Geschichte, Sachbuch

Vom Verbrechen namens Leben

Die US-amerikanische Kulturhistorikerin Saidiya Hartman erzählt in ihrem Band »Aufsässige Leben, schöne Experimente« fulminant von der geächteten Rebellion schwarzer Queers zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Diese Studie verändert nachhaltig den Blick auf die Selbstbehauptung des Schwarzen Lebens in den USA.

Am Anfang dieses originellen Experiments stehen Aufnahmen von namenlosen Schwarzen Mädchen, die nackt dem neugierigen Auge der Betrachtenden ausgeliefert sind. Nichts ist über diese Mädchen bekannt, es bleibt nur der Augenblick der Fotografie, der ihren kindlichen Körper bloßstellt und ihre leeren und verängstigten Blicke einfängt. Ein Jahr lang hat Saidiya Hartman, Professorin an der Columbia University in New York, über diese Bilder und ihre forensische Bedeutung nachgedacht, bevor sie beschloss, den Träumen und Möglichkeiten dieser Mädchen nachzuspüren. Sie hat soziologische Studien und Statistiken, Polizeiakten, Zeitungsberichte und Bildarchive, Monografien, Notizbücher und Briefe gesichtet, aber alles, was sie fand, war die pathologische Einordnung der schwarzen Frau als promiskuitive Kriminelle. Sie habe die Akten daher »gegen den Strich gelesen«, die Geschichten, von denen sie berichten, gestört und aufgebrochen, um ihre eigenen erzählen zu können.

»Es ist mein Bestreben, die aufrührerische Anlagen dieser Leben wiederzuentdecken; die offene Rebellion aus den Akten zu exhumieren, Aufsässigkeit, Verweigerung, gegenseitige Hilfe und freie Liebe aus ihrer Einordnung als Devianz, Kriminalität oder Pathologie zu befreien; freie Mutterschaft (reproduktive Selbstbestimmung), Intimität außerhalb der Institution der Ehe ebenso wie queere und geächtete Lust zu bekräftigen sowie die radikale Vorstellungskraft und alltägliche Anarchie gewöhnlicher schwarzer Mädchen zu beleuchten, was bisher nicht nur übersehen wurde, sondern nahezu unvorstellbar ist«, schreibt sie in ihrem Vorwort.

Ausgaben des englischen Originals

Zugegeben, es ist für Verfechter des Lehrbuchs eine ebenso ungewöhnliche wie gewagte Herangehensweise, die die Expertin für afroamerikanische Literatur- und Kulturgeschichte für ihre intime Chronik schwarzer Radikalität gewählt hat. Zumal sie des Lesen gegen den Strich mit einer »Methode des verschränkten Erzählens« ergänzt, bei dem die Stimme der Erzählerin und die der Figur untrennbar voneinander entwickelt werden. Sie praktiziert also eine Art kritische Fabulierkunst, die biografische Informationen mit historischem Wissen verschränkt und genau dort konsequent fortschreibt, wo das (Ver)Schweigen der Archive beginnt.

Hartman ist für diese Form der kritischen Befragung historischer Archive bekannt. In ihren wissenschaftlichen Studien und literarischen Essays hat sie sich immer wieder mit der problematischen Beziehungen zwischen Erinnerung, Erzählung und Darstellung auseinandergesetzt, um die Erfahrungsräume Schwarzen Lebens aus den verschleiernden, verfälschenden und Leben negierenden Dokumenten zu heben. Im Vorwort ihrer Essaysammlung »Diese bittere Erde (ist womöglich nicht, was sie scheint)« räumt sie ein, dass »diese Arbeit der imaginativen Rekonstruktion, der archivarischen Montage und Umstellung, des rekombinanten Narrativs, der spekulativen Geschichte und des personalen Erzählens« zentral sei für ihre Praxis als Autorin und Wissenschaftlerin. In dem dort abgedruckten, bahnbrechenden Essay »Venus in zwei Akten« erklärt sie genau, warum sie sich für diesen Weg entschieden hat.

Die vier Essays überschreiten virtuos die Grenze zwischen Geschichte und Imagination, um in verblüffender Intimität vom Innenleben Schwarzer Existenz im 18., 19. und frühen 20. Jahrhundert zu erzählen. Hartmans Aufmerksamkeit gilt dabei einem Handeln unter Umständen, die Handlungsfähigkeit selbst auslöschen wollen. In diesen von Yasemin Dinçer erstmals ins Deutsche übersetzten Texten denkt Hartman unablässig über die Möglichkeiten und Grenzen historiografischer Methoden, über Archiv, Theorie, Politik sowie das literarische Schreiben nach.

