Film

Iranische Albträume

Ali Abbasis düsterer Iran-Thriller »Holy Spider« erzählt vom fanatischen Frauenhass im Iran und basiert auf wahren Begebenheiten. Die Exil-Iranerin Shirin Neshat blickt in ihrem Drama »Land of Dreams« einer Gesellschaft ins Gewissen, die selbst die Träume der Menschen überwacht. Beide Filme sind nun für das Heimkino zu haben.

Die Blutergüsse auf dem Rücken von Somayeh sind nicht zu übersehen, als sie sich für die vor ihr liegende Nacht fertigmacht. Um mit ihrer kleinen Tochter über die Runden zu kommen, muss sie sich prostituieren, Nacht für Nacht für Nacht. Auf den Straßen im Iran gelten Frauen wie sie als vogelfrei, brutalen Übergriffen von Freiern sind sie schutzlos ausgeliefert. Der letzte Kunde wird Somayeh zum Verhängnis. Man findet ihre Leiche auf einem Feld am Rande der Stadt.

In den Jahren 2000 und 2001 wurden in der iranischen Stadt Maschhad sechzehn Frauen auf brutale Weise ermordet. Basierend auf den sogenannten Spinnenmorden des Bauingenieurs Saeed Hanaei, der Frauen unter großem Aufwand in seine Wohnung lockte, hat der iranischstämmige Regisseur Ali Abbasi, der zuletzt mit aufwühlenden Filmen wie »Shelley« oder »Border« für Aufsehen gesorgt hat. einen packenden Thriller gedreht. Dabei nimmt er nicht die politischen Strukturen des Landes ins Visier, gegen die immer noch tausende Iraner:innen unter Lebensgefahr protestieren, sondern konzentriert sich auf die von Korruption, religiösem Fanatismus und Misogynie unterwanderte Mehrheitsgesellschaft.

Ali Abbasi: Holy Spider. Mit Sahra Amir Ebrahimi, Mehdi Bajestani, Arash Ashtiani. Alamode Film. 113 Minuten. Hier bestellen. | Shirin Neshat: Land of Dreams. Mit Sheila Vand, Matt Dillon, Isabella Rossellini. WFilm. 113 Minuten. Hier bestellen.

Die Mehrheitsgesellschaft nimmt auch die Fotografin, Künstlerin und Filmemacherin Shirin Neshat in ihrer bedrückenden Gesellschaftssatire »Land of Dreams« in den Blick. Allerdings steht im Mittelpunkt des Films der Exil-Iranerin die amerikanische Gesellschaft, der ihre Hauptfigur im Auftrag des Staates ins Gewissen horcht. Simin arbeitet als Statistikerin für das Amt für Volkszählung. Sie sammelt Daten über die Bürger:innen, indem sie sie befragt, auch und insbesondere zu ihren Träumen. »Wenn Du einem nahekommst, einem Menschen und seinem Verhalten, sei bereit für Verwirrung, Unordnung und Leid«, heißt es warnend in diesem albtraumwandlerischen Film.

William Moseley (Mark), Sheila Vand (Simin), Matt Dillon (Alan) | © W-film / Ghasem Ebrahimian / Bon Voyage Films / Palodeon Pictures

Bei der Erkundung des Un- und Unterbewussten durch den Staat ist man natürlich schnell bei der Gedankenpolizei. Neshat scheint aber auf ein anderes, über die inneren Verhältnisse eines Staates hinausgehendes Problem hinauszuwollen. Die imperiale Art und Weise, mit der die USA in Staaten wie Afghanistan, Irak oder Vietnam eingefallen sind, überträgt sie hier auf die eigenen Bürger:innen. Der Staat macht sich über diese Bürger:innen her, dringt gewaltsam bis in ihre Köpfe, in ihr Unterbewusstsein ein, ermächtigt sich ihrer Träume oder löscht sie gleich aus.

