Klassiker, Literatur, Roman

Eine seltsame Stadt

© Thomas Hummitzsch

Xi Xis magisch-realistischer Roman »Meine Stadt« entführt ins Hongkong der Siebziger Jahre und vermittelt ein Gefühl für diese Metropole im Schwebezustand. In seiner Universalität strahlt er bis in die kolonial-chinesische Gegenwart.

Was sagt schon ein Name über einen Menschen? Im Fall der hongkong-chinesischen Schriftstellerin Xi Xi womöglich eine ganze Menge. Direkt übersetzt bedeuten die Schriftzeichen, die den Namen bilden, zweimal »Westen«, aber das war nicht der Grund, warum sich die 1937 als Cheung Yin in Shanghai geborene Autorin für ihn entschied. Die Form der Schriftzeichen erinnerte sie an ein Hüpfspiel aus ihrer Kindheit. Sie sah darin »ein Mädchen im Rock, das über auf dem Boden aufgemalte Quadrate hüpft«. Dieser ausgeprägte Sinn für das Visuelle ist typisch für die Literatur, wie sie uns nun erstmals in ihrem großen Heimatroman »Meine Stadt« begegnet.

Ein Beispiel: »Der Laden dort drüben ist ein Gemischtwarenladen. Vor der Tür steht der dürre Ladeninhaber und hängt mithilfe eines Hakenstocks Waren an einer Stange vor dem Laden auf. Bis dort schließlich eine Menge Sachen hängen: Bambuskörbe, Plastikeimer, Wasserkessel, Waschbretter. Bald darauf sieht es so aus, als würde der ganze Laden vor dem Schaufenster hängen. Wer vorbeigeht, scheint mitten durch einen Wald von Fabrikware zu laufen, die über seinem Kopf seltsame Blätter austreibt.«

So beschreibt es der Ich-Erzähler in diesem Roman, ein junger Mann namens Aguo, der als Angestellter der örtlichen Telefongesellschaft durch die Stadt streift. Aus seiner unverstellten Perspektive wird hier das Leben im Hongkong der Siebziger Jahre geschildert. Aguo zieht zu Beginn des Romans mit seiner Mutter Siusiu und seiner Schwester Afa unter das Dach eines alten traditionellen Hauses, in dem einst seine Tanten lebten. Die sind längst abgehauen, geblieben ist der Schreiner Abei von unten, der die schweren traditionellen Holztüren in Schuss hält. Außerdem spielen Aguos Freund Ayou, der mit einem Containerschiff auf Weltreise gehen wird, und Mike Munter, ein Kollege von der Telefongesellschaft, der rote Chilis an seinen Wänden trocknet und gern macht, was er will, eine wesentliche Rolle.

Xi Xi: Meine Stadt. Aus dem kantonesischen Chinesisch und mit einem Nachwort von Karin Betz. Suhrkamp Verlag 2023. 253 Seiten. 24 Euro. Hier bestellen.

Die Eltern der Autorin flohen 1950 nach der Ausrufung der kommunistischen Volksrepublik China aus Shanghai in die britische Kronkolonie Hongkong. Nach ihrem Schulabschluss arbeitete sie bis 1979 als Grundschullehrerin. Bereits in den Sechziger Jahren schrieb sie unter dem Pseudonym Xi Xi Drehbücher und Filmkritiken. Anfang der Siebziger wand sie sich der Literatur zu, 1975 erschien »Meine Stadt« als Serienroman in der Literaturbeilage des Hong Kong Express. Damals benutzte sie auch noch nicht ihren Künstlernamen, sondern den ihrer Hauptfigur Aguo, dessen Stelllvertreterfunktion – nicht biografisch, aber was die Beobachterposition betrifft – unschwer zutage tritt.

Mit diesem Fortsetzungsroman hat Xi Xi die ehemalige britische Kronkolonie erstmals auf die literarische Landkarte der Welt gehoben. Im Jahr 2000 führte die chinesische Wochenzeitschrift Asia Weekly den Roman auf Platz 51 der 100 besten chinesischen Romane. Für ihre Literatur hat sie zahlreiche Preise erhalten, ihre Bücher stehen Medienberichten zufolge auf dem Lehrplan der Schulen in Hongkong. Auf der Hong Kong Book Fair wurde sie 2011 zur Autorin des Jahres gewählt.

Aus der unverstellten Perspektive ihres naiven Anti-Helden beschreibt Xi Xi darin die Stadt als ein im ständigen Wandel befindliches Konglomerat aus Menschen und Geschichte, geprägt von Flüchtlingswellen, politischen Umbrüchen und sozialen Herausforderungen. Mit geradezu spielerischer Leichtigkeit hat Xi Xi unzählige Details und einschneidende Ereignisse aus der jüngeren Stadtgeschichte verarbeitet, um zu zeigen, dass es die kleinen Dinge im Leben sind, die dem Sein den Stempel aufdrücken. Immer wieder geht es darum, wie ihre Protagonist:innen über die Runden kommen; in einer Stadt, die mit jedem Menschen, der in ihr ankommt, ein wenig mehr aus den Nähten platzt.

Hongkong 1978 | Wikimedia via Flickr

»Es sind eine Menge Flüchtlinge angekommen. Ein paar Dutzend kamen per Flugzeug, die sind schon wieder weg. Andere kamen mit Booten, zu Tausenden. Die mit dem Flugzeug kamen, blieben in Lagern innerhalb der Stadt, die mit dem Boot kamen, blieben in Lagern auf dem Land«, beschreibt Aguo im Roman lakonisch Hongkongs geopolitische Lage.