Matthes Seitz Berlin 2022, 150 Seiten. 14,- Euro. Hier bestellen.

In ihrer mit dem National Book Critics Circle Award in Criticism, dem PEN/John Kenneth Galbraith Award for Nonfiction und dem Judy Grahn Award for Lesbian Nonfiction ausgezeichneten Studie »Aufsässige Leben, schöne Experimente – Von rebellischen schwarzen Mädchen, schwierigen Frauen und radikalen Queers« zeigt Hartman nun, wie die fortgesetzte Verflechtung von Rassismus, Gewalt und Sexualität, Fürsorge und Ausbeutung in den amerikanischen Städten zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine bislang kaum beachtete Schwarze Freiheitsbewegung hervorgebracht hat. »Nach dem Sklavenschiff und der Plantage entfaltete sich die dritte Revolution des schwarzen Intimlebens in der Stadt. Hausflur, Schlafzimmer, Treppe, Dach, Luftschacht und Kitchenette-Zimmer boten Raum zum Experimentieren«, schreibt Hartman, nicht ohne die elenden Lebensverhältnisse in den Gettos vor Augen zu führen. »Es war unmöglich, durch die Straßen von Tenderloin, San Juan Hill oder Harlem zu gehen, ohne auf ungestüme Mädchen, Straßenkinder und Huren mit Babygesichtern zu treffen.«

Dies ist aber nur eine Seite der Medaille, so Hartman. Die andere besteht im Widerstand gegen die gesellschaftlichen Konventionen der sexuellen Schicklichkeit und weiblicher Anständigkeit. Wer wagte, in nichtehelichen Partnerschaften, flüchtigen Beziehungen, queeren Konstellationen oder als alleinerziehende Mutter zu leben, geriet ins Visier der Sittenwächter. Hartman sieht in diesen intimen Arrangements, die die sexuellen Konventionen und Gendergrenzen überschritten, zunächst aber ein pragmatisches Instrument, mit den Folgen von Rassismus und Gewalt umzugehen, die die traditionelle Schwarze Familie immer wieder auseinanderrissen.

In ihrer ebenso intimen wie breit angelegten Studie zeigt sie, wie sich aus dieser Praxis Schwarzen Überlebens heraus eine subversive Bewegung entwickelt hat, die im kreativen, lebensbejahenden und sexuell offenen Aufstand gegen die althergebrachten Normen der weiß und männlich dominierten Gesellschaft ihre eigene Kraft entwickelte. »Politische Aktivistinnen und schwarze Radikale kämpften gegen ein Wiederaufleben des Rassismus, der das ganze Land verschlang«, schreibt sie, um aufzuzeigen, wie Schwarze Menschen explizit verfolgt, gedemütigt und der Willkür der weißen Sittenpolizei ausgeliefert waren. Ihre Antwort auf die Verfolgung lag auf der Hand: »Schwarz und weiblich zu sein schien jede brutale Tat zu rechtfertigen. Was konnte man angesichts all dessen tun, außer sich den Kategorien zu verweigern?«

Saidiya Hartman: Aufsässige Leben, schöne Experimente. Von rebellischen schwarzen Mädchen, schwierigen Frauen und radikalen Queers. Wie junge schwarze Frauen vor hundert Jahren die Freiheit erfanden. Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Anne Jäger. Claassen Verlag 2022. 528 Seiten. 28,00 Euro. Hier bestellen.

Was in den Akten als unsittlich, promiskuitiv und krankhaft pathologisiert wurde, legt die Amerikanerin als anarchische Bewegung für ein besseres Leben abseits der Color Line frei. Die Revuetänzerinnen, Bulldaggers, Lady Lovers und Freudenmädchen, die ästhetischen Schwarzen, schwarze Lesben, Schwuchteln und Anarchistinnen waren die Racheengel der gedemütigten Schwarzen Community. Ihr Glanz im Rampenlicht der Varietés und Bühnen »war das Gegengift zu den Diaprojektionen von armen Leuten in verfallenen Häusern und den jämmerlichen Melodramen«, von denen man in den Zeitungen lesen konnte. Hartman blättert die intimen Schicksalsgeschichten von unbekannten Rebellinnen wie Mattie Nelson oder Katy Clayton auf und präsentiert die verblüffenden Lebenswege der queeren Prominenz der damaligen Zeit (Gladys Bentley, Jackie Mabley, Blanche Dunn oder Mabel Hampton). Vor allem aber führt sie sprachlich klug aus den Gefängnissen und Besserungsanstalten hinaus in die Hot Spots queerer Lebensfreude, in den Ubangi Club, den Garden of Joy und das Clam House, wo die funkigen Rhythmen von Shimmy, Turkey Trot, Ragtime-Drag, Funky Butt und Black Bottom die Menschen den Glauben schenkten, der eisernen Hand des Sozialrechts und dem Gefängnis der kalten, harten Fakten entkommen zu können.