Zugleich hinterfragt »Land of Dreams«, dessen Kinostart in den letzten Zügen der Pandemie zu Unrecht etwas unterging, natürlich auch das Verhältnis von staatlicher Überwachung und persönlicher Freiheit – auch bei Simin selbst. Das Amt für Volkszählung, in dem sie arbeitet, ist ein technisierter Hochsicherheitstrakt, den schlimmsten Fantasien der Futuristen nachgeahmt. Die Aufzeichnungen der Interviews, die sie im ganzen Land führt, werden hochgeladen, ausgewertet und katalogisiert. Heimlich betreibt Simin einen Videoblog, in dem sie besondere Träume der Befragten kostümiert auf Farsi nachspielt. Die Vision eines Traumexports schimmert hier auf, falls den Menschen im autoritären Iran die Träume ausgehen.

Zar Amir Ebrahimi als Journalistin Rahimi in Ali Abbasis »Holy Spider« | © Alamode Film

In Ali Abbasis »Holy Spider«, der in Jordanien gedreht, für mehrere Europäische Filmpreise nominiert und von Dänemark für den Auslandsoscar eingereicht wurde, sind Träume vollkommen abwesend. »Holy Spider« konfrontiert mit der harten Realität in einem Land, das Ideologie über Menschlichkeit, den Anschein über Wahrhaftigkeit stellt. Im Mittelpunkt steht die junge Journalistin Rahimi, die der ominösen Serie an Morden junger Frauen auf den Grund geht. Aus Teheran in die heilige Stadt geschickt – Maschhad beherbergt den Schrein des schiitischen Imams Reza und gilt als religiöses Zentrum des Landes –, geht sie möglichen Verwicklungen der Sicherheitsorgane auf den Grund, denen sie unterstellt, die Morde im Kampf gegen die Prostitution billigend in Kauf zu nehmen. 

Ausgangspunkt ihrer Suche ist ein Kollege bei der lokalen Zeitung, den der Serienmörder verlässlich über die Morde und sein Tatmotiv informiert. Rahimi recherchiert bei den ermittelnden Behörden, befragt religiöse Offizielle und spricht mit betroffenen Familien und Prostituierten. Sahra Amir Ebrahimi beeindruckt einmal mehr mit ihrem Spiel, hier in der Rolle der mutigen Journalistin, in Cannes wurde sie deshalb mit der Palme für die beste weibliche Hauptrolle ausgezeichnet. Unter Gefahr für Leib und Leben versucht ihre Figur hartnäckig, dem Täter auf die Spur zu kommen.

Mehdi Bajestani als selbstgerechter Saeed in Ali Abbasis »Holy Spider« | © Alamode Film

Bauarbeiter und Familienvater Saeed, mit stoischer Miene eindrucksvoll von Mehdi Bajestani verkörpert, treibt derweil weiter sein Unwesen. Weil er als Soldat unversehrt aus dem Krieg zurückgekehrt ist, sucht er nun einen anderen Weg, um zum Märtyrer zu werden. Er führt seinen persönlichen »Dschihad gegen die Sittenlosigkeit«, will die Stadt von »der Sünde und moralischen Verkommenheit« befreien. An ganz unterschiedlichen Orten der Stadt schlägt er zu, wie ein Spinnennetz legt sich die Karte seiner Verbrechen über die Stadt. Saeeds persönlicher Krieg richtet sich in der religiös-patriarchalen Gesellschaft Irans nur gegen die sich prostituierenden Frauen und nicht gegen die lüsternen Männer.

Die Bigotterie der Gesellschaft steht auch im Mittelpunkt von Shirin Neshats »Land of Dreams«. Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, in dem angeblich alle Träume wahr werden können, präsentiert sie hier als Land von Egoist:innen und Narzist:innen, in dem sich jede:r selbst am nächsten ist. Immer wieder begegnet Simin auf ihren Befragungstouren Menschen, die sich längst in einer parallelen Existenz eingerichtet haben und kaum mehr zur Kenntnis nehmen, was außerhalb der eigenen Gedankenwelt stattfindet. Die Idiotie der Behörden, die Tristesse der Bürgerlichkeit, den Wahnsinn der Religiosität, die Abgründe des Internets und die Einsamkeit der Aufrechten – all das bekommt man hier zu sehen.

