Der Bildband »125th Street. Photography in Harlem« taucht ein in über fünfzig Jahre Straßen- und Alltagsfotografie in New Yorks berüchtigtem Viertel. Die Bilder erzählen von der Selbstfindung der Black Community in einem Leben im ständigen Widerstand.
»What happens to a dream deferred?«, fragt Langston Hughes 1951 in seinem Gedicht »Harlem«.
What happens to a dream deferred?
Does it dry up
like a raisin in the sun?
Or fester like a sore—
And then run?
Does it stink like rotten meat?
Or crust and sugar over—
like a syrupy sweet?
Maybe it just sags
like a heavy load.
Or does it explode?
Ja, was passiert mit den aufgeschobenen Träumen? Diese Frage war für Hughes und seine Generation der black american people so elementar wie existenziell. Dem Gedicht folgten Proteste und Aufstände. Medgar Evers, Martin Luther King und Malcom X starben im Kampf gegen das Aufschieben der Träume, James Baldwin begleitete sie und analysierte den strukturellen Rassismus in den USA in seinen Texten.
»If you walk out of Harlem, ride out of Harlem, downtown, the world agrees what you see is much bigger, cleaner, whiter, richer, safer than where you are. They collect the garbage. People obviously can pay their life insurance. Their children look happy, safe. You’re not«, sagte der in Harlem geborene Baldwin in seiner legendären Rede 1965 an der Universität in Cambridge. »One of the great things that the white world does not know, but I think I do know, is that Black people are just like everybody else. … What is crucial here is that unless we can manage to accept, establish some kind of dialog between those people whom I pretend have paid for the American dream and those other people who have not achieved it, we will be in terrible trouble.«
Die schrecklichen Probleme, von denen Baldwin damals sprach, blieben nicht aus, man denke nur an die Gangkriminalität, die die Black Towns und Ghettos seit den 80ern immer wieder heimsuchen. New Yorks Viertel Harlem war immer auch elementarer Teil des black activism, nach Langston Hughes, James Baldwin und Ralph Ellison übernahmen Musiker wie Big L., Tupac Shakur und Alicia Keys das Wort.
Die 125. Straße, die auch Martin Luther King Jr Boulevard genannt wird, ist stiller Zeuge der Emanzipation der black americans. Hätte sie Münder, könnte sie davon erzählen, was aus aufgeschobenen Träumen wird. Die Straße ist eine der Hauptverkehrsadern Harlems und verläuft einmal diagonal durch Manhattan. An ihr liegt das berühmte Apollo Theater, das wie ein kultureller Magnet wirkt. Nachdem das Harlem-Viertel jahrzehntelang krimineller Hotspot war, so wie es Immortal Technique in seinem Song Dance with the Devil beschreibt, ist es seit gut zwanzig Jahren Objekt von Gentrifizierung und Aufwertung im Namen von Kunst und Kultur.
Der Bildband »125th Street. Photography in Harlem«, herausgegeben von Maria Antonella Pelizzari, Professorin für Geschichte der Fotografie am New Yorker Hunter College, und Arden Sherman, Direktorin und Kuratorin der 2011 gegründeten Hunter East Harlem Gallery, erzählt nun mit Fotos die Geschichte des sagenumwobenen New Yorker Viertels. Schon das Titelblatt hat es in sich. Es zeigt einen afroamerikanischen Jungen im Anzug, der auf dem Weg zur Kirche allein an einer Kreuzung wartet. Auf der gegenüberliegenden Seite sind mehr Menschen zu sehen. Aber nicht diese Menschen, sondern die Ampelbeschriftung am linken oberen Bildrand zieht den Blick, der der Blickrichtung des Jungen folgt, magisch an. Dort leuchtet der Schriftzug »Don’t Walk« und mit heutigem Blick wirkt dies wie eine Drohgebärde. Wenn du hier läufst, deinen Körper in diese Welt stellst und dich damit sichtbar machst, dann wird das nicht gut gehen.
Man muss bei dieser Fotografie von Ozier Muhammad aus dem Jahr 1994 unweigerlich an die #BlackLivesMatter-Proteste der Gegenwart denken, aber auch an die Proteste der Bürgerrechtler in den sechziger und siebziger Jahren. Zumindest letzteres ist kein Zufall, denn der Vater des Fotografen ist kein Geringerer als Elijah Muhammad, der Gründer der Nation of Islam, in deren Reihen Ikonen wie Malcom X oder Muhammed Ali gegen den Alltagsrassismus in den USA kämpften. Dass diese allegorische Fotografie nicht nur in die Vergangenheit ragt, sondern – vom Moment der Aufnahme betrachtet – auch in die Zukunft, ist mindestens eine Tragödie.
Der setzt der Bildband die lebendige Vielfalt des Alltags in Harlem entgegen, die von knapp zwei Dutzend afroamerikanischen Street-Life-Fotograf:innen in den vergangenen fünfzig Jahren festgehalten wurden. Dabei nehmen sie die Selbstfindung und Emanzipation der black community ebenso in den Blick wie die Gründung einer Erinnerungskultur, die die Kämpfe der Gründermütter und -väter in Ehren hält. Die 125th Street, die dabei immer im Mittelpunkt steht, wirkt dabei nicht wie ein nostalgischer Romantizismus des eigenen Aktionsraumes, sondern als Kulminationspunkt einer Idee, die den Namen Widerstand trägt. Denn kaum hatte sich rund um die Straße eine funktionierende Gemeinschaft gebildet, fuhren die Immobilienmakler Manhattans ihre Krallen aus, um sich die einst marode und inzwischen stabilisierte, durch Subkultur und Mythenbildung aufgewertete Verkehrsmeile unter den Nagel zu reißen. Inzwischen formiert sich hier der Widerstand gegen die raubtierkapitalistische Form des Ausradierens schwarzer Alltagskultur, die sich in der Aufnahme eines einzelnen Demonstranten mit dem Protestplakat »Harlem not for Sale« vor einem Amtsgebäude spiegelt.
