Literatur, Roman

Schreiben statt Verschweigen

In den Eruptionen der Gegenwart spiegeln sich meist die Abgründe der Vergangenheit. Dabei führen die Romane des Sommers von Andrea Tompá, Can Xue, Fiston Mwanza Mujila, Maggie Shiptstead und Guillermo Arriaga in fünf Kontinente, durchqueren Zeiten und Welten und überzeugen dank wunderbarer Übersetzungen mit höchster Sprachkunst.

Nimmt man Andrea Tompas »Omertá« vergleichend mit beispielsweise Guntram Vespers »Frohburg« in den Blick, dann scheint es, als bräuchten Romane, die auf eine kleinstädtische Kulisse setzen, um von den Wendungen des Lebens zu erzählen, Platz, Platz und noch mehr Platz. Anhand von vier Figuren wird in diesem Opus Magnum, von dem kein geringerer als der große Péter Nádas gesagt haben soll, dass er beim Lesen süchtig geworden sei, die wechselvolle Geschichte der Stadt Klausenburg in der rumänischen Region Siebenbürgen in den Blick. In Cluj-Napoca haben in den dreißiger Jahren die ungarischen Faschisten getobt, jetzt, in den Fünfzigern, sind die stalinistischen Säuberungen und Kollektivierungen in vollem Gange und dringen tief in die Lebensrealitäten der Menschen ein. Die Handlung dieses hervorragend von Buchpreisträgerin Terézia Mora übersetzten Romans, der auf der Shortlist für den Internationalen Literaturpreis des Haus der Kulturen der Welt stand, folgt den Stimmen der Bäuerin Kali, dem Rosenzüchter Vilmos und den halb verwaisten Schwestern Annuska und Eleonóra, die in dem repressiven System der Securitate ihr jeweils eigenes Heil suchen. Dieses »Buch des Schweigens«, wie es im Untertitel heißt, ist ein großer Wurf, der als historischer Gesellschaftsroman angelegt ist und von den kleinen und großen Kompromissen in einer Diktatur erzählt, die das Verschweigen des eigenen Handelns zum obersten Gebot macht.

Andrea Tompa: Omertà. Aus dem Ungarischen von Terézia Mora. Suhrkamp Verlag 2022. 954 Seiten. 34,00 Euro. Hier bestellen.

Die wichtigste Gegenwartsautorin Chinas Can Xue ist für deutsche Leser:innen die große Unbekannte, die seit einigen Jahren verlässlich unter den heißesten Kandidat:innen für den Literaturnobelpreis auftaucht. Im Mittelpunkt ihrer technisch betrachtet leider allzu gegenwärtigen Dystopie steht ein recht einfach gestrickter Mann namens Wei Bo, der in einem rigiden Überwachungsstaat zum Spielball seiner Affären und der staatlichen Kontrolle wird. Nichts ist in dieser Geschichte, wie es scheint, überall lauern doppelte Böden, durch die Figuren wie Leser:innen munter fallen, ohne irgendwo mal greifbar aufzukommen, um sich aufzurichten gegen die unbekannten Mächte, die über ihr Schicksal bestimmen. Die Dinge, von denen dieses außergewöhnliche Buch handelt, geschehen ohne strenge Logik, weshalb sich auch das literarische Verfahren weniger an einer stringenten Handlungserzählung als vielmehr an den Zufällen und Wiederholungen des Lebens orientiert. »Dieses Buch ist das Seltsamste, was seit langer Zeit zu lesen war – so etwas wie eine lange Autofahrt im Nebel, bei der immer wieder umstandslos neue Figuren zu- und wieder aussteigen, begleitet von Geistern und Dämonen«, bringt Robin Detje die außergewöhnliche literarische Qualität dieses für den Internationalen Literaturpreis 2022 nominierten Romans auf den Punkt.

Can Xue: Liebe im neuen Jahrtausend. Aus dem Chinesischen von Karin Betz. Matthes Seitz Berlin 2022. 398 Seiten. 26,00 Euro. Hier bestellen.