In einer bedrückenden Szene ist die junge Traumfängerin bei einem Familienessen anwesend, bei dem die Gastgeberin (Isabelle Rossellini) nur per Video zugeschaltet ist. Die berichtet amüsiert davon, dass die mexikanische Angestellte der Familie in den USA aufgehört habe, zu Träumen. Ihre Träume seien in Mexiko geblieben, heißt es im Film, in dem kein Dialog dem Zufall überlassen ist. Grundlage ist das bis ins kleinste Detail stimmige Drehbuch von Jean-Claude Carrière (»Belle du Jour«, »Borsalino«, »Die Blechtrommel«, »Der Swimmingpool«, »Das Salz der Tränen«), dem Lieblingsautor von Luis Buñuel. Es ist das letzte Projekt, das vor seinem Tod im Februar 2021 verfilmt worden ist.

Matt Dillon (Alan), Sheila Vand (Simin), Isabella Rossellini (Jane), William Moseley (Mark), u.a. | © W-film / Ghasem Ebrahimian / Bon Voyage Films / Palodeon Pictures

Als Simin den Sonderauftrag erhält, eine iranische Wüstenkolonie auszuhorchen (hier erinnert der Film atmosphärisch an Mani Haghighis inneriranischen Überwachungsthriller »A Dragon Arrives«), bekommt der Film eine über die inneren Verhältnisse hinausgehende Bedeutung. Sie selbst nutzt die Gelegenheit, die eigenen Wurzeln zu erkunden, und lässt den Auftrag im Wüstensand verlaufen.

Migrant:innen und Exilant:innen spielen in Neshats Film eine hervorgehobene Rolle. Zum einen weil die USA aller bedrückenden Tatsachen zum Trotz immer noch als Land der Träume gilt, zum anderen, weil sie sich für die unbewussten Gepäckstücke interessiert, die Eingewanderte mit sich herumschleppen. Sie selbst ist Ende der Sechziger in die USA ausgewandert, war seitdem nicht mehr im Iran. Dennoch träumt sie bis heute von ihrer Heimat.

Ihre Hauptfigur Simin – beeindruckend gespielt von Sheila Vand, die als geheimnisvolles Mädchen in Ana Lily Amirpours iranischem Vampirfilm »A Girl Walks Home At Night« bekannt geworden ist – ist unschwer als Doppelgängerin angelegt. Sie hat wie Shirin Neshat ihren Vater bei der Islamischen Revolution verloren und lebt jetzt in den USA. Kommt sie zur Ruhe, träumt sie vom Iran und ihren Eltern, die in der irdischen Welt zwar abwesend, in der surrealen Zwischenwelt, in die der Film eintaucht, aber überaus präsent sind. So ist in Simin die politische Repression im Iran immer mit anwesend. Ihre Existenz in der USA ist direkte Folge der politischen Säuberungen der Mullahs.

Die haben in »Holy Spider« nur eine Nebenrolle. Der in Dänemark lebende Abbasi fokussiert sich auf die Ereignisse, inszeniert das Nebeneinander von Saeeds Morden und Rahimis Recherchen wie einen klassischen Thriller, der auf erzählerische Verwicklungen und harte Bilder setzt. Der visuell fesselnde Film präsentiert den Iran als düsteres Land, in dem Frauen mit Lidschatten, Lippenstift und sichtbaren Haaransatz zum Freiwild religiöser Fanatiker werden. Dass sie vom Staat alles andere als Schutz erwarten dürfen, belegen nicht zuletzt die laufenden Proteste.

