Die bald 80-jährige Schriftstellerin Joy Williams ist eine Grande Dame der amerikanischen Literatur. Jetzt erst wird sie in Deutschland so richtig entdeckt. Ein Band mit dreizehn dunkel schimmernden Erzählungen liegt bereits vor, ihr hochgelobter Debütroman erscheint im Frühjahr.
Je näher man an die Dinge herangeht, desto seltsamer erscheinen sie einem. Will man sich dem Alltäglichen widmen, braucht es diesen kurzen Moment der Verunsicherung, der Irritation. Diese flüchtige Erschütterung macht den Blick frei für das Groteske und Absurde der menschlichen Existenz. Kriege, Krisen und Konflikte haben bei vielen zum Rückzug in die eigene Bubble geführt, das Unspektakuläre und Profane ist wieder von Interesse.
Ausgewählte Short Stories und Erzählbände des Jahres
Das Kleinklein des Daseins kennt in der Literatur keine bessere Form als die Short Story, die hierzulande lange Zeit keinen Markt hatte. Das scheint sich zu ändern, denn allein in diesem Jahr sind einige lesenswerte Erzählbände, unter anderem von Georg Klein, Sergej Lebedew, László Krasznahorkai, Colin Barret, Saba Sams oder James McBride, erschienen. Aus dem Stapel heraus ragen aber die sensationell abgründigen »Stories« der US-amerikanischen Großmeisterin der Kurzgeschichte Joy Williams. Sie handeln von Menschen, »die praktisch gegen das Leben selbst allergisch sind«, wie es in der Erzählung »Die Mutterzelle« heißt. In deren Mittelpunkt stehen Mütter, deren Kinder wegen Mordes im Knast sitzen. Die Miniaturen, in denen Williams deren Hadern mit dem Schicksal umkreist und die Abgründe in ihren gebrochenen, aber immer noch liebenden Herzen vermisst, sind unvergesslich.
Williams ist eine Grand Dame der amerikanischen Literatur, Raymond Carver und Richard Yates gehörten an der Universität in Iowa zu ihren Kommilitonen. In Deutschland hat man sie nie richtig entdeckt, zwei schmale Bände mit Erzählungen sind vor gut dreißig Jahren erschienen. Erst mit der 2015 in den USA erschienen und nun in der hervorragend nüchternen Übersetzung von Brigitte Jakobeit und Melanie Walz erschienen Auswahl aus ihren vier Erzählbänden findet sie hierzulande ein Publikum.
Dabei findet sie mir ihrer Literatur in den USA nur höchste Anerkennung. Schon ihr Debütroman »State of Grace« war 1974 für den National Book Award nominiert, ihr zweiter Roman »The Quick and the Dead« stand 2001 auf der Shortlist für den Pulitzer Prize, ihre Essay-Sammlung »llI Nature: Rants and Reflections on Humanity and Other Animals« konkurrierte im selben Jahr um die National Book Critics Circle Awards. 2008 wurde sie zum Mitglied der American Academy of Arts and Letters gewählt, 2021 erhielt sie den renommierten Literaturpreis der Library of Congress. Da steht sie nun in einer beeindruckenden Reihe neben Autor:innen wie Toni Morrison, Philip Roth, E.L. Doctorow, Louise Erdrich, Marilynne Robinson, Denis Johnson, Richard Ford oder Colson Whitehead.
In dem Jahr erschien nach über zwanzig Jahren auch erstmals ein neuer Roman von der Amerikanerin. »Harrow« erzählt die Geschichte einiger in die Jahre gekommener Revolutionäre, die nach einer Katastrophe gegen den Untergang der Welt kämpfen. Der britische Guardian feierte das Buch als Version einer »Apokalypse, wie von einem Komitee unter Leitung von Dalí, Kafka und Yorgos Lanthimos ausgedacht«.
