Der portugiesische Regisseur João Canijo konkurriert mit dem Drama »Mal Viver« um die Bären. Darin porträtiert er fünf Frauen und ihre schwierigen Beziehungen zueinander. Parallel läuft im Nebenwettbewerb Encounters sein Film »Viver Mal«, in dem die Genialität dieses Spiegelprojekts überhaupt erst sichtbar wird.
Irgendwo im Hinterland Portugals liegt ein kleines Hotel, ein Familienbetrieb. Die neurotische und klinisch depressive Piedade (Anabela Moreira) ist eine der Frauen, die die Geschicke in diesem Kleinod der Ruhe lenkt. Das Hotel lebt vor allem von seinen Stammkund:innen: ein Fotograf mit seiner Partnerin, ein lesbisches Paar mit einer der Mütter, eine anderes Paar mit der Mutter der Ehefrau. Sie bilden den Hintergrund für das Drama, dass sich in »Mal Viver« hinter den Kulissen entfaltet und dem der portugiesische Regisseur João Canijo – in Cannes und Venedig bereits in den Nebenreihen zu sehen – in seinem Wettbewerbsbeitrag seine ganze Aufmerksamkeit widmet.
Zu Beginn des Films reist Piedades Tochter Salomé (Madalena Almeida) kurz nach dem Tod ihres Vaters an. Wie sich im Laufe des Films herausstellt, ist Salomé nach der Trennung der Eltern zu ihrem Vater gezogen. Ihre Mutter trägt ihr das nach, fühlt sich von Salomé und der Welt verraten, ohne ihr das laut vorzuwerfen. Zugleich leidet sie unter dem Regime ihrer Mutter Sara (Rita Blanco), die ihr ihrerseits vorwirft, mit ihrer klinischen Depression ihre Enkelin vertrieben zu haben. Nach dem Tod des Vaters hat sie die Enkelin zurück ins Haus geholt, in der heimlichen Hoffnung, ihre neurotische Tochter damit in die Flucht zu tragen.
Piedade spürt das und leidet weiter still vor sich hin. Die Welt liegt schwer auf ihren Schultern, wieviel davon selbst gemacht und was auferlegt ist, ist schwer zu sagen. In den Morgenstunden zieht sie einsam ihre Bahnen durch den hoteleigenen Pool, abends verstummt sie mit ihrem Schoßhund Alma vor dem Fernseher. »Meine Mutter ist wie ein Fels, sie hat für niemanden Gefühle“, sagt Salomé im Film über Piedade.
Im Hotel arbeiten außerdem Piedades Schwestern Raquel (Cleia Almeida) und Ângela (Vera Barreto), die einerseits die lineare Konstellation von Mutter-Tochter-Enkelin weiten und andererseits von außen auf die schwierigen Beziehungen in dieser Linie blicken. Zugleich sind auch sie Saras Töchter. Ihr Verhältnis vertieft den Eindruck, dass es den Müttern an diesem Ort schwer fällt, ihre Töchter vorbehaltlos zu lieben. Vielmehr neigen sie zu maßregelndem und übergriffigem Verhalten, was bei allen alte Wunden aufreißt und Traumata an die Oberfläche holt. Alle fünf Frauen sind unglücklich an diesem Ort, aber keine kann die Kraft aufbringen, zu gehen. Stattdessen vollziehen sich Intrigen, bis Piedade eine verhängnisvolle Entscheidung trifft.
Der Hotelbetrieb als Oberfläche spielt hier dennoch nur eine geringe Rolle. Er bleibt Kulisse, an der ab und an die skurrile Selbstbezogenheit der fünf Frauen sichtbar wird. Etwa wenn im Hintergrund die Geräusche von Konflikten hörbar oder Gäste am Pool unwirsch auf die Hausregeln hingewiesen werden.
Zugleich wird diese Kulisse ästhetisch von Kameramann Leonor Teles (2016 in Berlin für den Kurzfilm-Bären nominiert) großartig ins Bild gebracht. In langen und genau vermessenen Einstellungen hält die Kamera das Geschehen fest. Dabei will der Film nicht psychologisieren, sondern einfach nur beobachten, weshalbdie Kamera nie nah herangeht, sondern auf Abstand bleibt. Zum Teil sucht sie gar Zerstreuung, wendet sich der Ruhe abseits des Geschehens zu, dass außerhalb des eingefangenen Bildes nur auf der Tonspur zu uns dringt. Diese Distanz spiegelt die psychologischen Beziehungen der Figuren untereinander, die einfach nicht zueinanderfinden wollen.