Mehdi Bajestani als selbstgerechter Saeed in Ali Abbasis »Holy Spider« | © Alamode Film

Bei Abbasi steht den Frauen aber nicht nur die politische Führung, sondern ein Großteil der Mehrheitsgesellschaft feindlich gegenüber. Dies belegt der zweite Teil des Filmes, in dem es darum geht, ob der gefasste Mörder auch bestraft wird. Zweifel sind angebracht, denn wohin die Kamera von Nadim Carlsen auch blickt, überall wird Saeed als Held gefeiert.

Wusste Abbasi in seinem hochgelobten Film »Border« noch mit ambivalenten und neuen Perspektiven zu überraschen, vermisst man hier Zwischentöne, die auf Zweifel am frauenfeindlichen Weltbild in der iranischen Gesellschaft oder Aufbegehren gegen selbiges hoffen lassen. Das wirkt in seiner demonstrativen Klarheit zu einseitig, die aktuellen Ereignisse im Iran zeigen, dass es diesen anderen Iran gibt.

Die Bilder, mit den Abbasi den Prozess gegen Saeed zeigt, wecken unbeabsichtigt Erinnerungen an Steffi Niederzolls auf der Berlinale mehrfach preisgekrönte Dokumentation »Sieben Winter in Teheran«. Darin geht die deutsche Filmemacherin dem Schicksal der iranischen Studentin Reyhaneh Jabbari auf den Grund, die 2014 trotz internationaler Proteste nach sieben Jahren Haft hingerichtet wurde, weil sie den Mann, der sie vergewaltigen wollte, in Notwehr umgebracht hat. Führt man sich die extreme Ungleichheit in der politischen, juristischen und gesellschaftlichen Bewertung der Fälle vor Augen, wird einem das Ausmaß der Misogynie in der iranischen Gesellschaft erst richtig bewusst.

Sheila Vand als Simin | © W-film / Ghasem Ebrahimian / Bon Voyage Films / Palodeon Pictures

Die Perspektive auf eine autoritäre und gewaltverliebte Gesellschaft, die Abbasi mit seinem harten Realismus bietet, weitet Neshat mit ihrem allegorischen Film, der mit surrealistischen Momenten gespickt auf Magischen Realismus setzt. Diese Erkundung des Unbewussten geht weit über die iranischen Verhältnisse hinaus, ist eher universell zu lesen und entsprechend offen gestaltet. Dieser zwischen Gesellschaftssatire und Dystopie changierende Film fordert dabei auch visuell heraus. Schnitt und Kameraführung übertragen den abgebildeten Albtraum auf die Bildebene. Das Auge bekommt klare Panoramen aus dem Mittleren Westen, dahinter schlummert aber eine unsichtbare Bedrohung. Gewissermaßen spielt Sheila Vand einmal mehr eine Vampirfigur, die hier der amerikanischen Gesellschaft in den Nacken beißt.

Zugleich gibt es traumhafte Sequenzen, etwa wenn Simin durch das gleißende Licht in eine Salzwüste tritt, wo sie mit den Bildern ihrer Familie und Porträts fremder Menschen ein Kunstwerk anlegt. Im Wüstensand schreibt sie sich so in das fragile Gesamtsystem der Menschheit ein. In der emphatischen Zuwendung zu den Menschen und ihren Schicksalen liegt das Versprechen einer Versöhnung und Heilung.

Mehdi Bajestani als selbstgerechter Saeed in Ali Abbasis »Holy Spider« | © Alamode Film

Ein solches Versprechen macht Abbasi nicht, vielleicht auch, weil seine Figuren aus dem Teufelskreis von Macht und Gewalt im Iran nicht herauskommen. Solange sich im Iran nichts ändert, bietet sich den Menschen immer nur dieselbe triste Perspektive. Dies scheinen auch die letzten Sequenzen des Films zu zeigen. Da sehen wir den vielleicht zehnjährigen Sohn des Massenmörders, der vor Rahimi die brutalen Taten seines Vaters an seiner kleinen Schwester demonstriert. So schreibt sich der Frauenhass in dieser Gesellschaft fort.

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