Allgemein, Literatur, Sachbuch

Komplexe Aufzeichnungen

© Thomas Hummitzsch

Alice Walker ist eine der renommiertesten Schwarzen Autorinnen des 20. Jahrhunderts. Vor wenigen Tagen ist sie 80 Jahre alt geworden. In ihren Tagebüchern begegnet einem diese Lichtgestalt in all ihrer Ambivalenz.

»Gott, was für eine dicke Scheiße, durch die Schwarze Frauen durchmüssen. Es muss irgendwann einen Moment gegeben haben, da Schwarze Männer Schwarze Frauen verstanden. Aber dieser Moment ist nicht jetzt«, hält Alice Walker 1973 in ihrem Tagebuch fest. Zehn Jahre später wurde sie für einen Roman, der diese Scheiße auf den Punkt bringt, als erste Schwarze Schriftstellerin mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet. In ihrem ausgezeichneten Klassiker »Die Farbe Lila« berichtet ihre Ich-Erzählerin Celie in Briefen an Gott von ihren Erfahrungen als arme Schwarze Frau in den Südstaaten. Sie erzählt von Missbrauch, Inzest und patriarchaler Gewalt, aber auch von der erlösenden Kraft echter Liebe, die sie in den Armen von Shug Avery, der Geliebten ihres brutalen Mannes, findet.

»Die Farbe Lila« erhielt nicht nur innerhalb weniger Wochen den renommierten American Book Award und das prestigeträchtige Pulitzer-Prädikat, sondern wurde von Steven Spielberg – mit Whoopie Goldberg in der Hauptrolle der jungen Celie und Oprah Winfrey in der Nebenrolle der resoluten Sofia – verfilmt und als Musical auf die Bühne gebracht. Nach Jahren im Schatten der Aufmerksamkeit stand Walker plötzlich im Rampenlicht. Der Medienrummel war derart groß, dass sie ihren Anrufbeantworter für sich sprechen ließ: »Hallo, hier ist eine sehr müde Alice Walker. Wenn Sie anrufen, um mir zu gratulieren, danke. Wenn Sie wegen eines Interviews anrufen, ich bin leergeredet.«

Seither ist die Tochter zweier Baumwollpflücker aus Georgia eine der renommiertesten Schwarzen Autorinnen des 20. Jahrhunderts. Millionen Menschen haben durch sie von der Lebenswirklichkeit Schwarzer Frauen erfahren. Kurz vor ihrem 80. Geburtstag sorgt nicht nur Blitz Bazawules Musicalfilm für Aufsehen – Danielle Brooks ist als Beste Nebendarstellerin für einen Oscar nominiert –, es erscheinen nun auch Teile ihrer Tagebücher aus den Jahren 1965 bis 2000.

Herausgegeben und kuratiert wurde die Ausgabe von der 2022 verstorbenen Journalistin Valerie Boyd, die 2004 eine bahnbrechende Biografie über Zora Neal Hurston vorgelegt hat. Über Hurston haben auch Boyd und Walker zusammengefunden. Boyd hat aus den 65 Notizbüchern, die noch bis 2040 in der Emory Universität in Atalanta unter Verschluss liegen, einen voluminösen Band zusammengestellt, dessen von Cornelia Holfelder-von der Tann übersetzte Einträge verdeutlichen, wie elementar sich Walkers Leben und Schreiben mit den großen gesellschaftspolitischen Fragen des 20. Jahrhunderts überschnitten.

In den sechziger Jahren ließ sie eine illegale Abtreibung vornehmen, durchlebte Depressionen und Suizidgedanken, wie man ihren frühen Gedichten entnehmen kann. Als Bürgerrechtlerin war sie Teil der Schwarzen Emanzipationsbewegung, nahm aber auch nie ein Blatt vor den Mund, die Ungerechtigkeiten innerhalb der Black Community zu kritisieren, wie die Romane »Meridian«und »Die Farbe Lila« belegen. In den Achtzigern machte sie – u.a. mit ihrem Roman »Sie hüten das Geheimnis des Glücks« – auf den Missstand der Genitalbeschneidung aufmerksam und setzte sich für die Freiheit der Liebe und der Geschlechter ein, ohne dabei jemals den Blick auf das Schicksal Schwarzer Frauen zu verlieren. Dem Schwarzen Feminismus gab sie in ihrem Essay »Auf der Suche nach den Gärten unserer Mütter« eine Stimme und dem  Begriff »Womanismus« eine eigene Wurzel.

Alice Walker: Die Farbe Lila. Aus dem amerikanischen Englisch von Cornelia Holfelder-von der Tann. Ecco Verlag 2021. 320 Seiten. 20,- Euro. Hier bestellen.