Dem weißen Amerika war das selbstbewusste und spielerische Überschreiten der Gendergrenzen zu viel Aufbegehren. Bereits in den Dreißigerjahren schrieb ein Gesetz Bühnendarstellerinnen vor, eine Genehmigung für das Tragen von Männerkleidung bei ihren Auftritten zu beantragen. So gerieten queere Menschen ins Visier des Ausschusses für unamerikanische Umtriebe und Senator McCarthy, der bald schon für seine radikale Jagd auf alles Kommunistische in die Geschichtsbücher einziehen sollte. »Diejenigen, die es wagten, sich den Geschlechternormen und gesellschaftlichen Konventionen der sexuellen Schicklichkeit – Monogamie, Heterosexualität und Ehe – zu widersetzen, oder sich nicht an das Konzept von weiblicher Anständigkeit hielten, wurden als potenzielle Prostituierte, Herumtreiberinnen, Abartige und unbelehrbare Kinder verfolgt. Unsittlichkeit, Unordnung, Promiskuität, Umkehrung des Sexualtriebs und Pathologie waren die Begriffe, mit denen diese Praktiken der Intimität und Zugehörigkeit bekämpft und ausgerottet wurden.«

Die Sittenpolizei führte den Kampf gegen die Auflösung fester Grenzen im sexpositiven Umfeld des Gettos – Gender, Hautfarben, soziale Klassen – äußerst hinterhältig und brutal, wie Hartman an unzähligen Beispielen zeigt, bei denen sie die Schicksale von alleinstehenden Frauen, Geliebten und Heranwachsenden aufblättert und zeigt, wie diese Opfer von Willkür, Misogynie und Rassismus wurden. Dabei konnten sie sich nicht nur auf Gesetze stützen, die die Sklaverei in neuem Gewand wiederauferstehen ließen, sondern auch auf Soziologen und Stadtentwickler, die im Niedergang vieler Schwarzer Menschen eine self fulfilling prophecy sahen und die angebliche Notwendigkeit der gewaltsamen Intervention bestätigten, wie Hartman zeigt. Etwa wenn der Schwarze Soziologe aus gutem Hause W.E.B. Du Bois die pragmatische Lebensfreude der Schwarzen inmitten des Elends der Gettos als promiskuitiv verurteilte und schrieb: »Zweifellos sind die sexuellen Sitten der Bereich, in dem der schwarze Amerikaner am weitesten hinter der modernen Zivilisation zurückliegt.« Und: »Die erdrückende Last der Sklaverei war auf schwarze Frauen gefallen. Was für eine Art von Frauen könnte daraus in die heutige Welt hineingeboren werden? Ehebruch und Erniedrigung waren ihr Erbe und ihr jetziger Zustand. Was könnte von solchen Frauen Gutes kommen?«

Billie Holiday, die als vierzehnjährige wegen Aufenthalts in einem »sittenlosen Haus« verhaftet und zu mehreren Monaten in einer Besserungsanstalt verurteilt wurde, sollte diese »wirklich kaputten Zeiten« wie folgt beschreiben. »Frauen wie meine Mutter, die als Dienstmädchen arbeiteten und Büros sauber machten, wurden auf dem Heimweg aufgegriffen und der Prostitution beschuldigt. Konnten sie die Kaution zahlen, waren sie wieder frei. Wenn nicht, kamen sie vor Gericht, wo ihr Wort gegen das eines dreckigen, geschmierten Polizisten stand.« Eine Aussage, die zeigt, dass man mehr weibliche Stimmen hören und lesen sollte, um diese Zeit und ihre Umstände zu verstehen.

Hartmans mit Mitteln der literarischen Imagination arbeitende Lesart verbindet unzählige Lebenswege zu einer gemeinsamen Erzählung und rekonstruiert diese ins kriminelle Abseits gedrängte Geschichte Schwarzer Weiblichkeit. Sie verändert nachhaltig die Perspektive auf die Praktiken von Intimität und Zugehörigkeit und den Blick auf jene Menschen, deren einziges Verbrechen darin bestand, sich frei durch die Stadt zu bewegen und mit ihrem Begehren öffentlichen Raum in Anspruch zu nehmen.

