Jean-Jacques Sempé rührte mit seinen Zeichnungen und Texten die Herzen seiner Leser:innen an. In seinen Werken, im Schweizer Diogenes Verlag erschienen, erzählt der Meister des leichten Striches Geschichten von wahrer Liebe, echter Freundschaft und den Tragödien des Alltags. Man erfasst die Dinge erst, wenn man sie zeichnet, soll er einmal gesagt haben. Am 11. August ist Sempé gestorben.
Benjamin Kiesel ist ein ganz normaler Junge. Er ist weder besonders groß noch außergewöhnlich klein, ihn zieren weder eine extraordinär große Nase noch zwei passable Segelohren. Er ist weder ungewöhnlich schlau oder dumm und auch nicht auffallend verschlossen. Und auch von den normalen Krankheiten bleibt er verschont. Und dennoch ist er ein Einzelgänger, denn er leidet an einem seltsamen Syndrom: Er läuft rot an.
Das passiert ihm immer dann, wenn er es am allerwenigsten erwartet und es keinen Grund dafür gibt, während er kreidebleich bleibt, wenn er etwas ausgeheckt hat und andere vor Scham erröten würden. Diese außergewöhnliche Malaise hindert ihn, so fröhlich und unbeschwert zu leben, wie es andere Kinder tun. Ständig wird er auf seine Errötung angesprochen, so dass er sich auch permanent fragt, warum er rot wird und was er dagegen tun kann. Vergeblich.
Die mit dieser Anormalität einhergehende Tristesse hält solange an, bis in das Haus von Rudi Rettich einzieht. Rettich ist von einer ähnlich seltsamen Unpässlichkeit geschlagen, denn er niest ohne jeden Grund. Ob bei Auftritten mit seiner Violine, beim Versteckspiel oder im Schlaf – Rudi niest ohne Unterlass. Wie sollte es anders sein, als das die beiden von ihrem eigentlich kaum erwähnenswerten Schicksal geplagten Jungen eine Freundschaft gründen, wie sie reicher und intensiver nicht ausgestattet sein könnte und aller Unwegbarkeiten des Lebens zum Trotz bis ins Erwachsenenalter anhält.
In seiner Bildgeschichte »Benjamin Kiesel. Die Geschichte einer Freundschaft« philosophierte Jean-Jacques Sempé über die Intensität von Freundschaft und die absurde Anormalität des Alltags angesichts der kindlichen Normabweichung. Die Geschichte erschien bereits 1971 unter dem Titel »Carlino Caramell«. In der Neuauflage von 2008 hatte der Verlag den Titel auf Wunsch Sempés an das französische Original angepasst, in dem der errötende Dreikäsehoch Marcellin Caillou heißt.
Sempé war eine feste Größe in der internationalen Cartoon-Szene. Der 1932 in Bordeaux geborene Zeichner verstand es, amüsante Strips und Einzelbilder zu verfassen, und besaß die außergewöhnliche Gabe, in umfangreichen Geschichten einfühlsame und sensible Charaktere aufs Papier zu bringen. Und mit diesen Schicksalen die Herzen und Seelen seiner Leser:innen zu öffnen. Ob in den weltweit bekannten Abenteuern des kleinen Nick (in Zusammenarbeit mit dem Asterix-Texter René Goscinny), in der Süsskind’schen Erzählung des Herrn Sommer, in der Geschichte des Fahrradhändlers Paul Tamburin oder in dem Rätsel um die Veränderung des »Monsieur Lambert«. Ob in seinen Reflektionen über »Kindheiten«, »Freundschaften« oder Aus- und Ansichten für Buchliebhaber:innen.
Auswahl einiger Sempé-Titel
Die Texte sind dabei stets kurz und knapp gehalten, auf das Notwendigste reduziert. Der besondere Zauber der Werke des Franzosen steigt aus den Zeichnungen auf, die liebevoll und detailreich eine wohlbehütete Welt der Nostalgie und Melancholie entstehen lassen. Wohlbehütet heißt an dieser Stelle nicht frei von Schmerz und Traurigkeit. Allerdings sind die von einer Reinheit und Unschuld, dass es eine Freude macht, diese Empfindungen in Sempés Werken in all ihren Facetten und Abstufungen neu zu entdecken.
Es sind gerade die bildlichen Darstellungen, die Sempés Geschichten so anrührend machen. Er gelangte selbst erst zum wahren Verständnis, wenn er die Dinge ins Bild setzte: »Ich glaube, man erfasst die Dinge erst, wenn man sie zeichnet«, soll er einmal gesagt haben. Entstanden sind so »Bilder, in denen sich die reine Lebensfreude spiegelt, herrliche Gemälde des Schwelgens in Stille, Sinnenlust und Pracht. Die weite Leere der Provinz, der sommerliche Wahnsinn an der Côte d’Azur, das Dorffest irgendwo im Süden – all das ist bei Sempé nicht nur zu sehen, sondern beinahe zu erleben, so sehr gelingt es ihm, uns in seine Bilder hineinzuziehen«, so Patrick Süßkind, dessen »Geschichte von Herrn Sommer« Sempé schelmisch-gewitzt illustrierte.
Sempés Neigung zum Melancholischen (nicht Ironischen, das unterscheidet ihn von Loriot) im harten und oft rücksichtslosen Alltag beweist beispielsweise die Cartoonsammlung »Für Romantiker« – eine Auslese amüsanter und nachdenklicher Zeichnungen, die die Erfolge, Hoffnungen und verzweifelten Momente eines namenlosen Romantikers widerspiegeln. Es geht um die Erlösung von der inneren Einsamkeit, den Einklang mit sich selbst, um eine alles umspannende Zufriedenheit. Jede:r Romantiker:in wird sich in einigen Zeichnungen Sempés wieder erkennen und so manch angebliche:r Nicht-Romantiker:in wird feststellen, dass die eigenen Träume größer sind als bisher angenommen.
Sempés Helden des Alltags – tatsächlich sind es meist Helden, Frauen haben in diesem Universum keine herausgehobene Rolle, was zeigt, das Sempé auch ein Kind seiner Zeit war und blieb – haben es selten leicht, so dass ihnen die Sympathien der Lesenden geradewegs zufliegen. Sie haben meist mit dem Leben zu kämpfen und spiegeln damit den Alltag von mir und dir wider, bewahrt dabei allerdings den Blick auf die Komik des Daseins.
Jean Jacques Sempés Text-Bild-Erzählungen stellen literarisch-bildliche Grundnahrungsmittel dar, die den gewöhnlichen Menschen davor bewahren, an der Tragikomödie des Lebens zu verzweifeln. Die uns das Lächeln zurückgeben und harte Schalen sprengen, um den weichen Kern in uns allen freizulegen. Sempés Zeichnungen sind für ihre Zeit ein Genuss und eine Wohltat für die vom Alltag geplagte Seele.
Am 11. August 2022 ist der große Meister des leichten Strichs kurz vor seinem 90. Geburtstag gestorben, wie sein Verlag mitteilte. Zuletzt erschien im vergangenen Jahr der Sammelband »Hin und weg«. Anlässlich seines 90. Geburtstags war der Band »Endlich Ferien« mit Geschichten von Entdeckungstouren mit dem Rad, Aperitif zur blauen Stunde und Tanzvergnügen bei Mondschein geplant. Der erscheint nun knapp zwei Wochen nach seinem Tod.