Mit Luis Buñuel und Ryszard Kapuściński stehen zwei Ikonen des 20. Jahrhunderts im Mittelpunkt zweier Animationsfilme, die sich nicht nur auf die Zeichnungen verlassen.
Wozu ist Kunst da? Muss sie die Wirklichkeit abbilden oder mit der Realität brechen? Fragen wie diese diskutieren die Surrealisten um André Breton, Meret Oppenheim und Luis Buñuel zu Beginn des mehrfach ausgezeichneten Animationsfilms »Buñuel im Labyrinth der Schildkröten« von Salvador Simó in einem Pariser Café. Da ist der spanisch-mexikanische Filmemacher, um den es hier geht, gerade mit seinem Film »Ein andalusischer Hund« in aller Munde.
Nur wenige Monate später dreht sich das Blatt, nicht nur, weil sich Buñuel mit seinem Freund Salvador Dali überworfen hatte, sondern weil sein religionskritischer Film »Das goldene Zeitalter« in ganz Europa – insbesondere in den katholisch geprägten Mittelmeerstaaten – für Tumulte sorgte. In dieser Zeit bekommt er ein Manuskript in die Hände, in dem die Lebensverhältnisse in der bitterarmen Bergregion Las Hurdes beschrieben werden. Buñuel beschließt, seinen nächsten Film den vergessenen Menschen in dieser Region zu widmen. Das Geld wird ihm sein spanischer Freund Ramón Acín zur Verfügung stellen, nachdem er in der spanischen Weihnachtslotterie gewinnt.
Salvador Simós Animationsfilm »Buñuel Im Labyrinth der Schildkröten« erinnert bildhaft an so manchen Großmeister des Genres.
www.intellectures.de
Der spanische Filmemacher Salvador Simó erzählt in seinem Film die verrückte Geschichte der Dreharbeiten zu Buñuels Dokumentarfilm »Las Hurdes – Land ohne Brot«. Er beschränkt sich dabei auf die Geschichte der Reisegesellschaft um Buñuel, seinen Geldgeber Ramón Acín, Drehbuchautor Eli Lotar und Kameramann Pierre Unik. Gemeinsam reisen die vier Männer durch die Berge, um einmalige Bilder von Natur und Menschen einzufangen. Abseits dieser Erzählung geht Simó in fantastischen Traumsequenzen der großen Sehnsucht des surrealistischen Filmemachers nach Anerkennung und Achtung durch seinen Vater auf den Grund und erinnert dabei an so manchen Großmeister des Genres.
Simós Film ist explizit dem Produzenten und Anarchisten Ramón Acín gewidmet, der 1936 von den Schergen des faschistischen spanischen Diktators Franco ermordet wurde. Sein Name wurde aus dem Original-Filmmaterial entfernt und erst 1960 wieder restauriert. »Buñuel im Labyrinth der Schildkröten« setzt ihm ein würdiges Denkmal, weil er die Geschichte hinter den ikonischen Filmaufnahmen erzählt, indem er die Originalaufnahmen Buñuels mit animierten Bildern verschränkt.
Diese den dokumentarischen Charakter unterstützende Technik findet immer mehr Anhänger, zuletzt wurde sie auch von Damian Nenow und Raul de la Fuente in ihrer sehenswerten Animationsdoku »Another Day of Life« über den polnischen Jahrhundertreporter Ryszard Kapuściński genutzt. Kapuściński, dessen Reportagen bis heute maßgebend für das Genre des erzählenden und am Schicksal der Menschen interessierten Journalismus sind, war Zeitzeuge und Zeuge des Zusammenbruchs des Kolonialismus in Afrika, berichtete aus Kriegen in Südamerika und aus der iranischen Revolution.