Aguo ist ein stolzer Bürger dieser Stadt, der sich für seine chinesischen Wurzeln nicht schämt. »Würde mich jemand fragen, wen ich mir zum Vorfahren wünsche – Alexander den Großen, Julius Cäsar oder Richard Löwenherz, wäre meine Antwort: den Gelben Kaiser.« Neugierig beobachtet er das Geschehen um ihn herum, sammelt geradezu kafkaeske Erfahrungen in Krankenhäusern und Behörden, begegnet einfachen Leuten auf der Straße und erlebt, wie der Alltag der Menschen von den Wohn-, Arbeits- und Lebensverhältnissen ebenso geprägt ist wie von traditionellen Wurzeln, historischen Traumata und gesellschaftspolitischen Debatten.

In den kurzen, mit selbst gezeichneten Piktogrammen illustrierten, anspielungsreichen Kapiteln, geht es immer wieder darum, was die Menschen in diesem Melting Pot der Identitäten in ihrem Alltag erleben. Die Dimension dieser allegorischen Verarbeitung von Geschichte und Biografie wird in dem erhellenden Nachwort von Karin Betz*, die die sprachliche Vielfalt des Originals (Kantonesisch, Hochchinesisch, Englisch), die bestechende Visualität und die magische Leichtigkeit dieses Romans eindrucksvoll ins Deutsche geholt hat, erst richtig deutlich.

Im überaus lesenswerten TOLEDO-Journal »We all live in a yellow melting pot« zur Übersetzung des Romans erklärt Karin Betz einige der zahlreichen vom Original geforderten kreativen Wortschöpfungen und -wendungen und macht einige Geständnisse. Etwa dass sie an einer Stelle etwas »hinzugefügt, mir ausgedacht, reingetrickst« hat, was im Original gar nicht vorkommt, oder wie es funktioniert, dass der Roman aus dem kantonesischen Chinesisch übersetzt ist, obwohl sie gar kein Kantonesisch beherrscht. »Sprache (be)trügt. An mehr als einer Stelle diskutiert »Meine Stadt« auf schönste unangestrengte Weise, warum manche Begriffe nicht sind, was sie scheinen«, schreibt Betz in ihrem Journal.

Dies gilt auch für den hohen Grad an Mündlichkeit, die diesem Roman ihren Ton gibt. So wie Xi Xi das Leben Hongkongs im öffentlichen Raum aufgegriffen und verarbeitet hat, so hat sie die bilderhafte und visuelle Sprache auf der Straße eingesammelt. Als es darum geht, dass die Einführung des Telefons nicht nur dazu führt, dass jede:r alles sagen kann, sondern auch jede:r alles anhören muss, notiert Aguo lakonisch: »Wer auch immer das Ohr geschaffen hat, hat vergessen, ihm einen Deckel zu verpassen. Der Mund hat Lippen, die er schließen kann, wenn er nicht reden oder essen will. Die Augen haben Lider, die sie schließen können, wenn sie nichts sehen wollen. Nur dem armen Ohr fehlt ein Reißverschluss und es muss sich jeden Unfug anhören. Wer auch immer das Telefon erfunden hat, hat ebenso vergessen, den Hörer mit einem Deckel zu versehen, sodass jedermanns Gequassel durch die dicksten Wände und dicht verschlossene Türen und Fenster dringt und seine Stimme ungebeten in sämtlichen Räumen herumkrakeelt.«

In Passagen wie diesen tritt die »spielerische Ernsthaftigkeit« der Hongkonger Schriftstellerin zutage, von der im Kulturmagazin Zolima die Rede ist. »In der Kombination von Verspieltheit, raffiniertem Wortwitz und tiefer Gelehrsamkeit fängt Xi Xi wie kaum ein anderer Autor den Geist Hongkongs ein«, jubelt dort die Hongkong-Spezialistin des Guardian Ilaria Maria Sala. Dazu kommen zahlreiche, meist indirekte Referenzen von Kunstwerken, Filmen, Musik und Literatur, die »Meine Stadt« in Inhalt und Form aufnimmt.

Porträt der in Hongkong lebenden Autorin Xi Xi | Screenshot Zolima

Viele der im Buch erzählten Episoden und Gefühle zeugen wie die allegorische Telefon-Ohr-Passage von einer alltäglichen Universalität, die Sprache der Autorin ist gleichermaßen berührend wie humorvoll. Besonders einprägsam sind Xi Xis Vergleiche vom Schreiben und der Möbelproduktion sowie ihre subtilen Überlegungen zu den Mitteln und der Bedeutung des menschlichen Miteinanders.

Stilistisch greift »Meine Stadt« auf den magischen Realismus zurück, ohne jemals Bodenhaftung zu verlieren. Je öfter man diesen Roman liest, desto stärker tritt seine visuelle Vielschichtigkeit zutage. Mit leichtem Strich zeichnet Xi Xi in diesem großen Roman ein geografisches, historisches, politisches, kulturelles und vor allem menschliches Panorama von Hongkong, das einige der wichtigsten Facetten der Stadtgeschichte aufgreift.

»Tag für Tag verabschiedet sich etwas in dieser Stadt still und leise von uns, verblasst allmählich, und verschwindet ganz«, klagt Youyou, eine von Aguos Tanten. Dieser Roman ist ein Denkmal an diese verschwundene Stadt, der bis in die kolonial-chinesische Gegenwart strahlt.

* Karin Betz ist eine der renommiertesten Übersetzer:innen aus dem Chinesischen, sie hat u.a. die Werke von Nobelpreisträger Mo Yan und Friedenspreisträger Liao Yiwu übersetzt. Beim Litprom-Weltempfänger ist kürzlich ein hörenswertes Gespräch mit Karin Betz zur Übersetzung von Can Xues doppelbödiger Dystopie »Liebe im neuen Jahrtausend« erschienen.

Eine kürzere Version dieses Textes ist im Kulturaustausch 2+3/2023 erschienen.

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