Der Hauptpreis des Filmfestivals in Locarno geht an den deutsch-iranischen Spielfilm »Critical Zone« von Ali Ahmadzadeh. Im Mittelpunkt steht der Dealer Amir, der in Teherans Untergrund High Society und Junkies mit Drogen versorgt.
Wie so vieles ist auch der Drogenkonsum im Iran vom Mullah-Regime verboten worden, die iranische Justiz bestraft einschlägige Tatbestände mit der Todesstrafe. Mit entsprechenden Risiken ist es verbunden, Drogen zu konsumieren oder zu verkaufen. Amir ist einer der unscheinbaren Männer, die dieses Risiko in Kauf nehmen. Eine Nacht lang begleitet Ali Ahmadzadehs Film den Mann mit sanftem Blick und Löwenmähne durch die Nacht.
»Critical Zone« beginnt dort, wo die iranische Regierung das Drogengeschäft hingedrängt hat: im Untergrund. Ein als Krankenwagen getarnter Kurier fährt in den Seitenarm eines Tunnels, wo schon ein Dutzend Dealer auf die neue Lieferung warten. Amir nimmt sich seinen Anteil und macht sich damit auf den Weg nach Hause, wo er abwiegt und portioniert, verarbeitet und seine Ware für den Verkauf vorbereitet. Gras wird zu Joints gedreht, Haschisch in genaue Würfel geschnitten, aus den Resten macht er Cookies und Weed-Kaffee. Dann noch ein kurzer Power-Nap und es geht mit ihm hinaus in die Nacht, zu den Gefallenen, den Kranken und den Überlebenskünstlern.
Amir, eindrucksvoll verkörpert von Amir Pousti, ist eine spannende Figur, denn er ist mehr als ein einfacher Dealer. Er ist sein bester Kunde, steht selbst permanent leicht neben sich und ist damit eine Art Seelenverwandter seiner Kund:innen. Er wirkt als Berater, Heiler und Erlöser in der Parallelgesellschaft, in der er sich bewegt. Er versorgt einfache Party-People, aber auch transsexuelle Prostituierte, schmuggelnde Stewardessen, verlorene Jugendliche und einsame Alte, die in Altersheimen dem Tod entgegen vegetieren. Er trägt das Herz am rechten Fleck, auch wenn er sein Geschäft am Ende recht nüchtern ausführt.
Der Episodenfilm bewegt sich unablässig im Zwielicht, drängt immer nach vorn, ist in seiner Bildsprache selbst ein Rausch der Kräfte und Energien. Im Schutz der Nacht dreht Amir mit seinem Auto seine Runden, lässt Menschen zusteigen, fährt sie von A nach B und übergibt dabei die begehrte Ware. Wann auch immer er seinen Stoff an die Menschen bringt, schlüpft er in eine Scheinexistenz, weil ihn seine wahre Identität in den Knast bringen würde. Die Kritik am Regime der Mullahs erfolgt hier in den Porträts der Menschen, denen Amir in einer Nacht begegnet. Mithilfe seiner Drogen haben sie sich entweder bewusst ins Abseits geschossen oder sie verschaffen ihnen kleine Momente der Freiheit. Hier zeigt der iranische Regisseur eine Wirklichkeit, die der Staat nicht zeigen will.
Ali Ahmadzadehs Film galt von Anfang an als einer der Favoriten in Locarno, auch weil es um das iranische Kino seit Ausbruch der Proteste still geworden war. »Critical Zone« hat er heimlich auf den Straßen Teherans und am Flughafen gedreht. Vor dem Festival wurde der 1986 geborene Regisseur von den iranischen Behörden unter Druck gesetzt. Absurde Vorwürfe der Pornographie wurden laut, wie der vor Jahren nach Berlin geflohene Produzent Sina Ataeian Dena, der auch an Steffi Niederzolls preisgekrönte Dokumentation »Sieben Winter in Teheran« mitwirkte, in einem Gespräch zum Film deutlich machte. Die iranischen Behörden ließen Ahmadzadeh nicht ausreisen, wollten nicht, dass er seinen Film in Locarno zeigt.
Der iranische Regisseur Ali Abbasi, der mit seinem Thriller »Holy Spider« in eine ähnliche Parallelwelt führt, hatte sich aus Sicherheitsgründen noch für einen Dreh im Ausland entschieden. Ahmadzadeh war sich des Risikos bewusst, »Critical Zone« ist sein erster Film, »der viele rote Linien der islamischen Zensur überschreitet«, wie man in seinem Statement im Presseheft erfährt. »Diesen Film zu machen war für uns ein Kampf und eine Rebellion – ihn der Welt zu zeigen wird ihn zum Triumph werden lassen.«
Dies ist mit der Auszeichnung in Locarno nun Wirklichkeit, die Jury lobte den Film als Manifest der Freiheit und Widerstandskraft des iranischen Volkes. Den dokumentarischen Realismus der im Alltag heimlich gedrehten Bilder bricht Ahmadazadeh surreal auf der Ton-Ebene. Der Sound von Bites und Bytes untermalt das Geschehen, verzerrte Computerstimmen leiten Amir durch die Stadt. So entsteht der Eindruck eines künstlichen Ortes, in dem alle am Rand des Wahnsinns existieren. In dieser Gesellschaft im Ausnahmezustand zieht Amir als geheimnisvoller Prophet seine Bahnen, die in die verborgenen Ecken der Wirklichkeit führen.
Das stärkste Bild in diesem an starken Impressionen reichen Film zeigt eine Stewardess, die mit Amir durch Teherans Straßen fährt, dabei auf dem Fensterrahmen des Autos sitzt und mit wehendem Haar triumphierend »Fuck you, yes, fuck you« in die Nacht brüllt (hier zu sehen). Der Film ist im Herbst vor Ausbruch der jüngsten Proteste im Iran entstanden, aber ihm sind all die Themen, wofür die Iraner:innen auf die Straßen gehen, schon eingeschrieben.