Im Grenzgebiet zwischen Angola und dem damaligen Zaire (heute: Kongo), wo seit Jahrzehnten die Ärmsten der Armen nach Edelsteinen und Seltenen Erden – den Grundlagen des technischen Fortschritts der westlichen Welt – buddeln, hat der in Graz lebende kongolesischen Schriftsteller Fiston Mwanza Mujila seinen zweiten Roman nach seinem hochgelobten, musikalischen Debüt »Tram 83« angesiedelt. »Tanz der Teufel« taucht tief in die Welt der Glückssucher und Unglücksraben, Straßenkindern und Minenarbeitern, Freiheitskämpfern und Bandenmitgliedern, Flüchtlingen und Kindersoldaten, Gaunern und Agenten in einem angolanischen Provinzkaff ein. Dabei folgt die Handlung den neugierigen Blicken und Ohren eines österreichischen Schriftstellers, der Anfang der Neunziger in das von Mobutu Sese Seko regierte Zaire reist, um ein Buch über das Land, seine Menschen und ihr Schicksal zu schreiben. In unzähligen, zum Teil absurden Dialogen, figurativen Abschweifungen und historischen Ausflügen erzählt dieser Roman eindrucksvoll und überwältigend vom Kolonialismus in all seinen Facetten. Die Teufel in diesem, 2021 als bester Roman eines:einer afrikanischen oder afrikanisch-stämmigen Autor:in (Prix Les Afriques) ausgezeichneten Roman haben viele Namen und veranstalten in der rhythmischen Übersetzung von Katharina Meyer und Lena Müller einen wild stampfenden Tanz, der den Boden, auf dem diese Erzählung thront, zum Vibrieren bringt.

Fiston Mwanza Mujila: Tanz der Teufel. Aus dem Französischen übersetzt von Katharina Meyer und Lena Müller. Zsolnay Verlag 2022. 288 Seiten. 25,00 Euro. Hier bestellen.

Marian Graves ist eine Flugpionierin wie Jean Batten, die keine Grenzen kennt und genau deshalb das Unmögliche wagt. Als erste Frau tritt sie 1950 den Versuch an, die Welt mit dem Flugzeug in Längsrichtung, also den Nord- und den Südpol überquerend, zu umrunden, verschwindet aber kurz vor Abschluss ihrer Mission über dem Ross-Schelfeis, auf der letzten Etappe ihrer riskanten Reise. Das Logbuch, das als einziges Überbleibsel von der Unternehmung geblieben ist, dient der gefallene Hollywood-Kinderstar Hadley Baxter ein halbes Jahrhundert später als Vorlage für einen Film über die sagenumwobene Flugpionierin. Dabei stellt sie fest, dass sie mit der Abenteurerin zahlreiche Gemeinsamkeiten hat, denen der Roman folgt und die – in der gelungenen Übersetzung von Harriet Fricke, Susanne Goga-Klinkenberg und Sylvia Spatz – ebenso elegant wie subtil zu einer weltumspannenden und zeitlosen Emanzipationsgeschichte ausgerollt werden. Shipsteads dritter, horizonterweiternder Roman, der es auf die Shortlist des Booker Prize 2021 geschafft hat und noch im Rennen um den Women’s Prize for Fiction ist, erzählt mit unvergesslichen Charakteren von der unstillbaren Sehnsucht nach Freiheit und Leben, die von den widrigen Umständen der Herkunft nur umso stärker genährt werden.

Maggie Shipstead: Kreiseziehen. Aus dem Englischen von Harriet Fricke, Susanne Goga-Klinkenberg und Sylvia Spatz. dtv Verlag 2022. 864 Seiten. 28,00 Euro. Hier bestellen.

Der Mexikaner Guillermo Arriaga ist vor allem Cineast:innen bekannt, er steckt hinter den Drehbüchern von Alejandro González Iñárritus oscarprämierter Trilogie »Amores Perros«, »21 Gramm« und »Babel«, in der die gesellschaftlichen Verhältnisse in seinem Heimatland – Korruption, Rassismus, Gewalt, Ungleichheit, Misogynie – aufwühlend, facettenreich und im globalen Kontext betrachtet werden. Nachdem er in »Der Wilde« ein erstes literarisches Epos aus Schuld und Sühne in der Unterwelt von Mexiko-City angesiedelt hat, folgt nun mit »Die Feuer retten« ein weiteres Opus Magnum, das in Mexiko wochenlang die Bestsellerlisten anführte. Darin zeichnet er anhand einer Amour Fou zwischen einer gut situierten Tänzerin und einem verurteilten Mörder das Bild einer gespaltenen, nein, zerrissenen Gesellschaft, in der sich die wenigen Reichen hinter hohen Mauern verbarrikadieren, weil sie die Wut der Armen und Indigenen fürchten. Das Feuer dieser Liebe versucht Arriaga zu retten und muss dafür einige Volten schlagen, um die Komplexität und Widersprüchlichkeit der mexikanischen Wirklichkeit abzubilden. Der Roman ist in der hervorragenden Übersetzung von Matthias Strobel ein wilder Tanz, in dem die Strukturen dieser Gesellschaft am Anschlag tief in die literarische Sprache eindringen und die Frage, was ein Leben unter solchen Umständen lebenswert macht, auf allen Ebenen verhandelt.

Guillermo Arriaga: Die Feuer retten. Aus dem Spanischen von Matthias Strobel. Klett Cotta Verlag 2022. 800 Seiten. 28,00 Euro. Hier bestellen.

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