Eine besondere Rolle erhält dabei der Pool, der wie ein Akteur in sensationellen Bildern in Szene gesetzt wird. Die Kälte des glasklaren Wassers darin entspricht dem zwischenmenschlichen Miteinander, Piedades morgendliches Bad wirkt wie ein Stählen des eigenen Körpers gegen die Kälte des Lebens.
Muss man, um lieben zu können, selbst Liebe erfahren? Diese Frage schwebt über diesem vibrierenden Film, der den Traumata des Lebens nachgeht. »Love is an agony« heißt es dazu im Film, der diese Qual mit einer starken Hauptdarstellerin ins Bild setzt. Anabela Moreira kennt Canijo aus seinen vorangegangenen Filmen, ihre Zusammenarbeit kann man als vertraut bezeichnen. Sie verkörpert diese mit dem Dasein kämpfende Frau eindrucksvoll. Ihre stille Introvertiertheit schreit geradezu nach Erlösung von den Gemeinheiten der eigenen Mutter. Zugleich wirkt das höchst aggressiv gegenüber ihrer Tochter Salomé, die unter der Kälte ihrer Mutter sichtbar leidet.
Dass Salomé nicht die einzige Tochter ist, die unter einer neurotischen Mutter leidet, macht das filmische Gegenstück zu »Mal Viver« sichtbar. »Viver Mal« heißt der schon im Titel gespiegelte Film, der sich in identischer Ästhetik den Hotelgästen und ihren Dramen zuwendet. Dabei setzt João Canijo zum Teil sogar auf das gleiche Material, nur dass die Aufmerksamkeit auf andere Figuren verschoben wird. So erschließen sich nebenbei Dinge, die zuvor noch rätselhaft blieben.
Gleich bleibt allerdings auch hier, dass die Figuren unter gestörten Mutter-Tochter-Verhältnisse leiden, die durch Lug, Betrug und Intrigen befördert werden. Alice (Carolina Amaral) und Júlia (Leonor Vasconcelos) etwa sind mit Júlias Mutter Judite (Beatriz Batarda) angereist, damit sich Júlia in Ruhe auf ihre Prüfungen vorbereiten kann. Judite steht der lesbischen Beziehung kritisch gegenüber, die selbstbewusste Alice ist ihr ein Dorn im Auge. Beharrlich manipuliert sie ihre Tochter, drängt sich auf und ätzt gegen Alice. Das sorgt bei den beiden jungen Frauen für erhebliche Spannungen, die ihre Beziehung gegen die besitzergreifende Mutter verteidigen müssen.
Graça (Lia Carvalho) und ihr Freund Alexandre (Rafael Morais) wurden von ihrer Mutter Elisa (Leonor Silveira) für ein paar Tage in das Hotel eingeladen. Was Graça nicht weiß ist, dass ihr Freund und ihre Mutter schon lange ein heimliches Verhältnis pflegen und Elisa die Gunst der Stunde nutzen will, um Alexandre für sich zu gewinnen. Einzig die Beziehung von Jaime (Nuno Lopes) und Camila (Filipa Areosa) weicht von dem Motiv der gestörten Mutter-Tochter-Beziehungen ab. Aber auch in ihrem Verhältnis wirken alte Traumata, die ihr Verhältnis an den Rand der Existenz bringen.
Canijo, der mit »Viver Mal« im Nebenwettbewerb Encounters um eine goldene Bären-Plakette konkurriert, führt mit diesem filmischen Gegenstück eindrucksvoll die Gemachtheit von Fiktionen vor Augen. Er zeigt, wie konstruiert Geschichten sind, indem sich die Erzählung für bestimmte Figuren und Perspektiven entscheidet. Zugleich macht er deutlich, was mit den Mitteln des Films so alles möglich ist, was angesichts der Krise, in der sich das Kino befindet, ein wichtiges Zeichen ist.
Warum dieses mutige Spiegelprojekt allerdings nicht gebündelt als Schuss und Gegenschuss im Wettbewerb läuft, sondern auf zwei Sektionen verteilt wird, bleibt rätselhaft. Die wenigsten Zuschauer:innen werden so in den Genuss kommen, die Perspektivverschiebungen und gegenseitigen Spannungen überhaupt wahrzunehmen. »Mal Viver« und »Viver Mal« ist das, was man gemeinhin als die zwei Seiten einer Medaille bezeichnet. Sie macht diese beiden Filmperlen zu einem Geniestreich und den portugiesischen Regisseur zu DER Entdeckung dieses Festivals.
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