Die Kunst des Essays steht in den USA noch höher im Kurs als hierzulande. Dass sich aber auch die lange Kurzform lohnt, zeigen die Sammlungen von George Saunders, Joan Didion, Ursula Krechel, James Baldwin und Frank Berzbach.
Ein Buch in dessen Untertitel »Von den russischen Meistern lesen, schreiben und leben lernen« steht, macht in diesen Tagen erst einmal skeptisch. Aber Booker-Prize-Träger George Saunders muss wissen, was er tut (und schreibt), schließlich hat er zwanzig Jahre lang an der Syracuse University einen Kurs über russische Erzählungen des 19. Jahrhunderts gehalten und dabei »einige der besten Augenblicke meines Lebens« erfahren. In »Bei Regen in einem Teich schwimmen« (der Titel ist an Tschechow angelehnt) zeigt er anhand von Erzählungen aus den Federn von Tschechow, Turgenjew, Tolstoi und Gogol, wie und warum genau gute Literatur funktioniert. Dabei erklärt er nicht trocken die literarischen oder stilistischen Verfahren, sondern spürt in seinen von Frank Heibert wunderbar übersetzten Essays den Entscheidungen der vier Autoren nach, kreiert alternative Parallelerzählungen, beobachtet die Auswirkungen von Figurenzeichnungen auf das eigene Gemüt und schafft eine atemberaubende Empfindsamkeit für die betörende Wirkung großer Literatur. »Die wahre Schönheit einer Erzählung liegt nicht in ihrer anscheinenden Schlussfolgerung, sondern in den Veränderungen, die sie unterwegs am Geist des Lesers, der Leserin vorgenommen hat.«
Noch kurz vor ihrem Tod am Vorweihnachtsabend des vergangenen Jahres stellte die große amerikanische Schriftstellerin Joan Didion ein Dutzend Texte zusammen, die noch einmal ihre eigene Person und ihren Blick auf die Welt erklären sollten. »Was ich meine« steht über dem Vermächtnis der (neben Susan Sontag) zweiten großen amerikanischen Intellektuellen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (findet Buchpreisträgerin Antje Rávik Strubel). Es enthält Texte aus den Jahren 1968 bis 2000, also zwischen ihrem ersten großen Aufschlag mit »Stunde der Bestie« (Slouching Towards Bethlehem) und dem Buch »Das Jahr magischen Denkens«, mit dem sie 2005 den National Book Award gewann. In diesen Essays begegnen wir ihren großen sprachlichen Vorbildern Ernest Hemingway, Henry James oder Joseph Conrad, tauchen in den New Journalism und seine subjektive Herangehensweise ein, denken über Modefotografie und den Blick auf Frauen nach, leiden mit der jungen Joan Didion an den Selbstzweifeln, »wenn man vom College seiner Wahl nicht ausgewählt wird« und folgen noch einmal ihren von Orwell geliehenen Erklärungen, warum sie überhaupt schreibe. »Wenn ich von Bildern in meinem Kopf spreche, dann spreche ich, ziemlich konkret, von Bildern, die an den Rändern schimmern«, lesen wir da und sind längst im Bann dieses intellektuellen sprachlichen Glitzerns, das zwischen den Zeilen ihrer gleichermaßen nüchternen wie poetischen Prosa hervordringt.