Dazu beigetragen hat die selbst geschriebene Erfolgsgeschichte, die von Arden Sherman mit den Worten »Von Straßenverkäufern zu Marken« zusammengefasst wird. Denn klar ist, dass mit den Geschichten, die die Musik mit Bezug auf Harlem und die Black Culture schrieb, auch unzählige Trends gesetzt wurden. Das zeigt sich auf den Bildern von Jamel Shabazz, der in den Achtzigern den frühen Hip Hop fotografisch begleitet und später immer wieder die selbstbewussten Seiten des black american life festgehalten hat. Von Dawoud Bey finden wir unheimlich starke Aufnahmen des Alltagslebens auf den Straßen von Harlem aus den Siebzigern (später auch die eher journalistische Serie »Harlem Redux« aus der Gegenwart), denen Ozier Muhammad seine Bilder aus den Neunzigern gegenüberstellt. Der Japaner Katsu Naito hat Harlem und dessen black community Ende der Achtziger für sich entdeckt und hält deren Mitglieder mit dem neugierigen Blick des Außenstehenden fest.
Diesen und vielen anderen Schwarz-Weiß-Bildern setzt der Bildband die grellen Farbexplosionen auf den intimen und selbstbewussten Nachbarschaftsaufnahmen von Ruben Natal-San Miguel entgegen. In ihnen klingt an, was der Bildband später facettenreich und durch die Geschichte fliegend unter dem Schlagwort »Die Straße als Bühne« abbildet. Den stärksten Eindruck hinterlassen dabei die Aufnahmen von Khalik Allah (wie das Titelfoto dieses Beitrags), dessen knallige Fotografien Menschen im Licht der Straße abbilden. Diese Aufnahmen sprechen unmittelbar zu uns und zeigen uns im Baldwinschen Sinne »that Black people are just like everybody else« – stolz und verletztlich zugleich.
Selbstbewusstsein spielt vor allem dann eine große Rolle, wenn es um den Widerstand geht, da die Haltung selbst eine innere Überzeugung, einen klaren Standpunkt benötigt. Und so rücken Stolz, Selbstbewusstsein und Haltung im zweiten Teil des Bildbands in den Vordergrund, in dem die Widerstandsgeschichte der 125th Street fokussiert wird. Kwame Brathwaites inszenierte Aufnahmen sind in ihrer ikonischen Architektur stilbildend, Hiram Maristany hat den Widerstand im Alltag festgehalten. Die Street Photography von Shawn Walker und Beauford Smith aus den Siebzigern und Achtzigern wirken eher allegorisch, während Lola Flashs Farbbilder die existenziellen Proteste der Gegenwart abbilden. Mit Arbeiten von Isaac Diggs und Edward Hillel, von Han Zhang sowie Alice Attie werden die aktuellen Herausforderungen von Gentrifizierung und Verdrängung aufgegriffen.
Der Bildband erzählt vom Leben und Überleben in einer sich ständig wandelnden Umgebung, in der sich Nachbarschaften verändern und Gemeinschaften immer wieder neu finden müssen. Er handelt von Zugehörigkeit und Identität, von Stereotypen und Mystifizierung und von der beständigen Suche nach dem Platz der Bewohner Harlems im Meer der Möglichkeiten New Yorks.
Teju Cole beschrieb New York einst als »Open City«, in der jedes Viertel aus einer anderen Substanz zu bestehen schien, die ihm ein eigenes psychisches Gewicht gab. Von diesem physischen Gewicht Harlems erzählt dieser Bildband. »Things don’t go away just because you choose to forget them«, schreibt Cole in »Open City«. Die kollektiv geschriebene Geschichte der Fotografie, wie sie dieser Band erzählt, sorgt dafür, dass Vergessen keine Option mehr ist. Oder um es mit Hughes Worten zu sagen: dass die Dinge explodieren und all die aufgeschobenen Träume doch noch Wirklichkeit werden können. Vor allem aber bildet er eine großartige Grundlage, um die black community photography Harlems und zahlreiche hier wenig bekannte Künstler:innen zu entdecken.
[…] des amerikanischen und europäischen Rassismus – er vergleicht hier textübergreifend seine Erfahrungen in Harlem wie auch in Paris – konzentriert mit der Rasierklinge seziert. In diesen Texten wird Baldwins […]
[…] Immer wieder Harlem […]
[…] war für die bedeutendsten US-amerikanischen Literaturpreise nominiert und erhielt Lobeshymnen von Alice Walker, Oprah Winfrey und Barack […]
[…] war nicht nur für Baldwin eine ultimative Erfahrung, Toni Morrison, Maya Angelou, Audre Lorde und Alice Walker gehören zu den begeisterten Leser:innen der in Kentucky geborenen […]