Walkers Perspektiven entstanden meist vor dem Hintergrund ihrer eigenen Suche nach Freiheit und Geborgenheit, wie die intellektuell konsequenten, aber selten literarischen Aufzeichnungen in »Blüten sammeln unter Feuer« zeigen. »Ich bin eine afrikanische Frau; natürlich bestehe ich auf allen Freiheiten«, hält sie etwa im September 1987 fest. Da hatte sie schon zahlreiche Mauern durchbrochen, um ihren Durst nach Freiheit zu stillen.

Mit ihrem ersten Mann, dem jüdischen Juristen Melvyn Leventhal, zog sie in den Sechzigern nach Mississippi, wo gemischtrassige Ehen juristisch verboten waren. Ein Statement, dass sie ihr Privatleben nicht dem öffentlichen unterordnet. Später verließ sie ihre Familie, um mit dem verheirateten Aktivisten Robert Lee Allen eine offene Beziehung zu führen. In den Neunzigern lebt sie eine wilde Amour Fou mit der Sängerin Tracy Chapman, die Tagebücher geben hier einen Einblick in die gleichermaßen erlösende und dann zunehmend belastete Dynamik dieses Verhältnisses.

Bei der Lektüre wird deutlich, dass bei Alice Walker permanent die Rollen als Mutter und Partnerin mit dem Bedürfnis, Ruhe haben zu wollen, kollidierten. Ihr erster Mann, der jüdische Menschenrechtsanwalt Mel Leventhal, Tochter Rebecca, der lebenslange Gefährte Robert Lee Allen, die befreundete Frauenrechtlerin Gloria Steinem sowie ihre späten Partnerinnen, die Sängerin Tracy Chapman und die Naturheilerin Zelie Duvauchelle, erlebten dieses ambivalente Ringen mit Nähe und Distanz aus nächster Nähe.

In Sachen Liebe und Sexualität war Walker ihrer Zeit weit voraus. Ende 1977 notiert die später bisexuell lebende Autorin: »Das Problem am Sex ist, dass die Leute sich angewöhnt haben, zu denken, man müsse „ambivalent“ oder „hingabebereit“, „hetero“ oder „schwul-lesbisch“ sein. Entweder-oder. Aber die Natur ist da viel interessanter.« Die heutigen Identitätspolitischen Debatten unserer Tage würden an dieser felsenfesten Überzeugung zerschellen. Der sexuellen Offenheit steht eine latente Bindungsunfähigkeit gegenüber. Das hat auch ihre Tochter Rebecca erfahren, die später von einer belasteten Mutter-Tochter-Beziehung sprach. Das Bedürfnis, allein zu sein, sei mit ihrem inneren Kind verbunden, das »misshandelt und verlassen« in der Ecke einer »der vielen schrecklichen Bretterhütten« kauert, notiert sie nach einer intensiven Therapiephase im Sommer 1990.

Alice Walker, Valerie Boyd (Hrsg.): Blüten sammeln unter Feuer. Aus dem amerikanischen Englisch von Cornelia Holfelder-von der Tann. Ecco Verlag 2024. 736 Seiten. 32,- Euro. Hier bestellen.

Um dieser »Bretterbudenangst« zu entkommen, kaufte die erfolgreiche Autorin emsig Immobilien und machte sich finanziell unabhängig. In ihren Tagebüchern führte sie akribisch Buch, zwischen Träumen, Tagesnotizen oder Anekdoten finden sich Listen mit Einnahmen, Ausgaben und Investitionen. So dokumentierte sie ihren Aufstieg, der Stolz, Konflikte und Eigentümlichkeiten beförderte. Als sie 1983 Tantiemen in sechsstelliger Höhe erhielt, erhitzt sie sich im Tagebuch, dass sich ihre Schwester nicht für einen 22-Dollar-Scheck bedankt habe. Ihr Hang zur Selbstbezogenheit wird auch sichtbar, wenn sie öffentlich Kritik einstecken muss oder privat unter Druck gerät. Hier zeigt sich im Tagebuch, dass auch eine Lichtgestalt wie Walker Schattenseiten hat.

Sie selbst räumt im Tagebuch einen »Mechanismus des inneren Rückzugs« ein, der in allen Beziehungen seinen Tribut verlangte. Darum wissend, war sie auch immer bemüht, Vorsorge zu treffen. Als sie mit Robert Allen in den 80ern den Verlag Wild Trees Press gründete, setzt sie eine Art Vertrag auf, »damit ich mich nicht in der Falle fühle«. Gemeint war, in eine moralisch-ökonomische Pflicht dem Geliebten gegenüber zu geraten, sollten die Gefühle einmal weniger werden. Als es genauso kam, war der Vertrag durchaus hilfreich.