Die Essays von Ursula Krechel, die 2012 für ihren Roman »Landgericht« den Deutschen Buchpreis erhielt, laden ein zum (gedanklichen) Spaziergang durch die Welt mit offenen Augen und Herzen. Sie sind, dem Titel »Gehen. Träumen. Sehen. Unter Bäumen.« folgend, intellektuelle Such- und Denkbewegungen, die mal ins Venedig des 18. Jahrhunderts zu Giacomo Casanova, dann ins Westberlin der 70er Jahre zu Uwe Johnson oder nach Köln zur gleichen Zeit zu Rolf Dieter Brinkmann führen. Die vier im Titel anklingenden Rubriken wirken motivisch in die überaus wachen, gleichermaßen poetischen wie genau geschriebenen Texte hinein. Sie haben mal Fontanes Brandenburger Spaziergänge als Grundlage (Gehen), dann Sigmund Freuds Psychoanalyse (Träumen), nehmen sich Kunstwerke, Malerei und Lyrik als visuelle Entitäten für »meine hörigen Augen« vor (Sehen) oder rücken den Apfelbaum in Form einer erratischen, aber überaus faszinierenden Kultur- und Literaturgeschichte des Apfels ins Mittelpunkt des Geschehens. Der Essay ist für Krechel ein Experimentierfeld, ein »Wahrnehmungsfilter«, durch den sie die Welt und ihre Erfahrung darin prüfend betrachtet, »angesiedelt im DAZWISCHEN, dem Ort der Versuche, dem Ort der Versuchung, Ausschweifung und Engführung zugleich.«
1940 erschien in den USA Richard Wrights sozialkritischer Roman »Native Son«, in dem erzählt wird, wie der Schwarze Bigger Thomas von der amerikanischen Gesellschaft bis in den Tod getrieben wird. James Baldwin bezog sich in seinen zehn Essays, die 1955 unter dem Titel »Notes Of A Native Son« erschienen sind, direkt auf Wrights Roman, indem er zum einen Wrights Charakterisierung von Bigger Thomas als stigmatisierend kritisierte. Neben solch kulturkritischen Essays befinden sich im Mittelteil einige seiner besten Texte, in denen er die Aspekte des amerikanischen und europäischen Rassismus – er vergleicht hier textübergreifend seine Erfahrungen in Harlem wie auch in Paris – konzentriert mit der Rasierklinge seziert. In diesen Texten wird Baldwins Atem spürbar, sein Ringen um verständliche Worte angesichts der unfassbaren rassistischen Grausamkeiten seiner Zeit. Als nur Stunden nach der Beerdigung seines Vaters in Harlem Rassenunruhen ausbrechen, beschleicht ihn das Gefühl, »als hätte Gott persönlich für das Ende meines Vaters die längste und misstönendste Coda ersonnen« und als seien die gewaltsamen Eruptionen eine Strafe für den eigenen Hochmut, nicht an die Apokalypse geglaubt zu haben. James Baldwin erhebt in diesen Texten in einem übergreifenden Sinn als Sohn eines Landes namens USA die Stimme und denkt laut und unverwechselbar über den langen und dunklen Schatten des Rassismus nach.
Frank Berzbachs Literaturverführer ist vielleicht einer der besten Reisebegleiter überhaupt, denn er ist selbst eine Reise durch die Welt. Sie führt durch die Lektüren des Literaturpädagogen und von dort in die Geistes- und Gedankenwelt des hochkreativen und wortgewandten Lebenskünstlers, der sich in seinen Büchern immer wieder mit ästhetischen und ethischen Fragen des Alltags auseinandergesetzt hat. Dass das Lesen der Kunst aber auch ganz grundsätzlich sowohl eine ethische als auch eine ästhetische Entscheidung mit sich bringt, zeigt dieser ganz subjektive, aber facettenreiche Lesebericht, der gleich zu Beginn festhält, dass Lesezeit schlicht und ergreifend Lebenszeit ist und es daher auf die Auswahl ankommt. Und die hält in den 13 Essays für jede:n etwas bereit, denn man flaniert mit W.G. Sebald und Teju Cole durch die Welt, legt mit James Baldwin (siehe oben) und Haruki Murakami ein paar Platten auf, erkundet die Vielfalt japanischer Literatur oder lernt mit Marcel Proust, Nino Haratischwilli, David Foster Wallace und Roberto Bolaño, wie man dicke Bücher liest. Das von Ada Romanova illustrierte Buch ist wie schon »Die Kunst ein kreatives Leben zu führen« selbst ein Kunstwerk, denn hinter dem transparenten Schutzumschlag wartet der eigentliche Titel darauf, wie gute Literatur entdeckt zu werden.
[…] Begeisterung für die lange Kurzprosa oder die kurze Langprosa – je nachdem, wie man es liest. In diesem Sommer lege ich fünf verschiedene Lebens- und Lesetexte ans Herz, besonders aber die von George Saunders, weil er zeigt, dass man gerade in diesen Zeiten von den […]
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