Bücher Schwarzer Autor:innen

Zweifellos liest man die kürzlich wiederentdeckten Klassiker der Harlem Renaissance – Wallace Thurmans »The Blacker The Berry« (in der Übersetzung von Heddi Feilhauer bei ebersbach & simon erschienen), Nella Larsens »Seitenwechsel« (in der Übersetzung von Adelheid Dormagen bei Dörlemann erschienen), Zora Neale Hurstons »Barracoon. Die Geschichte des letzten amerikanischen Sklaven« (von Hans-Ulrich Möhring übersetzt im Penguin Verlag erschienen) oder Claude McKays Roman »Banana Bottom« (erscheint in der Übersetzung von Heddi Feilhauer bei ebersbach & simon) – aber auch später erschienene Bücher Schwarzer Autor:innen, in denen Frauenschicksale reflektiert werden – etwa die Romane von Ann Petry (in den Übersetzungen von Pieke Biermann und Uda Strätling bei Nagel & Kimche erschienen), Fran Ross (in der Übersetzung von Pieke Biermann bei dtv erschienen) und Gayl Jones (in der Übersetzung von Pieke Biermann bei Kanon erschienen) – sowie die essayistischen Texte von Audre Lorde, Maya Angelou, bell hooks oder James Baldwin vor dem Hintergrund der von Saidiya Hartman offengelegten Subkultur und ihrer strahlenden Wirkung in einem anderen Licht. Der existenzielle Kampf, von denen all diese Autor:innen schreiben, wird durch das in diesem Band vermittelte Wissen zum Teil eines lebensbejahenden Widerstands. »Durch die Straßen von Harlem zu streifen, sich etwas Besseres zu wünschen und sich von den eigenen Launen und Lüsten treiben zu lassen bedeutete, unbeherrschbar zu sein. Ihre Art zu leben war nichts weniger als Anarchie.«

Verwiesen sei an dieser Stelle auch auf Jonas Engelmanns Porträts über Künstlerinnen und Künstler im Schatten des Mainstreams. Das Buch versammelt Texte über Zora Neale Hurston, Nella Larsen und Sun Ra, aber auch über Aby Warburg, Jean Améry, Eva Hesse, Franz Jung, Witold Gombrowicz, Tove Jansson, Julie Doucet, Boris Lurie und viele andere – Künstler:innen, die nicht mitmachen wollten, nicht mitmachen durften oder die Zeit ihres Lebens als Sonderlinge galten.

Ventil Verlag 2021. 280 Seiten. 16,- Euro. Hier bestellen.

Sprachlich geht die Kulturhistorikerin dabei sensibel vor, ohne die hässliche Wirklichkeit des Rassismus zu negieren. Dass dies auch in der deutschen Übersetzung spürbar wird, ist dem Geschick und den klugen Entscheidungen von Anne Jäger zu verdanken. In ihrem Nachwort geht sie au einige Aspekte der Übersetzung ein, insbesondere auf den Umstand, dass sie sich dafür entschieden hat, es beim englischen Terminus negro als Selbstbezeichnung schwarzer Amerikaner:innen zu belassen und es eben nicht ins deutsche N-Wort, das die »Anderen« bezeichnet, übersetzt hat.

Ein besonderes Augenmerk verdient auch die Bebilderung des Buches, das zu den besten der Saison gehört. Hartman selbst erklärt, dass sie nach Fotografien gesucht habe, die beispielhaft die Schönheit abbildeten und einen Eindruck liefern, was in diesen leben möglich wäre, könnte man der Knechtschaft entkommen. »Ich suchte nach jenen Fotografien, die beispielhaft die Schönheit und Möglichkeit abbildeten, die im Leben durchschnittlicher schwarzer Mädchen und junger Frauen kultiviert wurden und die Träume davon schürten, was möglich wäre, könnte man der Knechtschaft entkommen. Dieses Archiv aus gefundenen und erdachten Bildern wäre das notwendige Gegengift für die ausgepeitschten Rücken, die glasigen, tränenerfüllten Augen, die entblößten und gebrandmarkten Körper, die zum weißen Vergnügen grotesk entstellten Körper.« Ganz ohne das Gift des Rassismus kommt dieses Buch aber nicht aus, weil diese Geschichte ohne die Kenntnis dieser Wirklichkeit anders nicht zu verstehen ist.

Eine kürzere Fassung dieses Beitrags erschien im Freitag 31/2022.

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