Mit 86 Jahren erzählt Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison noch einmal brillant vom Rassismus in den USA. Größer, kraftvoller und poetischer als ihr Roman »Gott, hilf dem Kind« kann Literatur nicht sein.
»Es ist nur eine Farbe. Ein genetisches Merkmal – kein Makel, kein Fluch, kein Segen und auch keine Sünde«, sagt der junge Booker lakonisch zu seiner attraktiven Geliebten, bevor er sie überraschend verlässt. Denn dieses »nur die Farbe« ist für die junge Bride seit jeher mindestens ein Makel, wenn nicht sogar das Zeichen einer Ursünde. Denn als ihre hellhäutige Mutter Sweetness sie als tiefschwarzes Kind zur Welt bringt, verlässt ihr Vater umgehend die Familie, weil er sich nicht vorstellen kann, dass dieses Kind Frucht seiner Lenden ist. Lula Ann – so wird Bride in den ersten Lebensjahren heißen, bevor sie sich selbst einen neuen Namen gibt, um die Vergangenheit hinter sich zu lassen – wächst bei ihrer einsamen Mutter auf, die sie mit harter Hand zu Gehorsamkeit und Stillschweigen erzieht. Gewalt, Missbrauch, Demütigungen, Verwahrlosung und Selbstzweifel prägen ihre Erinnerungen – und natürlich bringt sie all das mit ihrer blauschwarzen Hautfarbe in Verbindung.
Fürsorge, Zuneigung oder gar Liebe lernt Lula Ann an der Seite von Sweetness nicht kennen. Stattdessen lernt sie wegzuschauen, wenn andere Leid erfahren, und sich abzuwenden, wo Zivilcourage gefragt ist. Erst als sie in einem Missbrauchsprozess gegen eine Erzieherin aussagt, kann sie ihrem Schicksal scheinbar entkommen, und selbst von der hartherzigen Mutter erntet sie erstmals Anerkennung und Stolz. Doch der Preis für diesen Happen Achtung ist hoch. Lula Ann macht sich schuldig und wird diesen Schatten auch als in blendendes Weiß gekleidete Bride, die als Verantwortliche für eine Kosmetiklinie Karriere macht, nicht überdecken können. Die Schuld nagt in ihr, auch als sie in Booker einen zärtlich liebenden Mann an ihrer Seite hat, der in ihr mehr sieht als die strahlend schöne Karrierefrau.
Als die junge Frau erfährt, dass die Frau, die sie ins Gefängnis gebracht hat, entlassen wird, sucht sie sie auf, um sich von ihrer Schuld freizukaufen. Der Versuch endet im Desaster, denn statt Vergeben und Dankbarkeit erntet sie Wut und Prügel. Es ist ein Ereignis, dass sie aus ihrem sicheren Leben und von Bookers Seite schleudert. Es beginnt eine traumwandlerische Odyssee, die Bride näher zu sich führt, während sie erst in der amerikanischen Pampa Hilfe erfährt und schließlich Booker in einer hippiesken Wohnwagenkolonie wiederfindet, wo er am Kern seines eigenen Traumas nagt.
Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison erzählt in ihrem Roman davon, wie Rassismus und frühkindliche Traumata den Weg in ein selbstbestimmtes Leben versperren, zumal wenn man nicht über sie redet. Sie setzt mit diesem Roman ihren Zyklus fort, in dem sie die Situation der schwarzen Amerikaner in den USA in einer jeweils anderen Zeit beleuchtet. Zuletzt erzählte sie in Heimkehr von Frank »Smart« Money, einem farbigen US-Soldaten, der aus dem Koreakrieg in die von Rassismus zerfressenen Vereinigten Staaten der fünfziger Jahre heimkehrt. In Jazz ging es um die Blütezeit der Black Music in Harlem in den Zwanzigern und der musikalischen Verarbeitung der Erfahrung der Sklaverei und Unterdrückung, in Paradise um die spirituellen Einflüsse auf das afroamerikanische Leben in den USA der siebziger Jahre. Gott, hilf dem Kind ist zeitlich nicht eindeutig zu verorten, er könnte ebenso in den späten Achtzigern als auch Ende der Neunziger oder in der Prä-Obama-Ära angelegt sein.