Zugleich fragt man sich beständig, was diese Zusammenstellung alles ausklammert. So erfährt man nahezu nichts über die Schwesternschaft, die Alice Walker mit Nana Maynard, Ntozake Shange, Louise Meriwether, Vertamae Smart-Grosvenor, Alice Walker, Audrey Edwards, June Jordan, Toni Morrison und Audrey Lorde verband. Auch von ihrer frühen und wegbereitenden Auseinandersetzung mit der Literatur von Zora Neale Hurston, James Baldwin oder Nella Larsen findet man nur Andeutungen. Begegnungen mit Zeitgenoss:innen wie bell hooks oder Salman Rushdie geraten zur Randnotiz. Ob hier Dinge ausgelassen wurden oder es einfach nicht mehr gibt, ist unklar.

Zugleich präsentieren die Auszüge Gossip auf hohem Niveau. Toni Morrison etwa ist Zeit ihres Lebens ein Maßstab für das eigene Schreiben. Zu Zeiten der New Yorker Sisterhood verkauft Morrison die Taschenbuchrechte für »Solomons Lied« für enorme 300.000 Dollar und in Walker machen sich ambivalente Gefühle breit. »Eifersucht? Neid? Ein bisschen wohl schon. Aber andererseits schreibt sie so wunderbar, auch wenn ich das Gefühl habe, dass ihre Charaktere nie auf irgendeinem Weg sind. Sie sind, so empfinde ich es, erschaffen worden, um legitimerweise zu existieren. Und das ist sicherlich Kunst, aber nicht Inspiration, Richtung, Streben.«

Mitte der Achtziger Jahre, also auf dem Höhepunkt ihres Erfolges, notiert sie nach einem gemeinsamen Essen mit Angela Davis und Toni Morrison: »Ich glaube, dass Toni wirklich eine starke dunkle Macht hat, dass es sie weniger beunruhigt, sich mit dem Bösen zu befassen, als mich.« Als Morrison 1993 als erste Schwarze Autorin den Literaturnobelpreis erhält, schreibt Walker in einem Kommentar, dass diese Ehrung wohlverdient sei. »Niemand schreibt schöner als Toni Morrison. Sie ist konsequent Themen von wahrer Komplexität, von Schrecken & Liebe im Leben von Afroamerikanern nachgegangen.«

Die Tagebücher scheinen vor allem für die Schwarze Community von immenser Bedeutung zu sein, auch weil sie einen Blick auf die wunden Punkte innerhalb der Gemeinschaft blicken lassen. »Es ist schmerzlich, von Schwarzen Frauen kritisiert zu werden – von denen du weißt, dass sie genauso frustriert und müde sein müssen wie du selbst«, schreibt Walker im Januar 1994. Die eigene Verletzlichkeit einzuräumen und zugleich auch eigene Fehler zuzugeben gibt der Ikone Alice Walker menschliche Züge. In Walkers Tagebüchern zu lesen »fühlt sich an wie ein Augenblick der Heilung«, schreibt deshalb auch Honorée Fanonne Jeffers, die zuletzt mit ihrer fulminanten American History »Die Liebeslieder von W.E.B. du Bois« auf sich aufmerksam machte. Für Tayari Jones sind die Tagebücher »eine Offenbarung, ein Wegweiser und ein Geschenk für uns alle«.

In den Neunzigern bekommen die Tagebücher esoterische Züge. Notizen wie »Die Vorfahren sind präsent & hilfreich. Die Erd- und Pflanzengeister winken einladend« oder »Das Leben, das Neue Leben, hat begonnen. Danke, Jesus. Danke, Buddha. Danke, Isis. Danke, Leben selbst« lassen womöglich den Weg in die Irrationalität erahnen, der Walker bis in die Arme antisemitischer Verschwörungstheoretiker wie David Icke geführt hat. Die Vorwürfe in den USA reichen von Israelfeindlichkeit bis hin zu Antisemitismus.

»Mein Gott, was wollen Schwarze Schriftstellerinnen? Wir wollen Freiheit. Die Freiheit, wir selbst zu sein. Das Unschreibbare zu schreiben. Das Undenkbare zu denken. Es zu wagen, die Welt in ein Gespräch zu verwickeln, das sie noch nie geführt hat«, hielt Walkers mit 36 Jahren in ihrem Tagebuch fest. Dieser Anspruch prägt auch ihre Aufzeichnungen, in denen sie – soweit man das sehen kann – ihr Innerstes mit den Härten der Welt schonungslos konfrontierte.

Passende Black Literature

Das Leben sei erstaunlich, hält Alice Walker zu Jahresbeginn 1986 fest, denn es bestehe immer darin, »einen geraden Schlag mit einem krummen Stock zu führen«. Über diese oft dann doch nicht so geraden Schläge und die Beschaffenheit der Stöcke, die ihr zur Verfügung standen, schreibt die Aktivistin und Literaturikone, die gerade 80 Jahre alt geworden ist, in ihren Tagebüchern.