makoto Shinkai, der abseits der renommierten Ghibli-Studios reüssiert. Sein Film »Suzume« erzählt eine fantastische Geschichte, die durch das Japan der Neuzeit und zugleich tief hinein in die japanische Mythologie führt. Im Mittelpunkt steht die titelgebende Figur, die einem geheimnisvollen Mann, der als Schließer magischer Türen durch das Land reist. Das Schicksal führt sie zusammen, so dass Suzume gemeinsam mit ihm gegen dunkle Mächte aus dem Reich der Toten kämpfen muss. »Suzume« ist zugleich eine großartig umgesetzte Allegorie auf das Japan der Gegenwart, in dem Tradition und Moderne kunstvoll miteinander in einen Dialog gesetzt werden. Für die Titelheldin ist die Odyssee über die japanischen Inseln auch eine Suche nach sich selbst, bei der sie Dinge loslassen und erobern, nach ihren Wurzeln suchen und sich mit ihren Erinnerungen auseinandersetzen muss.
Der Chinese Liu Jian rückte kurz vor dem Start der Berlinale noch mit seinem Animationsfilm »Art College 1994« in den Wettbewerb des Festivals. Er erzählt darin mit einer Handvoll Figuren von den Debatten um Kunst, Politik und Gesellschaft am Campus der Chinese Southern Academy of Arts. »Art College 1994« ist ein bewegtes Sittengemälde, das autobiografisch geprägt, allerdings abgekoppelt von den gesellschaftlichen Zuständen in China ist. Der Film sei »kein nostalgischer Rückblick, sondern vielmehr eine Feier der Schönheit des Lebens und der Kunst in jedem jungen Menschen und in jeder alten Seele. Ich möchte, dass es ein lautes, aufrichtiges Lied ist, das zu jedem jungen Geist spricht und seinem Mut und seiner Vitalität Beifall zollt«, heißt es auf der Seite china-underground.com.