Die neue und möglicherweise letzte Erzählung der inzwischen 86-jährigen Morrison ist ein kraftvoller Roadtrip durch ein vom Rassismus geprägtes Amerika, in dem kleine schwarze Jungen noch mal eben verschwinden können, ohne dass es Aufsehen erregen würde. In dem farbige Menschen zwar Karriere machen können, aber nur, wenn sie ihre Blackness zu einem Statement der Hipster-Großstadtkultur machen. Die Architektur des Romans ist raffiniert. Die verschiedenen Figuren erzählen jeweils ihre eigene Geschichte mit Bride, so dass man sich dieser verletzten jungen Frau von verschiedenen Seiten her annähert. So beginnt die Kontur dieser Frau, die von den meisten Menschen immer nach ihrem Äußeren bewertet und beurteilt wird, zu verschwimmen und das Sichtbare wird nebensächlich. Zugleich hat Morrisons Sprache in der Übersetzung von Thomas Piltz nichts an Kraft und Poesie verloren. Jedes Wort ist hier wohlgesetzt, kaum ein Bild, das nicht auf den Punkt geschrieben und von einmaliger Brillanz ist. Selbst die Namen der Protagonisten – Sweetness, Bride, Brooklyn, Booker und Queen Olive – könnten kaum besser gewählt sein. Aber das entdeckt man besser selbst bei der Lektüre.
Einzig der Titel des Romans ist ein mehrfacher Unfall, der den Konjunktiv des Originaltitels – den die Autorin selbst schon nicht favorisiert hat – in den Imperativ hebt, wenngleich Gott in diesem Roman im Grunde abwesend ist. Thea Dorn hat dies im Literarischen Quartett im Mai hinlänglich ausgeführt, es sei an dieser Stelle daher auf die Sendung verwiesen.
In der blauschwarzen Hautfarbe ihrer Protagonistin, einer »mitternächtlichen Galatea«, trifft Morrison zudem einen Trend in der Interpretation des Schwarzseins, den Barry Jenkins gerade in seinem mit dem Oscar für den besten Film ausgezeichneten Drama Moonlight angewandt hat. Da schwimmt der kleine Chiron im blauschwarzen Mondlicht im Ozean, als ihm Juan, der zu einer Art Ersatzvater wird, erklärt, dass er als Schwarzer ein Teil der Welt ist und sich irgendwann entscheiden muss, das auch anzunehmen. Bride hat Schwierigkeiten, ihre Hautfarbe anzunehmen, selbst dann, wenn ihr Gutes widerfährt. Als sie einen Unfall hat, hilft ihr ein selbstloses Pärchen nicht nur aus dem Wagen, sondern auch über die nächsten Wochen. Bride selbst kann es nicht verstehen, warum sie ihr helfen, »ohne auch nur ein beiläufiges Interesse daran zu zeigen, wer sie war und was sie vorhatte.«
Auf ihrer Reise zu sich selbst wird Bride wieder zu der verletzlichen schwarzen Lula Ann, die sie einst war. Und das im wahrsten Sinne des Wortes. Von einem Tag auf den anderen verschwinden Achsel- und Schambehaarung, ihre Brüste entwickeln sich zurück und ihre Periode bleibt aus. Erst wenn sie ihr Trauma überwindet, kann sie wieder als Frau zurückkehren. Dieses Erzählen irgendwo zwischen Spiritismus und magischem Realismus ergießt sich in einen Text, von dem ein unbändiger Sog ausgeht. Ein Text, der nur wenige Zeilen braucht, um den Leser aus dem sternenerleuchteten Himmel in den Schlamm hinabzuführen, in dem all die gescheiterten Charaktere zu versinken drohen. Und ein Text, in dem so manche Quintessenz der großen afroamerikanischen Autorin nach einem Leben des literarischen Verarbeitens von Rassismus und Gewalt steckt. »Jeder Versuch, den Hass der Rassisten zu verstehen, gibt ihnen nur neue Nahrung«, heißt es am Ende des Romans. Klüger und zeitgemäßer kann Literatur kaum sein.
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