Nenow und de la Fuente konzentrieren sich auf den Aufenthalt des Polen 1975 in Angola, wo er als 43-jähriger Journalist den Übergang aus dem portugiesischen Kolonialismus in die Unabhängigkeit dokumentiert. Sein gleichnamiges Buch »Wieder ein Tag Leben« dient als Vorlage für diesen 90-minütigen Ritt durch die Apokalypse. Denn neben der ohnehin schon schwierigen politischen Konstellation spielten damals noch die wirtschaftlichen Interessen der beiden Großmächte im Kalten Krieg eine wichtige Rolle. Sowohl die USA (unterstützt von Südafrika) als auch die Sowjetunion (mit Kuba an seiner Seite) wollten die wertvollen Bodenschätze in dem afrikanischen Staat unter ihre Kontrolle bringen. Die einen rüsteten die Rebellen der Unita mit Waffen und Munition aus, die anderen die MPLA. Die kämpften erbittert im Süden des Landes gegeneinander, während die letzten Portugiesen panisch die Hauptstadt Luanda verlassen, bevor der Krieg in ihr ankommt und das Chaos oder – wie sie es nennen – die Confusão ausbricht.
Damian Nenow und Raul de la Fuente gehen in »Another Day of Life« mit Verfremdungseffekten den Erinnerungen und der Psyche des polnischen Jahrhundertreporters Ryszard Kapuściński auf den Grund.
www.intellectures.de
Den Reporter aber kann keine Bedrohung vertreiben. Ganz im Gegenteil, er will in den Süden, aus dem Kriegsgebiet berichten. Er wird einer der ganz wenigen sein, der dieses Himmelfahrtskommando auf sich nimmt. Der Film zeichnet seine Reise nach, den gefährlichen Weg über gesperrte Straßen, die Bedrohung durch einige Milizen und die Hilfe, die Kapuściński von anderen erhält. Dabei nutzen der Spanier de la Fuente und der Pole Nenow die Mittel des Genres, um einerseits mit dokumentarischem Material Glaubhaftigkeit und Athentizität zu erzeugen, und andererseits, um mit Verfremdungseffekten den Erinnerungen und der Psyche des polnischen Jahrhundertreporters auf den Grund zu gehen. Ein kluger Weg, der literarischen Vorlage gerecht zu werden und zugleich historische Glaubhaftigkeit zu schaffen.
Ob absichtlich oder nicht macht der Film auch deutlich, dass Kapuściński nicht ohne inneres politisches Gerüst unterwegs war. Er verstand sich als Fürsprecher der einfachen Menschen und als Kämpfer für eine gerechte Welt.
Dass ihn das seine journalistische Neutralität kostet, wurde immer wieder kritisiert. Wenn man aber bedenkt, dass es dem Polen, wie es Adam Domoslawski in seiner kritischen Biografie schreibt, nie nur um die Abbildung der Wirklichkeit ging, sondern um ein Vordringen zu einer tieferen Wahrheit, dann erklärt sich vielleicht, warum seine Texte so deutlich Position beziehen.
Ikonen dürfen nicht angetastet werden, heißt es oft. Diese ungeschrieben »Regel« halten beide Animationsfilme ein. Das kann man kritisieren. Würden sie allerdings die Arbeit des Publikums machen, gäbe das auch Anlass zur Kritik. Insofern nutzen beide Filme die Freiheit der Animation, um Geschichten zu erzählen, die von dokumentarischem Material gestützt werden. Comicleser:innen wird das aus dem Werk von Emmanuel Guibert bekannt sein.
Die Tiefe der Wahrheit dieser Filme, die beide als DVD erhältlich sind, ergibt sich in der Verbindung beider und ihrer Wirkung. Die wird von Zuschauer:in zu Zuschauer:in unterschiedlich sein, aber genau das macht sie so sehenswert.
[…] Guardian feierte das Buch als Version einer »Apokalypse, wie von einem Komitee unter Leitung von Dalí, Kafka und Yorgos Lanthimos […]
[…] Guardian feierte das Buch als Version einer »Apokalypse, wie von einem Komitee unter Leitung von Dalí, Kafka und Yorgos Lanthimos […]