Aber zurück zu ihren mysteriösen und nebelverhangenen Stories, die in lakonisch-nüchterner Distanz und schlichtem Ton die existenziellen Abgründe der handelnden Figuren ausleuchten. Da ist etwa der »vom Glauben ausgemergelte« Prediger Jones, der sich um seine todkranke Frau und seine gerade geborene Enkelin kümmert, während seine Tochter sich selbst sucht. Weihnachten naht und er will seine Frau aus dem Krankenhaus nach Hause holen. Aus der Verpflichtung erwächst eine Zärtlichkeit und Liebe, die Berge versetzt. Williams setzt in dieser schlichten Erzählung Leben und Tod auf parallele Gleise, die zwar beide in eine Richtung, aber in ein unterschiedliches Morgen führen.
Dieses Spiel mit den Ebenen, das leichte Verschieben von Bedeutung, Sinn und Existenz, machen diese ebenso melancholischen wie furchtlosen »Stories« zu einer augenöffnenden Lektüre. In den profanen Alltäglichkeiten ihrer Figuren wird greifbar, wie unmittelbar die menschliche Existenz einer ständigen, wenngleich vagen Bedrohung ausgeliefert ist. Die Figuren in ihren Erzählungen stolpern durchs Leben, hinter jeder Ecke lauert die Ungewissheit. Mal ergeben sie sich ihrem Schicksal, mal kämpfen, strampeln und rudern sie, weil es kein richtiges Leben im falschen gibt. Niemand kann diese beklemmende Normalität so meisterhaft unprätentiös und dennoch strahlend in Worte fassen wie Joy Williams.
Zu ihrem 80. Geburtstag erscheint im Februar 2024 erstmals eine deutsche Übersetzung ihres Debütromans, die Berliner Autorin Julia Wolf hat ihn ins Deutsche übertragen. »In der Gnade« erzählt die Geschichte von Kate, die von zuhause abhaut und an der Golfküste neu anfängt. Sie genießt die Freiheit, studiert, zieht mit ihrem Freund Corinthian, einem jungen schwarzen Zoowärter, durch die Straßen, und lernt ihren Mann Grady kennen. Als das Paar ihr erstes Kind erwartet, ziehen sie sich in einen Wohnanhänger im Wald zurück. Die Idylle ist trügerisch, denn mit der Stille und Abgeschiedenheit drängen die dunklen Kräfte der Vergangenheit an die Oberfläche, die Kate zwingen, vor dem Verdrängten nicht länger davonzulaufen. Ein Roman wie ein Faustschlag, den Autoren verschiedener Generationen – von Truman Capote über Don DeLillo bis hin zu Jonathan Franzen – hymnisch gefeiert haben.
Das Joys Literatur nichts von ihrer Kraft verloren hat, beweisen auch die dreizehn funkelnden Erzählungen, die der »Stories«-Band versammelt. Viel mehr noch, sie sind von solcher Zeitlosigkeit, dass sie aktueller denn je scheinen. »Wir sind die letzte Generation«, heißt es beispielsweise in einer Story, in der zwei Teenager unter den düsteren Vorzeichen einer Weltuntergangssekte zusammenfinden. »Wir sollten nichts wissen und nichts wollen und nichts sein, aber gleichzeitig sollten wir alles wollen und alles wissen und alles sein.« Besser kann man weder die grundsätzliche Tragödie des Lebens, noch unsere Gegenwart in Worte bringen.
[…] der dreizehn dunkel schimmernden Erzählungen zurückzuführen, mit denen man die Amerikanerin im vergangenen Jahr hierzulande entdecken konnte. Dabei handelt es sich um eine Auswahl aus ihren zum Teil preisgekrönten Kurzgeschichten-Bänden, […]
[…] der dreizehn dunkel schimmernden Erzählungen zurückzuführen, mit denen man die Amerikanerin im vergangenen Jahr hierzulande entdecken konnte. Dabei handelt es sich um eine Auswahl aus ihren zum Teil preisgekrönten Kurzgeschichten-Bänden, […]